E-Book, Deutsch, Band 3, 304 Seiten
Reihe: Jessie Jefferson
Toon Das unglaubliche Leben der Jessie Jefferson
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95967-651-9
Verlag: HarperCollins
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 3, 304 Seiten
Reihe: Jessie Jefferson
ISBN: 978-3-95967-651-9
Verlag: HarperCollins
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Paige Toon ist die Tochter eines Rennfahrers. Doch für ihre eigene Laufbahn schwebte ihr eher rasantes Schreiben als Fahren vor. Sie arbeitet als freie Journalistin - wenn sie nicht damit beschäftigt ist, einen weiteren internationalen Bestseller zu verfassen. Zusammen mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern lebt sie in Cambridgeshire.
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1. KAPITEL Ich liege auf dem Sofa vor dem Fernseher, den Kopf auf ihrem Schoß. Ihre Finger sind kalt, als sie mir über die Schläfe streicht und über mein hellblondes Haar, das sich verheddert hat. Sie hört auf, mich zu streicheln, und konzentriert sich stattdessen darauf, die Knoten aus meinen Haaren zu entfernen. „Aua, das tut weh!“, beschwere ich mich. „Deine Haare kann ich nicht so lassen, Jessie Pickerill“, warnt sie mich, und mir ist klar, dass sie weitermachen wird, bis das letzte Knötchen entfernt ist. Also ertrage ich das Ziepen, denn ich liebe sie, und ich weiß, dass sie mich auch liebt. Das stimmt, ich erinnere mich. Ihre Hände waren immer kalt. Ich schließe die Augen und schluchze leise vor mich hin, ersticke das Geräusch im Kissen. Heute ist mein sechzehnter Geburtstag, und beim Aufwachen war mir total schlecht. Seit einer Stunde zermartere ich mir das Hirn und versuche, mich an die kleinsten Details zu erinnern, die scheinbar unwichtigsten, die, die man am ehesten vergisst. Aber ich will nicht vergessen, wie sie unser Abendessen hatte anbrennen lassen, weil sie Luftgitarre zu einem Starship-Song spielte, der im Radio gelaufen war. Mir graut davor zu vergessen, wie sie auf meinem Bett hüpfend zu meiner Musik tanzte und ich mich resigniert für die Schule anzog. Und ich erinnere mich sogar gern daran, wie sie wieder mal frustriert ihre eigenen Klamotten auf den Boden schleuderte und in meinem Schrank nach einem passenden Outfit suchte. Sie weckte mich jeden Morgen ganz sanft, indem sie meinen Namen sagte und über meinen Arm strich. Nur an meinem Geburtstag platzte sie immer in mein Zimmer und rief lautstark: „Aufwachen!“ Sie klettert auf mein Bett und hockt sich auf mich, sodass ich fast keine Luft mehr bekomme und laut stöhne. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“ Sie schüttelt mich. „Ich hab Geschenke für dich!“, schreit sie, und ich starre sie verschlafen an, während sie mich anstrahlt und ihre hellbraunen Augen aufgeregt funkeln. „Guck mal, was ich für dich hab!“ Sie platziert ein Päckchen auf meinem Brustkorb. „Und das.“ Noch eins. „Und das und das und das!“ Auf meinem Gesicht stapeln sich Geschenke. Ich muss lachen und versuche, mich aufzusetzen, doch sie sitzt immer noch auf mir. „Geh runter!“, sage ich gut gelaunt und schiebe ihre Knie weg. Sie lacht, gehorcht und hält mir ein weiteres Päckchen vor die Nase. „Ich glaube, du hast mehr Spaß an meinem Geburtstag als ich“, stelle ich ironisch fest und greife nach dem Geschenk. „Aufmachen!“, befiehlt sie. Das war vor einem Jahr. Auf den Tag genau vor einem Jahr. Und wenige Stunden später wurde mir meine Mutter genommen, für immer. Jetzt schluchze ich deutlich lauter. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit vergeht, aber plötzlich vermischt sich eine Art Verantwortungsgefühl mit meiner Trauer, als ich daran denke, dass meine kleinen Brüder sicher bald wach sein werden. Die Vorstellung, dass sie mich in diesem Zustand sehen könnten, reicht aus, um meinen Tränenfluss sofort zu stoppen. Ich schiebe das feuchte Kissen weg und schnappe mir mein Handy. Halb sieben. Falls sie noch nicht wach sind, wird es jedenfalls nicht mehr lange dauern. Ich muss mich zusammenreißen. Mein Körper ist schwer wie Blei, sowie ich mich aus dem Bett quäle und ins Bad taumele. Ich schalte das Licht ein und muss blinzeln, weil es so grell ist. Mein Anblick im Spiegel lässt mich zusammenzucken. Ich drehe den Wasserhahn auf und greife mir einen Waschlappen, in der Hoffnung, damit mein fleckiges, aufgequollenes Gesicht wieder herzurichten. Noch immer kann ich nicht fassen, wie sehr sich mein Leben in den letzten zwölf Monaten verändert hat. Zuerst hatte ich geglaubt, meine Mutter hätte das Geheimnis, wer mein leiblicher Vater ist, mit ins Grab genommen. Und nachdem die erste Schock- und Trauerphase vorbei war, fühlte ich auf einmal nur noch Wut in mir. Und dieser Zorn traf den einzigen Elternteil, den ich noch hatte: meinen Stiefdad Stu. Letzten Sommer erklärte er mir alles. Er hat die ganze Zeit die Wahrheit gekannt: Mein leiblicher Vater ist Johnny Jefferson, der legendäre, berüchtigte Rockstar. Und plötzlich hatte ich einen neuen Dad, eine Stiefmutter, Meg, und zwei unglaublich niedliche kleine Halbbrüder, Barney und Phoenix. Sie sind alle Briten wie ich, leben aber hier, in Los Angeles. Vergangenen Sommer flog ich her, um sie kennenzulernen und sie das erste Mal zu besuchen. Danach pendelte ich quasi zwischen den USA und England, nun allerdings lebe ich endgültig hier. Glaube ich zumindest. Dienstag habe ich meinen ersten Tag in der neuen Schule, und einen Moment ringt die Verzweiflung mit der Übelkeit in meinem Magen darum, wer der Stärkere ist. Ich seufze, als ich mir den kalten Waschlappen aufs Gesicht drücke. Was für ein Glück, dass Jack und Agnes heute nicht da sind. Sie sind seit ein paar Tagen in Washington State und besuchen ihre Großeltern. Zuerst war ich enttäuscht, dass sie an meinem Geburtstag nicht da sein würden, doch im Moment ist mir sowieso nicht nach Feiern zumute. Mit Agnes habe ich mich letzten Sommer angefreundet, und ihr älterer Bruder Jack ist … Tja, ich habe keinen Schimmer, was er für mich ist. Mein Freund? Sind wir offiziell ein Paar? Agnes ist die Einzige hier, die von ihm und mir weiß, und die Gründe dafür sind kompliziert. Beim Gedanken an Jacks blaugraue Augen flattern auf einmal Schmetterlinge in meinem Bauch. Ich denke daran, wie er mich angeschaut hat, als wir uns das letzte Mal geküsst haben. Es war in den frühen Morgenstunden des ersten Januars, vor ein paar Tagen also, und das Gefühl von seinen Lippen auf meinen ist noch da – aufregend frisch. Gleich bei unserem Kennenlernen verliebte ich mich ziemlich heftig in ihn, allerdings war es nicht gut gelaufen. Zurück in England, hatte ich versucht, ihn zu vergessen. Leider gelang mir das nicht. Nicht einmal, nachdem ich mit Tom zusammengekommen war, dem erwiesenermaßen heißesten Typ der Schule. Es war zwecklos. Innerhalb von zwei Monaten überschlugen sich dann die Ereignisse, und ich habe meinen wunderbaren neuen Freund verlassen, um endgültig nach Los Angeles umzuziehen. Jack ist der Lead-Gitarrist der Indie-Rockband All Hype, deren Lead-Sängerin Eve die Band verlassen hat. Als Jack mich zufällig im Duett mit meinem Dad singen hörte, lud er mich zu einem Vorsingen als Ersatz für Eve ein – und ich schaffte es. Vor drei Wochen hatte ich meinen ersten Auftritt mit der Band in San Francisco. Es war unfassbar nervenaufreibend, aber eine ultimativ sensationelle Erfahrung. Seitdem habe ich irgendwie den Kopf verloren. Zwischen Jack und mir stimmte die Chemie schon immer. Auch wenn ich mich zuerst dagegen gewehrt hatte, konnte ich schließlich nur noch nachgeben. Alles endete damit, dass ich ihn wieder küsste – und damit Tom betrog, meinen wunderbaren, liebevollen Freund. Während ich über Weihnachten in England war, gestand ich ihm, was ich getan hatte, und das war das Ende unserer Beziehung. Ich habe ihn sehr verletzt, und mir wird immer noch ganz schlecht, sobald ich mich daran erinnere. Vorgestern habe ich ihm eine Mail geschickt und ihn um Verzeihung gebeten, bisher hat er allerdings noch nicht geantwortet. Ich hatte ihm geschrieben, dass wir vielleicht Freunde sein könnten, aber im Grunde glaube ich selbst nicht daran. Man tut nicht jemandem weh und kommt damit einfach so davon. Ich seufze, trockne mir das Gesicht ab und lege mich in mein gemütliches, warmes Bett. Doch kaum dass mein Kopf das tränenfeuchte Kissen berührt, fällt es mir wieder ein: Heute ist der erste Todestag meiner Mutter. Und an jedem meiner zukünftigen Geburtstage wird ab jetzt ihr Todestag sein. Erneut schnürt sich mir die Kehle zu, und mir steigen die Tränen in die Augen, aber bevor ich erneut in Trauer versinke, nehme ich Bewegung vor meiner Zimmertür wahr. „Pst!“, höre ich jemanden flüstern. Meg? Johnny? „Ich will reingehen!“ Barney. Kein Zweifel. „Nein!“, weist Meg ihn laut flüsternd zurecht. „Lassen wir sie wenigstens bis sieben Uhr schlafen.“ „Aber ich will ihr ihre Geschenke geben!“, brüllt er in voller Lautstärke. Keine Spur von Flüstern. „Oh Mann, Kumpel“, meint Johnny, und ich muss lächeln. „Ich bin wach!“, rufe ich und setze mich auf. Im selben Moment wird die Tür aufgestoßen, und sie platzen herein, die vier Personen, die jetzt meine Familie sind, alle noch im Schlafanzug. Barney, viereinhalb, stürzt als Erster auf mich und klettert auf mein Bett. In den Armen trägt er viele bunte Päckchen und lacht so breit, dass sein kleines Gesichtchen zu zerreißen droht. Hinter ihm taucht Meg auf, den brabbelnden eineinhalbjährigen Phoenix auf dem Arm. „Dezzie!“, ruft er. Er kann meinen Namen noch nicht richtig aussprechen, grinst mich aber mit einem fast zahnlosen Lächeln an. Als Letzter betritt Johnny, der ein weißes T-Shirt und eine verknitterte Pyjamahose trägt und selbst noch ziemlich verschlafen aussieht, den Raum. Meg hat mir erzählt, dass Johnny früher immer erst mittags aufstand, aber seit sie Kinder haben, hat sich das geändert. Sie war seine persönliche Assistentin, dann verliebten sie sich ineinander – und der Rest ist Geschichte. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“, sagt...