Todde | Die toten Fischer von Cagliari | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: Piper Spannungsvoll

Todde Die toten Fischer von Cagliari

Kriminalroman
14001. Auflage 2014
ISBN: 978-3-492-98061-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Kriminalroman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: Piper Spannungsvoll

ISBN: 978-3-492-98061-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Beinahe hätte er ihn verschluckt: Im Bauch eines gebratenen Fisches findet der arme Tatàno einen wertvollen goldenen Ring. Doch hätte er sein Glück lieber für sich behalten, denn nur Stunden später treibt sein lebloser Körper aufgeschlitzt im Meer - ein grausamer Tod, der nicht nur dem jungen Efisio Marini keine Ruhe lässt. Eine blutige Schatzsuche nimmt ihren Lauf und lockt das abgrundtief Böse in das pittoreske Sardinien des 19. Jahrhunderts.

Giorgio Todde, geboren 1951, gestorben am 29. Juli 2020, lebte und arbeitete als Augenarzt in Cagliari, Sardinien. In seinen Kriminalromanen um die historisch wahre Figur des Arztes und Einbalsamierers Efisio Marini ließ er das Sardinien des neunzehnten Jahrhunderts Jahrhunderts mit beeindruckender Lebendigkeit neu erstehen. In Italien wurde Giorgio Todde mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet. Nach »Der Tod der Donna Milena« und »Das Geheimnis der Nonna Michela« erschien auch »Die toten Fischer von Cagliari« auf Deutsch.
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2

Es ist zu warm in diesem Mai, viel zu warm.

Efisio Marini, achtzehn Jahre alt, leichter Knochenbau, mit einer Haartolle störrisch wie Draht, die ihm ständig in die Stirne fällt, springt über die weißen Kiesel des felsigen Kaps, das die blaue Bucht in zwei gleich große Hälften teilt. Ein junger Mensch weiß nicht, daß er jung ist, sagt sein Erzieher immer.

»So viel Licht!«

Heute wirft die Sonne keine Schatten. Efisio hat sein Boot festgemacht und klettert zu dem weißen Turm hoch oben über der Küste hinauf. Er spürt den lang ersehnten Wind, der den Geist dieses Ortes ausmacht. Die riesigen Agavenpflanzen bilden einen finsteren Wald auf dem Berggipfel.

Noch hält er die Welten, in denen er sich wiederfindet, für einzigartig, und er erzählt seinem Piaristen davon. Doch die Phantasie spielt ihm hier einen Streich. Der Mönch erklärt ihm immer wieder, daß nicht jeder Ort eine eigene Seele habe, doch für Efisio ist das so und nicht anders.

Er sieht den langen Streifen Strand. Jedesmal, wenn er ihn von so weit oben betrachtet, denkt Efisio ans Fliegen. Dünen wie in der Wüste und immergrüner Schilf trennen das Meer von dem tropischen Salzsee, wo die Vögel leben und die Verdammten aus den Salinen.

Die Zwangsarbeiter leiten das Meerwasser um, schwitzend stehen sie an dem Rad, wo das Salz gewonnen wird. Von weitem sieht man es aufgehäuft zu Gletschern, deren strahlendes Weiß in den Augen blendet.

»So viel Licht!« Er schließt die Lider.

Efisio hat begriffen, daß an dieser heiligen Stätte die Natur alles von alleine macht; sie bestimmt die Form der Steine, die Farben, ja sogar die Form der Bäume, denen der Wind allen die gleiche Gestalt verliehen hat, ob Pinien oder Eukalyptus. Es ist ein in sich geschlossener Ort, und doch spürt und erkennt er hier eine immerwährende Veränderung.

So viel Licht! In der Nacht sorgt der Mond dafür.

Schade, daß Carmina nicht da ist! Seine Carmina ist ein Mädchen aus dem Kolleg. Sie kann nicht da sein, es ist nicht erlaubt. Er trifft sie heimlich, an den alten Mauern, bei Sonnenuntergang … Jedesmal ein Wagnis, ein Risiko … Was soll er nur im Oktober machen? Der Vater will ihn nach Pisa schicken, zum Medizinstudium. Er sagt, Cagliari ist arm und vertrocknet, eine Festung über den Sümpfen, ein Ort, an dem Ratten und Mücken das Sagen haben, weggehen muß man von hier, wir haben das Jahr 1854, doch hier ist nicht dasselbe Jahr wie anderswo, denn hier, so sagt er, ist immer das Jahr von vor langer, langer Zeit.

Im Schatten des weißen Turmes nimmt Efisio einen Schluck aus seiner Trinkflasche und beginnt die Fossilien zu sortieren, die er gefunden hat; dann verstaut er sie in einzelnen Säckchen. Er notiert sich alles in einem kleinen Heft, denn er möchte einen Katalog anlegen. Zu heiß, zu heiß … Er gähnt, reibt sich die Augen und macht sich bereit für ein Nickerchen, wie hypnotisiert von einem unbeweglich in der Luft stehenden Falken, der am Himmel festgenagelt scheint.

Während er sich nach einem weichen Eckchen zum Schlafen umschaut, sieht er tief unten zwischen den Klippen plötzlich einen formlosen Gegenstand im Wasser treiben; behutsam drängen die Wellen ihn immer wieder gegen die Steine.

Erst glaubt er, es wäre ein riesiger Fisch, dann ein ertrunkenes Schwein, doch da schießt ihm ein Gedanke durch den Kopf – gewaltig und massiv wie ein Felsbrocken – und beginnt ihn zu beunruhigen.

Er klettert den Hang hinunter, schürft sich Hände und Knie auf, löst das Boot aus seiner Vertäuung und rudert zu der im Meer trudelnden Masse. Als er auf zehn Meter herangekommen ist, fühlt er, wie ihm das Herz durch den offenen Mund entschwindet, wie es brennt und sticht.

Es ist ein Mensch, diese schlaffe Masse ist ein Mensch. Ein nackter Mann, mit dem Gesicht nach unten, weiß und grau, über und über bedeckt mit Flohkrebsen und umschwärmt von zufriedenen Fischen.

Es ist der erste Tote, den er sieht.

Der erste Tote. Der Tod und der Jüngling; seine Vorstellungen vom Tod sind die eines Kindes, beinahe jedenfalls. Jetzt hat er ihn vor Augen, den Unterschied zwischen einem Lebenden und einem Toten. Und dieser Unterschied ist so groß, daß er ihn überwältigt.

Immer wenn ein Verwandter gestorben war, hatten die Eltern verhindert, daß er ihn zu Gesicht bekam, und so ist in seiner Vorstellung der Tod – in seiner Familie gibt es so etwas nicht; sie nennen es ewige Ruhe, Hinscheiden, letzter Schlaf, seliges Ende, Heimgang, aber nie Tod – etwas Vages, Blasses, wie ein fließender Übergang und nicht eine radikale und tatsächliche Veränderung. Er hat nie darüber nachgedacht – auch jetzt nicht –, daß jemand aus seiner Familie plötzlich aufhören könnte zu existieren. Oder vielleicht hat er doch darüber nachgedacht, das würde zumindest jenes seltsame Gefühl von Leere erklären, das ihn gelegentlich überfallen hat … Auch gestern, als er im Schatten der Pinien lag und dem leisen Schnalzen der Insekten in dem Nadelkissen unter seinem Kopf lauschte, war es ihm mit einem Mal so vorgekommen, als ginge von den Dingen etwas aus, was er nicht zu begreifen vermochte und was seinen Geist vernebelte … Er war sofort aufgesprungen, hatte die sicherste Haltung eingenommen, mit dem Kopf so weit wie möglich vom Boden entfernt.

Er ist auch nicht an Nacktheit gewöhnt, sie erscheint ihm anstößig, er schämt sich, und der tote Körper wirkt einmal mehr wie geschändet auf ihn.

Und doch kann er den Blick nicht abwenden.

Die Hände sind angefressen, ohne Fleisch; es durchfährt ihn wie ein Blitz, und der Schwindel verpaßt ihm eine Ohrfeige.

Er wird ohnmächtig und fällt mit dem Gesicht zuerst ins Wasser.

Das Meer weckt ihn wieder auf, er öffnet die Augen, klettert zurück ins Boot, und mit der Kraft des zu Tode Erschrockenen rudert er ans Ufer.

Erschöpft läßt er sich auf den heißen Sand fallen.

Nie zuvor hat er so empfunden. Er weiß nicht, was ihm widerfährt, doch er ist sicher – alle seine Sinne sagen es ihm –, daß er unter einem Schmerz leidet, der mehr als materiell ist, außerhalb des Kataloges, den er über die Dinge angelegt hat. Das Wasser, die Felsen und der Tote … Und dieses ganze skandalöse Leben um den Toten herum: Fische, Krebsflöhe, Krabben, die allesamt ihren Teil von ihm abhaben wollen. Manch einem Tierchen scheint das Fleisch nicht zu schmecken, und es macht sich auf die Suche nach anderer Nahrung im Wasser. Was soll dieser Übergriff? Efisio verspürt eine Sehnsucht – auch diese ist schmerzvoll – nach seiner Familie, in der nie jemand krank war … Nun, hin und wieder ein Fieberanfall, ein paar Tage im Bett, schweißnasse Laken, die Mutter, die das Essen herbeiträgt wie eine Opfergabe in der Kirche, Votivtafeln für Efisio, der von der Malariamücke gestochen wurde …

Aber jetzt, dieser Tote da?

In der Natur gibt es keine Scherze, nichts geschieht aus einem Scherz heraus … Sein Tabernakel ist mit einem Mal ein Ort, der sowohl heilig als auch besudelt ist … Er fühlt sich geschlagen … Niemals hatte er solch eine Empfindung …

Und alles nimmt hier seinen Ausgang.

Doch in dem Moment, genau jetzt, besinnt er sich der Worte seines Vaters Girolamo – der Schrecken hat sie in ihm hervorgerufen –, und er hat sie klar und deutlich vor Ohren: Efisio, denk erst mal nach, auch wenn die anderen alle wegrennen; denk erst mal nach, und schau dir alles genau an, sonst endest du so wie die Alten in ihren Kellerlöchern, die noch an Geister glauben. Er steht auf. »Es ist ein Ertrunkener, ein Toter, nichts weiter! Er hat gelebt, so wie ich, so wie wir alle – und er wird eine Familie haben … Vielleicht hat er Kinder … Menschen, die zumindest seinen Körper haben wollen … Den Körper …«

Bei dem Wort Körper verspürt er einen neuen Schmerz. Doch er fragt sich nicht, wo dieser Schmerz herrührt, und noch nicht einmal, wie lange er andauern wird. Er dauert an.

»Efisio … Angst vor einem Toten! Was soll ein Toter dir schon anhaben können? Dir nachts im Traum erscheinen, wenn du schwarze Oliven gegessen hast?«

Schon als Kind fand er Trost im Sprechen mit sich selbst, gefiel er sich darin. Nun, die eigenen Gedanken gefallen ihm, doch er hätte gern etwas mehr Fleisch auf den Rippen und wünschte, sich weniger für seine Knöchelchen schämen zu müssen, die zart sind wie die eines Zugvogels.

Er schiebt das Boot ins Wasser – warum er sich so schwach fühlt, weiß er nicht – und rudert hinaus zu den Klippen, wo das Meer die Leiche noch immer voller Respekt gegen die Felswand spült.

Kurz hält er inne. Dann legt er zitternd ein Seil um den Fußknöchel des Toten, befestigt das andere Ende an der Dolle und fährt ganz langsam zurück.

Die Leiche dreht sich mit Gesicht und Bauch zum Himmel, und Efisio wird kalt.

Schließlich besiegt die Neugier die Angst. Beinah wie unter Zwang beginnt er, sich den Körper genau anzuschauen, ähnlich wie er seine Fossilien begutachtet. Nicht einmal das begreift er. Und doch ist dies hier Efisios Erweckung, dies ist sein Beginn, sein Anfang. Nicht in einem anderen Moment und nicht an einem anderen Ort.

»Was ist denn das?«

Auf dem Bauch der Leiche entdeckt er einen zwei Handbreit langen Schnitt: tief, gerade und grau. Er schaut noch einmal genauer: An der rechten Hand fehlen zwei Finger – oder die Fische haben sie gefressen.

»Warum haben sie ihn aufgemacht, auf diese Weise aufgemacht?«

Wieder kalte Hände. Messer, Klinge … Die Wunde erscheint ihm wie eine Schlucht, die bis zum Zentrum der Erde hinabführt … Sein Kopf dreht sich … Die ganze Bucht...


Todde, Giorgio
Giorgio Todde, geboren 1951, lebt und arbeitet als Augenarzt in Cagliari, Sardinien. In seinen Kriminalromanen um die historisch wahre Figur des Arztes und Einbalsamierers Efisio Marini läßt er das Sardinien des neunzehnten Jahrhunderts Jahrhunderts mit beeindruckender Lebendigkeit neu erstehen. In Italien wurde Giorgio Todde mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet. Nach »Der Tod der Donna Milena« und »Das Geheimnis der Nonna Michela« erschienzuletzt von ihm auf deutsch »Die toten Fischer von Cagliari«.



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