Tracy / Gawlitzek | Mehrsprachigkeit und Spracherwerb | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 10, 168 Seiten

Reihe: Linguistik und Schule

Tracy / Gawlitzek Mehrsprachigkeit und Spracherwerb

E-Book, Deutsch, Band 10, 168 Seiten

Reihe: Linguistik und Schule

ISBN: 978-3-8233-0507-1
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Der Spracherwerb ist eine unserer komplexesten Leistungen und nicht auf nur eine Sprache beschränkt. Die Koexistenz unterschiedlicher Sprachen in Individuum und Gesellschaft ist weltweit normal. Aber diese Realität trifft in Bildungseinrichtungen, Öffentlichkeit und bei Mehrsprachigen selbst oft auf Skepsis und Verunsicherung. Auf Basis der aktuellen Forschung vermittelt dieses Lehrbuch Einblicke in sprachliche Fähigkeiten und in die Dynamik von Erwerbsprozessen bei Kindern und Erwachsenen. Verdeutlicht wird, wie Lehr- und pädagogische Fachkräfte auf der Grundlage sprachwissenschaftlicher Expertise erkennen können, welche Ressourcen sich Kinder und Erwachsene angeeignet haben und wie kreativ verfügbare Sprachen interagieren und kooperieren.
Der Band vermittelt Grundlagenwissen, setzt sich mit gängigen Vorurteilen auseinander und plädiert durch konsequente Kompetenzorientierung für die Anerkennung und Förderung sprachlicher Fähigkeiten bei Menschen jeden Alters. Er kann als Lektüre im schulischen Unterricht und in Seminaren unterschiedlicher Studiengänge verwendet werden. Aufgaben (samt Lösungsvorschlägen) und Beispiele bieten Diskussionsstoff und Anregungen für kleinere Forschungsaufträge.
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Weitere Infos & Material


Vorwort
1 Einstimmung und Überblick
2 Mehrsprachigkeit
3 Sprache: Was wird erworben?
4 Szenarien des Spracherwerbs
5 Literacy
6 Mehrsprachige Ressourcen im Diskurs
7 Schulpflicht für Sprachen!
Lösungshinweise zu den Aufgaben
Literatur


1 Einstimmung und Überblick
1.1 Zum Einstieg ein Selbstversuch
In diesem Band geht es um unterschiedliche Facetten des Spracherwerbs und darum, was passiert, wenn wir im Laufe unseres Lebens mehrsprachig werden oder bereits von Anfang an mit mehr als einer Sprache aufwachsen. Dabei verwenden wir die Bezeichnungen mehrsprachig und bilingual synonym, das heißt, wieviele sprachliche Systeme wir uns aneignen, ist an dieser Stelle nicht weiter relevant. Betrachten wir als Ausgangspunkt die Beispiele in (1), produziert von Personen mit unterschiedlicher Erwerbsbiographie.   (1) a isch isch? aufräumen   b ich räum auf   c wo is das Junge is?   d Mummy picking flowers in? garden   e you’re gonna be sorry if you make them shorter because die fallen so schön hier   f mit Hauptsatz ich habe keine Probleme. Nur mit Nebensatz   g dann da kommt Rauch raus   h Die hatten beiden rausgekommen zu sehen weder des auto hatt ihrgenwehrmand wegetahn Wenn Sie raten sollten, ob diese Äußerungen von ein- oder mehrsprachigen Personen produziert wurden, würde Ihnen, von (1e) und vielleicht (1f) und (1h) abgesehen, die Antwort vermutlich schwerfallen. Dafür gibt es einen guten Grund: Es ist nicht einfach! Einfacher ist es, einen ersten Eindruck dahingehend zu gewinnen, was diese Sprecherinnen bislang gemeistert haben. Dies können Sie aber nur, wenn Sie wissen, auf welche Indizien Sie bei Äußerungen achten sollten. Betrachten wir einmal die einzelnen Sätze in (1) genauer: Welche Wortarten treten auf? Wahrscheinlich erinnern Sie sich an die Fachtermini für Wortklassen wie Verb, Nomen, Artikel, Präposition, Konjunktion, Partikel, Adjektiv, Adverb? Spätestens nach dem 3. Kapitel werden sie Ihnen wieder geläufig sein. Was fällt Ihnen bezüglich der Wortstellung auf? Erkennen Sie Wortgruppen (sogenannte Phrasen), und anhand welcher Kriterien könnten Sie die Subjekte eines Satzes identifizieren? Wären Sie in der Lage, die morphologische, also wortinterne, Struktur der einzelnen Wörter zu beschreiben? Und generell: Welche Merkmale dieser Äußerungen gehorchen Ihrer Ansicht nach einer Grammatik des Deutschen? Wir bezeichnen solche folgsamen Merkmale im Folgenden auch als „kanonisch“ oder „wohlgeformt“. Die Beispiele in (1a) und (1b) stammen von einem Mädchen mit Russisch als Erstsprache (abgekürzt L1). Deutsch ist ihre frühe Zweitsprache (fL2). Zum Zeitpunkt der Tonaufnahme, der wir beide Äußerungen entnommen haben, ist sie drei Jahre und einen Monat alt (abgekürzt 3;1) und erst seit ihrem Eintritt in eine Kita wenige Wochen zuvor in intensivem Kontakt mit dem Deutschen. Wir sehen, dass sie in (1a) ein rudimentäres Satzmuster mit einem Infinitiv, aufräumen, produziert, gleichzeitig in (1b) aber eine fortschrittlichere Struktur, in der die Partikel auf nun rechts vom Verb erscheint. Das Verb stimmt sogar schon mit dem Subjekt ich in Person und Numerus (1. Person Singular) überein. Wir sagen dazu: Es ist finit. Nicht lange davor hatte das Kind noch auschließlich Fragmente wie (1a) produziert. Aber zum Zeitpunkt des alternierenden Auftretens von (1a) und (1b) erkennen wir: Der Erwerb geht voran, die Richtung stimmt! Halten wir an dieser Stelle schon einmal fest, dass einfache und fortschrittlichere Strukturvarianten im Repertoire einer Person koexistieren können. Außerdem: Vergessen wir nicht, dass wir alle unser Leben lang nicht finite Satzfragmente wie in (1a) produzieren, so beispielsweise in dem fiktiven Dialog in (2).   (2) A: Du könntest heute mal wieder aufräumen.   B: Ich aufräumen? Du bist doch an der Reihe! Beispiel (1c), mit der Verdoppelung der Kopula is(t), wurde von einem monolingualen Mädchen im Alter 2;3 produziert. Deutsch ist also ihre L1. Allein diese eine Äußerung legt nahe, dass die Sprecherin ein zentrales organisatorisches Prinzip der Architektur deutscher Sätze erkannt hat: die Satzklammer, auf die wir in Kapitel 3 näher eingehen. Sie weiß – natürlich nicht bewusst! –, dass ein finites Verb in deutschen Sätzen in zwei Positionen im Satz auftreten kann, allerdings nicht gleichzeitig, wie in diesem Fall. Im Unterschied zu der Zweijährigen werden Sie nach der weiteren Lektüre explizit wissen, warum diese beiden Verbpositionen im Deutschen wichtig sind. Das Mädchen weiß es implizit schon mit 2;3. Sofern Sie mit Deutsch als Erstsprache aufgewachsen sind, wussten Sie dies im Alter von zwei bis drei Jahren ebenfalls implizit. Die englische Äußerung (1d) stammt von einem Mädchen (Alter 2;4), das von Geburt an Deutsch und Englisch als doppelte Erstsprachen (notiert als 2L1) erwirbt. Dass sie zweisprachig ist, kommt hier allerdings nicht zur Geltung. Ihr Englisch entspricht dem Stand monolingualer Kinder mit L1-Englisch. Was Sie jetzt noch nicht ahnen können, weil wir darauf erst in Kapitel 4 eingehen: Die deutsche Grammatik des Mädchens ist in diesem Alter schon sehr viel weiter fortgeschritten als ihre englische Grammatik. In deutschen Sätzen produziert sie mühelos, was im Englischen noch fehlt, z. B. finite Verben aller Art, inklusive Hilfsverben, die wir in (1d) noch vermissen. Kanonisches Englisch wäre ja Mummy is picking flowers. Halten wir auch hier schon einmal fest, dass sich von Geburt an erworbene Erstsprachen durchaus nicht immer gleich schnell entwickeln, und zwar auch dann nicht, wenn hinreichend Input in beiden Sprachen vorhanden ist. Die Frage, was es mit asynchronen Entwicklungen dieser Art auf sich hat, greifen wir in Kapitel 4 wieder auf. Beleg (1e), eine sprachlich „gemischte“ Äußerung mit englischen und deutschen Anteilen, kann man zweifelsfrei einer mehrsprachigen Person zuordnen. Wir verdanken sie einer achtzigjährigen deutschen Emigrantin in den USA, die erst im Alter von 14 Jahren nach ihrer Einwanderung mit Englisch in Kontakt kam. Thema in (1e) ist die Frisur ihrer Gesprächspartnerin. Falls Sie sich jetzt fragen, ob diese Deutschamerikanerin nach 65 Jahren in den USA überhaupt noch ausschließlich deutsche Passagen produzieren kann: Ja, kann sie! Beispiel (1f) wurde von einer fünfzigjährigen Lettin produziert, die seit fünf Jahren in Deutschland lebt und seit etwa einem Jahr Deutschkurse besucht. Ihr intensiver Kontakt mit Deutsch begann erst mit der Ankunft in Deutschland. Entgegen ihrer Meinung, sie hätte „keine Probleme“ mit deutschen Hauptsätzen, ist die Verbstellung in (1f) nicht kanonisch. Aber ist das wirklich ein Problem? Keinesfalls für die Kommunikation! Jedenfalls stellt sich an dieser Stelle vielleicht schon der Verdacht ein, dass die Platzierung deutscher Verben eine Erwerbshürde darstellt – vielleicht sogar bei Erwachsenen noch mehr als bei Kindern? Die Äußerung in (1g) stammt von einem zweijährigen monolingualen Jungen mit Deutsch als alleiniger L1. Auch hier weicht die Verbstellung – wie in (1f) – von dem ab, was wir von einem kanonischen Hauptsatz im Standarddeutschen erwarten. Bei (1h) handelt es sich um den getippten Satz einer Siebzehnjährigen, die in den USA als Kind eingewanderter Eltern mit Deutsch als Erstsprache – als sogenannter Herkunftssprache, dazu mehr in Kapitel 4 – aufgewachsen ist. Ihre Aufgabe bestand darin, nach Betrachten eines kurzen Videofilms, in dem ein fiktiver Unfall zu sehen war, einen Zeugenbericht zu verfassen. Spontan würden Sie sicher im ersten Satz ein anderes Hilfsverb (waren) vorziehen und vor den Infinitiv ein um einfügen. Bei ihrgenwehrmand denken Sie ganz richtig an eine Verschmelzung von irgendwer und irgendjemand. Insgesamt vermuten Sie, dass sich die Schreiberin mit der deutschen Orthographie schwertut. Das stimmt, denn in ihrer amerikanischen Schule gab es keinen Deutschunterricht. Ahnen Sie, was sich hinter dem weder verbirgt? Die junge Frau verwendet hier das englische Wort whether anstatt des deutschen ob. In ihren deutschen mündlichen Unfallschilderungen taucht das Wort in eingedeutschter Aussprache auf: [ved?]. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung ist Englisch die von der Verfasserin des Unfallberichts meistens und souveräner gesprochene und geschriebene Sprache. Vermutlich verstehen Sie bereits jetzt schon, warum es keineswegs leicht ist, Erwerbstypen anhand dessen, was gesprochen oder geschrieben wird, zu unterscheiden. Die exakte Zuordnung zu bestimmten Erwerbsszenarien (Erstspracherwerb einer Sprache, doppelter Erstspracherwerb, Zweitspracherwerb in unterschiedlichem Alter etc.) ist daher aus pädagogischer Sicht weniger wichtig als die Entwicklung eines Blicks für Strukturmerkmale, die uns verraten, wie weit Lernende auf ihrem Weg zur Zielsprache bereits gekommen sind. Natürlich würden Sie in der Realität – im Unterschied zu unserem kleinen Selbstversuch hier – nicht nur einzelne Äußerungen in den Blick nehmen, sondern Sie könnten sich auf...


Dr. Rosemarie Tracy ist Seniorprofessorin für Anglistische Linguistik an der Universität Mannheim. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Spielarten des Spracherwerbs und mit Ressourcen und Effekten des Sprachkontakts bei mehrsprachigen Kindern und Erwachsenen.
Dr. Ira Gawlitzek ist akademische Oberrätin im Bereich Anglistik der Universität Mannheim und freie Trainerin u.a. zu lernerzentrierter Lehre.


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