Trevor | Die Geschichte der Lucy Gault | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 302 Seiten

Trevor Die Geschichte der Lucy Gault


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-455-81319-7
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 302 Seiten

ISBN: 978-3-455-81319-7
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



"William Trevor ist einzigartig - unbeirrbar darin, das Gewöhnliche und Vertraute immer wieder verblüffend und neu erscheinen zu lassen." The Irish Times
In allerletzter Sekunde kann Captain Gault einen Brandanschlag auf sein Gut in Lahardane vereiteln. Dennoch kommen er und seine englische Frau Heloise zu dem Schluss, dass es höchste Zeit ist, das unsichere Irland zu verlassen. Ganz anderer Meinung ist ihre achtjährige Tochter Lucy. Sie liebt ihr Zuhause und kann sich ein Leben jenseits der Wälder, Felder und langen Strände von Lahardane nicht vorstellen. Nachdem all ihre Proteste nicht fruchten, greift Lucy zum letzten Mittel: Am Vorabend der unwiderruflich beschlossenen Abfahrt reißt sie aus, um das Unabänderliche doch noch zu verhindern. Ein Ereignis, dessen Folgen die Gaults in eine Katastrophe stürzen und ihr Leben von nun an schicksalhaft bestimmen.
In seinem Roman spiegelt der große irische Schriftsteller Trevor nicht nur das Irland der 1920er Jahre wider, in dem ein Ende der feindlichen Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken, zwischen Arm und Reich nicht abzusehen ist. Er erzählt auch eine tief melancholische Geschichte von verpassten Gelegenheiten und Missverständnissen, die das Leben der Lucy Gault zu einer Tragödie machen. Ein Roman wie ein Requiem.

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Eins
1
Am Abend des 21. Juni 1921 verwundete Captain Everard Gault einen jungen Mann an der rechten Schulter. Er zielte in der Dunkelheit über die Köpfe der Eindringlinge hinweg, feuerte nur einen Schuss aus dem Fenster im Obergeschoss und beobachtete dann, wie die drei Gestalten davonhuschten, der Verwundete gestützt von seinen Kumpanen. Sie waren gekommen, um das Haus in Brand zu stecken, aber man hatte mit ihrem Besuch gerechnet, weil sie schon vorher da waren. Beim ersten Mal waren sie später aufgetaucht, kurz nach ein Uhr morgens. Die Schäferhunde hatten sie verscheucht, aber eine Woche später lagen die Hunde vergiftet im Hof, und da wusste Captain Gault, dass die Eindringlinge wiederkehren würden. »Die Polizei ist überlastet«, sagte Sergeant Talty, als er von Enniseala nach Lahardane kam. »Schrecklich überlastet, Captain.« Lahardane war nicht das einzige Haus in Gefahr; jede Woche brach irgendwo ein Feuer aus, ganz gleich, wie die Polizei sich verteilte. »Hoffentlich hat das alles bald ein Ende«, sagte Sergeant Talty und ging wieder. Es herrschte Kriegsrecht, denn im Land waren Unruhen, die auf eine bewaffnete Auseinandersetzung hinausliefen. Die Sache mit den vergifteten Hunden wurde nicht weiter verfolgt. Am Morgen nach der Schießerei entdeckte man Blut auf den Kieselsteinen der Wendestelle vor dem Haus, und hinter einem Baum fand man zwei Benzinkanister. Die Kiesel wurden wieder glatt geharkt und ein paar Eimer voll rot verfärbter Steine entfernt. Für Captain Gault war die Angelegenheit damit erledigt: Die Übeltäter hatten ihre Lektion bekommen. Er schrieb einen Brief an Pater Morrissey nach Enniseala, in dem er den Geistlichen bat, er möge sein Mitleid und Bedauern übermitteln, falls er zufällig erfahren sollte, wer der Verwundete war. Er habe niemanden verletzen, sondern nur zeigen wollen, dass sein Haus bewacht wurde. Pater Morrissey schrieb zurück und schloss seine Bemerkungen mit dem Satz: Er war schon immer der Hitzkopf in der Familie. Doch der Brief hatte in der Wahl der Formulierungen und Wendungen etwas Irritierendes an sich, als falle es dem Pater schwer, sich zu dem Geschehen zu äußern, als begreife er nicht, dass der Captain niemanden hatte töten oder verwunden wollen. Er habe die Nachricht weitergeleitet, schrieb er, aber keine Antwort von der betreffenden Familie erhalten. Captain Gault war selbst verwundet worden. Seit er vor sechs Jahren als Invalide aus den Schützengräben zurückgekehrt war, steckten Granatsplitter in seinem Körper, die sich nicht mehr entfernen ließen. Die Verletzung hatte damals das Ende seiner militärischen Laufbahn herbeigeführt: Er sollte für immer Captain bleiben, was eine große Enttäuschung für ihn war, denn er hatte seit jeher einen viel höheren Rang angestrebt. In anderer Hinsicht war er jedoch keineswegs enttäuscht. Er fand großen Trost in seiner glücklichen Ehe, in dem Kind, das seine Frau Heloise ihm geboren hatte, und in seinem Haus. Nirgendwo hätte er glücklicher sein können als hier, unter dem Schieferdach des dreistöckigen Hauses, dessen graues Gemäuer von weißen Holzfenstern und einer hübschen Lünette über der Eingangstür aufgehellt wurde. Rechts vom Haus befand sich ein breiter hoher Torbogen und ein kopfsteingepflasterter Hof, von dem ebenfalls gepflasterte Wege zu einem Apfelgarten und einem Ziergarten führten. Eine Hälfte des runden Vorhofs, auf den die vorderen Zimmer blickten, war mit Kies bestreut; die andere Hälfte bedeckte ein erhöht angelegter Rasen, den eine bogenförmige Rabatte aus blauen Hortensien gegen den steil ansteigenden Wald abgrenzte. Die oberen Zimmer auf der Rückseite boten einen Blick auf das Meer, so weit das Auge reichte. Die Ursprünge der Gaults in Irland verloren sich irgendwann vor mehreren hundert Jahren. Von Norfolk kommend – das jedenfalls glaubte die Familie, ohne es genau zu wissen –, ließen sie sich zunächst im Westen der Grafschaft Cork nieder. Ein Söldner, der dort aus unbekannten Gründen untergetaucht war, begründete ihre bescheidene Dynastie. Irgendwann Anfang des 18. Jahrhunderts zog die inzwischen angesehene und wohlhabende Familie in den Osten, und in jeder Generation hielt ein Sohn die Verbindung zum Militär aufrecht. Die Ländereien von Lahardane wurden erworben, der Hausbau begann. Der Wald im Tal wurde angelegt, dazu die lange gerade Allee, die man auf beiden Seiten mit Kastanien säumte. Spätere Generationen pflanzten den Obstgarten mit Bäumchen aus der Grafschaft Armagh; der Ziergarten, den man klein hielt, wurde nach und nach angelegt. 1769 weilte Lord Townshend, der Vizekönig von Irland, auf Lahardane; ebenso Daniel O’Connell, als 1809 in Dromana, dem Sitz der Stuarts, alle Zimmer belegt waren. Auf diese Weise hinterließ die große Geschichte ihre Spuren. Aber ebenso gut in Erinnerung und ebenso oft im Gespräch waren Geburten, Hochzeiten und Todesfälle, Begebenheiten im Haushalt, Veränderungen und Anbauten an diesem oder jenem Zimmer, Zerwürfnisse und Versöhnungen. 1847 erlitt ein Gault einen Schlaganfall und war drei Jahre lang bei vollem Bewusstsein ans Bett gefesselt. Es folgten die katastrophalen sechs Monate des Jahres 1872, als beim Kartenspiel ein Feld nach dem anderen an die benachbarten O’Reillys verloren ging. 1901 brach die Diphterie aus und verbreitete sich so rasch und dramatisch, dass nur der jetzige Everard Gault und die fünfköpfige Familie seines Bruders verschont blieben. Über dem Schreibtisch im Salon hing das Gemälde eines entfernten Vorfahren, dessen Identität keinem der Lebenden bekannt war: ein hageres, ernstes Gesicht, mit blauen, ausdruckslosen Augen. Es war das einzige Porträt im Haus, obwohl es seit dem Beginn der Fotografie Alben mit Bildern von Freunden, Verwandten und den Gaults auf Lahardane gab. Dies alles – das Haus mit dem übrig gebliebenen Weideland, der Strand unterhalb der hellen Lehmklippen, der Weg dort entlang zum Fischerdorf Kilauran, die Allee, über der sich die Zweige der Kastanien mittlerweile berührten – gehörte ebenso zu Everard Gault wie sein glattes dunkles Haar und die Gesichtszüge, die jenem auf dem Porträt im Salon glichen. Er war groß und hielt sich aufrecht, ein Mann, der nichts von sich versteckte und keine großen Ambitionen mehr hegte, denn er hatte vor langer Zeit akzeptiert, dass seine Bestimmung darin lag, sein Erbe in gutem Zustand zu halten, Bienen in seine Stöcke zu locken und Apfelbäume, die nicht mehr trugen, auszugraben und zu ersetzen. Er fegte eigenhändig die Schornsteine des Hauses, konnte Mörtel verfugen und Fensterscheiben auswechseln. Er kroch auf dem Dach herum und reparierte kleine Löcher, die sich von Zeit zu Zeit im Blei bildeten; der Fischleim, den er in die schadhaften Stellen drückte, hielt dann wieder eine Zeit lang. Bei vielen dieser Arbeiten half ihm Henry, ein stark untersetzter Mann mit behäbigen Bewegungen, der tagsüber nur selten den Hut vom Kopf nahm. Henry hatte vor Jahren ins Pförtnerhaus eingeheiratet, in dem er und Bridget nun allein wohnten, da die Ehe kinderlos geblieben war und Bridgets Eltern nicht mehr lebten. Ihr Vater hatte sich mit zwei Männern, die ihm unterstanden, um die Pferde und alle anderen auf Hof und Feld anfallenden Arbeiten gekümmert, die Henry jetzt allein erledigte. Ihre Mutter hatte im Haus gearbeitet, so wie ihre Großmutter davor. Bridget war von der gleichen gedrungenen Statur wie ihr Mann, hatte kräftige breite Schultern und ein resolutes Auftreten: In der Küche führte nur sie das Kommando. Kitty Teresa, die Kammerzofe, half Heloise Gault bei den Arbeiten, die früher auf mehrere Dienstboten verteilt waren. Einmal in der Woche kam die alte Hannah zu Fuß aus Kilauran, um Kleidung, Bettwäsche und Tischdecken zu waschen und die Fliesen in der Eingangshalle samt den Steinböden im hinteren Teil des Hauses zu schrubben. Den früheren Lebensstil von Lahardane konnte man sich nicht mehr leisten. Die lange Allee führte jetzt durch Land, das den O’Reillys beim Kartenspiel zugefallen war, so dass den Gaults gerade noch genug Weideland blieb, um eine bescheidene Herde Frisian-Rinder zu halten. Drei Tage nach der nächtlichen Schießerei las Heloise Gault Pater Morrisseys Brief, dann drehte sie das Blatt um und las ihn noch einmal. Sie war eine schlanke, schmächtig gebaute Frau Ende dreißig und trug ihr langes blondes Haar zu einer Frisur aufgesteckt, die ihre Gesichtszüge gut zur Geltung brachte und ihrer spröden Schönheit einen Hauch von Strenge verlieh, der in ständigem Widerspruch zu ihrem Lächeln stand. Aber seit der Nacht, als ein Schuss sie geweckt hatte, war dieses Lächeln nur noch selten zu sehen. Heloise Gault hatte Angst, obwohl sie normalerweise kein feiger Mensch war. Auch sie kam aus einer Soldatenfamilie und hatte es verwunden, dass sie, wenige Jahre vor ihrer Hochzeit, nahezu ohne Familie zurückblieb, nachdem ihre Mutter, eine Witwe aus dem Burenkrieg, gestorben war. Gewöhnlich fiel es ihr leicht, in Zeiten von Unglück und Chaos Mut aufzubringen, aber bei dem Gedanken daran, dass jemand das Haus, in dem sie, ihr Kind und die Magd schliefen, niederbrennen wollte, verließ sie die gewohnte Zuversicht. Hinzu kamen die vergifteten Hunde, der unbeantwortete Brief an die Familie des jungen Mannes, das Blut auf den Kieselsteinen. »Ich habe Angst, Everard«, gab sie schließlich zu und behielt ihre Gefühle nicht länger für sich. Der Captain und seine Frau kannten sich gut. Sie teilten einen gewissen Lebensstil, folgten festen Prioritäten und Interessen. Die frühe Erfahrung mit dem Tod, die...


William Trevor, geboren 1928, wuchs in Irland auf. Er besuchte das Trinity College in Dublin und war Mitglied der Irish Academy of Letters. Sein umfangreiches Werk umfasst Romane und Erzählungen und wurde mit zahlreichen literarischen Preisen ausgezeichnet. 2002 ernannte ihn Königin Elizabeth II. zum Ehrenritter. Bei Hoffmann und Campe erschienen Romane und Erzählungen, zuletzt der Erzählungsband Ein Traum von Schmetterlingen (2015). William Trevor lebte mit seiner Ehefrau Jane viele Jahre im englischen Devon; er starb im Alter von 88 Jahren am 20. November 2016 in Somerset.



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