E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Trevor Liebe und Sommer
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-455-81323-4
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-455-81323-4
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sie treffen sich heimlich auf einem abgelegenen Anwesen. Bei Florian ruft Ellie Erinnerungen an seine frühere Jugendliebe wach, und Ellie lässt sich von seiner geheimnisvollen Ausstrahlung in den Bann ziehen. Mit einer Tschechow'schen Note von Verlust und Sehnsucht erzählt William Trevor eindringlich von der Liebe eines Sommers.
Florian Kilderry hält sich im ländlichen Rathmoyes auf, um den Besitz seiner verstorbenen Eltern aufzulösen. Als er mit seiner Kamera die Gegend durchstreift, trifft er auf die Trauergäste einer Beerdigung, unter denen auch Ellie Dillahan ist. Der unabhängige Mann und die verheiratete Farmersfrau fühlen sich spontan zueinander hingezogen und treffen sich fortan heimlich. Ellie ist hin- und hergerissen zwischen ihrem eintönigen, aber sicheren Leben an der Seite ihres Mannes auf dem Hof und den Verlockungen, die der geheimnisvolle Unbekannte verheißt. Auch wenn sich die beiden in ihrem Geheimnis sicher wähnen, bleibt ihre Affäre von einigen Bewohnern Rathmoyes' nicht unbemerkt.
"Mit der Genauigkeit eines Chirurgen und der Eloquenz eines Dichters präsentiert Trevor dem Leser die Nischen des menschlichen Herzens." Literary Review
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Liebe und Sommer
1
An einem Juniabend in den späten fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts durchquerte Mrs Eileen Connulty die Stadt Rathmoye: von The Square Nummer 4 zur Magennis Street, von da in die Hurley Lane, die Irish Street entlang, über die Cloughjordan Road bis zur Kirche zum Heiligsten Erlöser. Dort verbrachte sie die Nacht. Das Leben, das ein Ende gefunden hatte, war ein Leben voll guter Werke und guter Vorsätze gewesen, mit einem gewissen Maß an Strenge in häuslichen und familiären Angelegenheiten. Die Hoffnung auf persönliches Glück, die Mrs Connulty vor langer Zeit bewogen hatte, sich auf Ehestand und Geburt zweier Kinder einzulassen, war seither verflogen: Ihr Mann und ihre Tochter hatten sie enttäuscht. Beim Herannahen des Todes hatte sie befürchtet, sich nunmehr ihrem Mann zugesellen zu müssen, und gebetet, davon verschont zu bleiben. Von ihrer Tochter hatte sie sich bereitwillig getrennt; ihren Sohn zurückzulassen – jetzt fünfzig Jahre alt und ihr Liebling, seit er als Säugling in ihren Armen lag – hatte Mrs Connulty Tränen gekostet. Die Rollos der Privathäuser, die herabgelassen worden waren, als der Sarg die Straßen passierte, wurden hochgezogen, kaum dass er entschwunden war. Läden, die geschlossen hatten, öffneten wieder. Männer, die die Köpfe entblößt hatten, setzten ihre Mützen oder Hüte wieder auf, die Kinder in der Hurley Lane, die ihre Spiele unterbrochen hatten, brauchten nicht länger gebändigt zu werden. Die Bestattungsunternehmer schritten die Kirchentreppe hinab. Zur morgigen Messe würde ein Bischof eintreffen; bis zuletzt würde Mrs Connulty die ihr gebührende Ehre zuteil. Seinerzeit hatte es geheißen, der Familie, in die Mrs Connulty eingeheiratet hatte, gehöre halb Rathmoye, ein Eindruck, den ihr Pub in der Magennis Street, ihr Kohlenlagerplatz in der St. Matthew Street und ihr 1903 gegründetes Gästehaus The Square Nummer 4 hervorgerufen hatten. In den darauffolgenden Jahrzehnten waren weitere Immobilien in der Stadt hinzugekauft worden, die nach Instandsetzung und Renovierung bescheidene Mieten einbrachten, die zu einer beträchtlichen Gesamtsumme aufliefen. Trotzdem übertrieben die Leute, wenn sie behaupteten, den Connultys gehöre halb Rathmoye. Die Stadt, dicht gedrängt und gewöhnlich, lag in einer Mulde und war dort aus Gründen entstanden, die niemand kannte und um die niemand sich Gedanken machte. Am ersten Montag im Monat brachten die Bauern ihr Vieh und liehen sich bei einer der beiden Banken von Rathmoye Geld. Vom Zahnarzt, der am Square praktizierte, ließen sie sich die Zähne ziehen, gelegentlich baten sie einen Anwalt um Rat, sie begutachteten den Landmaschinenpark von Des Devlin in der Nenagh Road, schlossen Geschäfte mit Heffernan, dem Saatguthändler, ab und tranken in einem der zahlreichen Pubs der Stadt. Ihre Frauen kauften Lebensmittel im Cash & Carry ein oder, falls sie nicht haushalten mussten, bei McGovern’s; Schuhe bei Tyler’s, Kleider, Vorhangstoffe und Wachstücher in der Tuchhandlung Corbally’s. Früher, vor dem Bau des großen Shannon-Wasserkraftwerks, hatte es Arbeit in der Mühle und im Elektrizitätswerk der Mühle gegeben; jetzt gab es Arbeit in der Molkerei und in der Kondensmilchfabrik, auf Bauhöfen, in Geschäften und Pubs oder in der Mineralwasserfabrik. Am Square stand ein Gerichtsgebäude, am Ende der Mill Street befand sich ein stillgelegter Bahnhof. Es gab zwei Kirchen und ein Kloster, eine Schule der Christlichen Brüder und eine Berufsfachschule. Pläne für ein Schwimmbad harrten der Bereitstellung von Geldmitteln. In Rathmoye sei nichts los, sagten seine Bewohner, blieben meistenteils aber trotzdem dort wohnen. Nur die Jungen zogen fort – nach Dublin, Cork oder Limerick, nach England, manchmal auch nach Amerika. Viele kehrten zurück. Auch dass nichts los sei, war eine Übertreibung. Die Totenmesse fand am Morgen des folgenden Tages statt, und als sie zu Ende war, blieben die Trauergäste vor dem Friedhofstor stehen und erklärten, man werde Mrs Connulty nie vergessen, weder in der Stadt noch darüber hinaus. Die Frauen, die sich zusammen mit ihr in der Kirche zum Heiligsten Erlöser abgeplagt hatten, beteuerten, sie sei ihnen allen ein Vorbild gewesen. Sie erinnerten daran, dass ihr keine Arbeit zu niedrig gewesen sei, nie habe sie die Stunden bedauert, die sie damit zugebracht hatte, eine Überfülle an Messing zu polieren oder altes Kerzenfett abzukratzen. In sechzig Jahren hätten die Altarblumen nicht ein einziges Mal frisches Wasser benötigt, die Missionsbroschüren seien nachgelegt worden, wann immer sie auszugehen drohten. An Soutanen, Chorhemden und Priesterroben habe sie kleinere Flickarbeiten ausgeführt. Die Fliesen des Altarraums zu wischen sei ihr heilige Pflicht gewesen. Während sie so ihre Erinnerungen austauschten und das Leben, das ausgelöscht worden war, weiterhin in höchsten Tönen lobten, fotografierte ein junger Mann in einem blassen Tweedanzug, mit dem er an diesem warmen Vormittag auffiel, heimlich die Szene. Er war die zehn Kilometer von seinem Wohnort hergeradelt und von der Trauergemeinde aufgehalten worden. Eigentlich war er gekommen, um das ausgebrannte Kino der Stadt zu fotografieren. Von diesem hatte er in einer ähnlichen Kleinstadt gehört, wo er unlängst den gefährdeten Zustand einer Häuserzeile, die von einem Erdrutsch aus ihren Fundamenten gerissen worden war, fotografisch festgehalten hatte. Der junge Mann, dunkelhaarig und schmächtig, etwa Anfang zwanzig, war fremd in Rathmoye. Ein Hauch von Eleganz – in seiner ganzen Haltung, mit seiner flotten grün-blau gestreiften Krawatte – wurde von der bequemen Schlotterigkeit seines Anzugs Lügen gestraft. Seine Miene hatte etwas irreführend Ernstes, was den wiedersprüchlichen Eindruck nur noch verstärkte. Sein Name war Florian Kilderry. »Wessen Beerdigung?«, erkundigte er sich bei der Gemeinde, der er sich jetzt wieder zuwandte, nachdem er sich vorübergehend hinter einem abgestellten Wagen postiert hatte, um seine Bilder zu knipsen. Nachdem ihm Auskunft erteilt worden war, nickte er und fragte nach dem Weg zu dem verfallenen Kino. »Danke«, sagte er höflich, mit einem freundlichen Lächeln. »Danke«, wiederholte er und schob sein Fahrrad durch den Pulk der Trauernden. Weder Mrs Connultys Sohn noch ihre Tochter wussten, dass die Trauergemeinde auf diese Weise abgelichtet worden war, und auch als sie sich jetzt, getrennt, auf den Rückweg zu The Square Nummer 4 machten, ahnten sie nichts von dem ungewöhnlichen Vorgang. Dann begann die Menge sich zu zerstreuen, viele kamen noch einmal in der Nummer 4 zusammen, andere wandten sich wieder ihren morgendlichen Verrichtungen zu, in denen sie unterbrochen worden waren. Als Letzter ging ein alter Protestant namens Orpen Wren, der glaubte, der hinabgesenkte Sarg enthalte die sterbliche Hülle eines ältlichen Küchenmädchens, das vor fünfunddreißig Jahren in einem ihm wohlbekannten Haushalt den Tod gefunden hatte. Das ehrerbietige Gemurmel der Stimmen ringsumher erstarb, die Autos fuhren davon. Orpen Wren, der allein gekommen war, blieb noch ein paar Augenblicke länger stehen, bevor auch er seines Weges ging. Als Ellie zur Stadt hinausradelte, fragte sie sich, wer wohl der Mann gewesen sein mochte, der die Aufnahmen gemacht hatte. Daran, wie er sich nach dem alten Lichtspielhaus erkundigt hatte, konnte man erkennen, dass er sich in Rathmoye nicht auskannte, und sie hatte ihn noch nie auf der Straße oder in einem Geschäft gesehen. Sie überlegte, ob er vielleicht mit den Connultys verwandt war, denn immerhin hatte das Lichtspielhaus den Connultys gehört, und es war Mrs Connultys Begräbnis gewesen. Sie hatte noch nie erlebt, dass bei einer Beerdigung Aufnahmen gemacht worden wären, und nahm an, dass ihn die Connultys damit beauftragt hatten. Vielleicht arbeitete er ja auch für eine Zeitung, für die Nenagh News oder den Nationalist, denn manchmal konnte man in der Zeitung ein Foto von einer Beerdigung sehen. Wenn sie hinterher mit zum Haus gegangen wäre, hätte sie Miss Connulty danach fragen können, aber der Besamungstechniker wurde bei ihnen erwartet, und sie hatte ihm versprochen, da zu sein. Sie beeilte sich, um nicht zu spät zu kommen, dabei hatte sie doch genau ausgerechnet, dass sie nicht zu spät kommen würde. Lieber wäre sie noch mit zum Haus der Connultys gegangen. Sie hätte es gern von innen gesehen, was ihr bisher noch nie vergönnt gewesen war, obwohl sie Mrs Connulty viele Jahre lang mit Eiern beliefert hatte. Vielleicht hatten ja die Priester die Fotos bestellt, vielleicht führte Father Balfe, wie Sister Clare einmal angedeutet hatte, ein Gemeindebuch. Ein Gemeindebuch zu führen sähe eher Father Balfe ähnlich als Father Millane, nicht dass sie wusste, was es enthielt. Sie fragte sich, ob wohl auch sie auf dem Foto war. Sie erinnerte sich an die schlanken, zart wirkenden Hände, die die Kamera hochgehalten hatten. Auf dem Hof stand der weiße Lieferwagen, und Mr Brannock stieg eben aus. Sie entschuldigte sich, und er fragte: »Wieso?« Sie werde ihm eine Tasse Tee brühen, sagte sie. Nachdem er nur ein paar Minuten in den Überresten des Kinos verbracht hatte, machte Florian Kilderry in einem an der Landstraße gelegenen Pub namens Dano Mahoney halt. Am Kino war er von einem Mann gestört worden, der sein Fahrrad bemerkt hatte und hereingekommen war, um ihm zu sagen, dass er sich dort nicht aufhalten dürfe. Der Mann hatte auf ein Schild gezeigt, und Florian hatte erwidert, er habe es nicht...