Travnicek Junge Hunde
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-12605-6
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-641-12605-6
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Johanna kümmert sich gern um andere – um die Tochter ihrer alleinerziehenden Nachbarin Julia, um den betagten Herrn Glantz und sein Malteserhündchen Gloria und auch um ihren besten Freund Ernst. Doch eines Tages beschließt Ernst, nach China zu reisen, um dort seine leibliche Mutter zu suchen, und Johanna bleibt mit ihrem langsam dement werdenden Vater allein zurück. Als sie beim Ausräumen des elterlichen Hauses eine alte Postkarte ihres Vaters entdeckt, die jahrelange Gewissheiten auf den Kopf stellt, beginnt auch für sie plötzlich eine Suche. Am anderen Ende der Welt muss Ernst erkennen, dass das reale China nichts mit dem märchenhaften Land seiner Kindheitsfantasie zu tun hat und er in seiner vermeintlichen Heimat ein Fremder ist.
Eine berührende Geschichte über die Suche zweier junger Menschen nach der eigenen Wahrheit, über Familie, Freundschaft und Aufrichtigkeit.
Autoren/Hrsg.
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Yi lù shùn feng 1
Die Stewardess schiebt mir den Getränkewagen gegen das Knie, und weil sie es von vorne tut, kann ihr mein Knie nicht ausweichen. Mein Bein gibt zwar etwas nach, klappt nach außen weg, bis die Dehnung an der Innenseite meines Oberschenkels unangenehm bis schmerzhaft wird, aber es macht nicht Platz. Seit dem Stoß bin ich wach. Die Stewardess zieht das Wägelchen ein wenig zurück, und ich denke, sie wird sich bei mir entschuldigen, aber noch bevor ich mich aufrichten und mein Bein wieder komplett im dafür vorgesehenen Fußraum verstauen kann, schiebt sie noch einmal kräftig an, als bestünde die Möglichkeit nicht, dass der Widerstand menschlicher Natur ist – als wäre ich eine Teppichfalte. Eine Teppichfalte auf dem Weg nach China.
Ich verstehe ja beinahe, warum sie sich weigert, mich wahrzunehmen, denn es kommt mir selbst so vor, als wäre ich nicht hier – als hätte ich nie den riesigen alten Rollkoffer, dessen rechtes Rädchen schief läuft, in Folie wickeln lassen und am Schalter für Großgepäck aufgegeben, hätte nie das Gate durchschritten, mich nie in dieses Flugzeug gesetzt. Aber da bin ich nun. Trotz allem.
Alle haben sie ihre Befürchtungen gehabt: Johanna, meine Eltern, sogar die Freunde meiner Eltern.
»Pass auf, sonst behalten sie dich da«, hat Johanna zum Beispiel ernsthaft gesagt.
»Vielleicht bekommst du gar kein Visum«, hat meine Mutter anfangs wieder und wieder befürchtet, »du tust ja so, als würden die Chinesen dich wie einen verloren geglaubten Sohn jederzeit gut gelaunt empfangen.«
»Zuerst Hongkong anzufliegen«, hat einer unserer vielen Gäste ausgerufen, »das ist, als würdest du dich von hinten an China anschleichen!«
»Hongkong ist ausgezeichnet«, habe ich gesagt, »das wird mein Basislager, China mein Achttausender.«
Ich habe genau das richtige Visum bekommen, eines mit der Berechtigung zu mehrmaliger Ein- und Ausreise, auf diese Weise kann ich zwischendurch auftauchen, Luft holen, einen neuen Anlauf nehmen, vielleicht von Thailand aus, vielleicht von Korea. Wer kann schon genau wissen, an welchem Ende der Volksrepublik es mich vielleicht aus der Bahn wirft. Aber darüber denke ich nicht zu genau nach.
Jetzt lächelt die Stewardess mich an, sie sagt etwas. Sie spricht Chinesisch mit mir, ich habe kein Wort verstanden, ich habe gar nicht zugehört, ich habe meine Extremitäten neu geordnet. Wie war der Satz noch mal, der für Könnten Sie das bitte wiederholen? Eigentlich möchte ich ihr sagen, sie solle doch etwas umsichtiger sein in ihren Bewegungen, in ihrem gesamten Handeln, immerhin ist das hier das Innere eines Flugzeuges. Ich forme die Silben für den eben in Gedanken zusammengebauten Satz, in der Hoffnung, dass es die passenden sind.
Was schaut sie denn so, das war doch richtig? Ist es mein Akzent? Passt mein Akzent nicht zu meinem Aussehen? Sie ist eindeutig eine Südchinesin, dieses Lispeln, das kann ich erkennen. Vielleicht klinge ich zu sehr nach Norden? Wahrscheinlich klinge ich gar nicht chinesisch. Hat sie noch nie einen Auslandschinesen gesehen? Das wäre sehr unwahrscheinlich bei ihrem Beruf. Einen Chinesen mit österreichischem Akzent? Sie schaut noch immer. Sie hat zwei Kannen. Tee oder Kaffee, das wird sie gefragt haben: Tee oder Kaffee.
»Wo yào he chá.« Ich höre mir selbst zu, wie ich ihr sage, dass ich Tee trinken möchte, dann höre ich mir weiter zu, wie ich es auf Englisch wiederhole, weil sie sich immer noch weigert, mein Chinesisch zu verstehen.
»What«, sagt sie, »what?« Was heißt hier what, jetzt ist mein Englisch scheinbar auch besonders grauenhaft, oder wie soll ich das verstehen. Ich winke ab. Beim Abwinken deute ich wohl auf die Teekanne, denn sie greift danach und schenkt mir ein.
Der Tee riecht gut, es könnte ein Oolong sein. Für einen Österreicher kenne ich eindeutig zu viele Teesorten, das ist meiner Mutter zu verdanken. Dem urösterreichischen Volk ist jeder Aufguss gleich ein Tee. Mein Vater kennt genau zwei Arten, nämlich eine, die mit Rum serviert wird, und eine für alle Krankheiten, in die kommt Honig, der Rest ist parfümiertes Wasser. Daran konnte auch meine Mutter nichts ändern, diese kleine Sinologin, die meinem Vater nur bis zur Brust reicht, mit ihrer blassen Haut, die schnell rosa wird, wenn der Tee sie von innen erhitzt. Nach jeder Tasse treten ihr kleine Schweißperlen auf die Nase und die Oberlippe. Dann streicht sie sich die Haare hinter ihre Ohren und betont dadurch deren absurde Größe.
Ich glaube, Johanna liebte meine Mutter vom ersten Moment an, in dem diese ihr die Hand entgegengestreckte und sie wie eine Erwachsene begrüßte, einfach nur »Hallo Hanna, schön dich kennenzulernen« sagte.
»Ernsti, ta shì ni de nupéngyou ma?«, fragte meine Mutter gleich danach mich, und da wurde mir seltsam, ich weiß bis heute nicht warum, ich habe nur »Nein, ist sie nicht« gesagt und Johanna hinter mir hergezogen, die Treppen zu meinem Zimmer hinauf.
»Was hat sie gefragt?«, wollte Johanna dann von mir wissen. Ich versuchte, abzuwinken, aber sie ließ nicht locker und fragte nach, welche Sprache meine Mutter da eben gesprochen habe, und als ich erklärte, das sei Chinesisch gewesen, sagte sie: »Aber die ist doch gar keine Chinesin.«
»Ich bin Chinese«, sagte ich daraufhin, und Johanna konterte: »Chinesen sind gelb.« Diese Information hatte sie aus einem Lucky-Luke-Heft bezogen, das sie mir später einmal gezeigt hat.
»Ich bin nicht gelb«, stellte ich fest, griff nach meinem Hosenbein, zog es hoch und präsentierte meinen nackten Unterschenkel, ganz so, als wären Hände und Gesicht nicht schon Beweis genug, als könnte man an diesen Stellen schummeln. Ich hoffe, Johanna hat das alles längst vergessen.
Ich rieche noch einmal an meinem Oolong, bevor ich meine Hand mit dem Becher in Richtung Klapptischchen bewege. Das Gefäß passt genau in die kleine Mulde, die für diesen Zweck da ist, und bei nächster Gelegenheit macht das Flugzeug einen Ruck, und ich habe heiße Flüssigkeit auf der Hose. Zumindest ist es in meiner Vorstellung schon genau in dem Moment passiert, als ich den Becher dort abstelle. Ich sollte mich vielleicht besser an ihm festhalten.
Jetzt sagt mein Sitznachbar etwas, was die Stewardess versteht, während es wiederum mir unverständlich ist. Ich werde meine Mutter fragen, was sie mir da eigentlich beigebracht hat, was für eine Sprache das sein soll, Chinesisch ja wohl nicht, eher Chintsch, vielleicht Deunesisch, ein Irgendetwas.
Das Essen wird gebracht. Aluschale: abgedeckt, ein winziges Weißbrötchen, Plastikbesteck: plastikverpackt, ein Becher Fruchtsalat, ein leerer Hartplastikbecher für Tee. Ich schaue auf den Pappbecher auf meinem Tischchen, der noch halb voll ist.
Über der Konzentration auf die Nahrungsaufnahme wird es dunkel. Wir fliegen in die Finsternis hinein, durch sie hindurch. Die Nacht schiebt sich als graue Welle über die Landkarte, wo sich ein Miniaturflugzeug langsam Richtung Ziel bewegt. Warum hat hier nicht jeder seinen eigenen Bildschirm? Ich dachte, zumindest das wäre mittlerweile Standard. Der Gemeinschaftsmonitor sieht mehr aus wie ein veralteter Fernseher, den jemand in die Zwischenwand zur ersten Klasse eingebaut hat. Gleich kommt die Stewardess mit einer Videokassette und legt den Film ein, wie damals die Lehrer auf den langen Busfahrten bei den Schulausflügen. Wahrscheinlich startet das Unterhaltungsprogramm, wie sie es nennen, erst nach dem Abservieren. Was ist das eigentlich, das alles, da in meinem Gemüse? Eine Lotuswurzel? Und das? Schmeckt nach Kartoffel. Die Soße ist gut, wirklich gut. Mein Sitznachbar schmatzt, in seinem Alter darf man das wieder. Eine Frau lacht, die habe ich vorhin schon gehört, wo hat die eigentlich ihren Sitzplatz? Die lacht, dass Tote sich die Ohren zuhalten möchten. Kann man dagegen etwas machen? Man könnte es der Stewardess sagen. Ich allerdings kann der Stewardess gar nichts sagen, sie versteht mich ja nicht. Will sie mich nicht verstehen, verachtet sie mich? Denkt sie, meine Eltern sind mit mir ausgewandert, weil sie China nicht mochten und haben, ganz unehrenhaft, ihrem Sohn die eigene Sprache nicht ordentlich beigebracht? Liebt sie China? Fragt sie sich, warum ich hinfliege? Wahrscheinlich denkt sie gar nichts über mich. Oder sie hört schlecht und mag es nicht zugeben.
Da kommt sie schon wieder mit ihrem Getränkewagen.
»More tea, please.« Ich weiß nicht warum, aber warmer Tee beruhigt mich im Flugzeug, und momentan ist mir unwohl. Eine übergroße Aufregung drückt mir den Magen zusammen, und ich verstehe nicht weshalb. Es ist ja nicht so, dass mir meine leibliche Mutter mit offenen Armen entgegenlaufen wird, sobald ich aus dem Flugzeug steige, Hallo, ich habe gehört, dass du kommst, ich freu mich so in mein T-Shirt weint und ich sie fest an mich drücke, ihr den Kopf streichle, als wäre sie diejenige, die lange weg war und eben erst nach Hause gekommen ist. Nach Hause, nach Hause. Ist das zu Hause? Ist das eine Art Heimat?
Zu Hause. Das also, was zurückbleibt, wenn man weggeht. Das tiefgelbe Licht in den gedehnten Abendstunden, die in die Länge gezogenen Orte mit nur einer Hauptstraße, einer veralteten Tankstelle und einem Gasthaus, das gegenüber einer Autowerkstatt liegt, und alles eingebettet in Maisfelder, die uns über den Kopf gewachsen sind. Es gibt die Sommer, in denen man sich nicht wundern würde, Wüstensand durchs Dorf treiben zu sehen. Das Gras ist staubig, die Blätter...