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E-Book, Deutsch, 160 Seiten, Format (B × H): 150 mm x 215 mm

Tunger-Zanetti Verhüllung

Die Burka-Debatte in der Schweiz

E-Book, Deutsch, 160 Seiten, Format (B × H): 150 mm x 215 mm

ISBN: 978-3-03919-976-1
Verlag: Hier und Jetzt
Format: EPUB
Kopierschutz: Kein



Die Diskussion um die Vollverhüllung muslimischer Frauen ist hoch emotional. Ob Gesichtsverhüllungen wie Nikab und Burka, aber auch Vermummung ohne religiös-kulturellen Bezug verboten werden sollen, entscheidet die Schweizer
Stimmbevölkerung im Frühjahr 2021. Der Islamwissenschaftler Andreas Tunger-Zanetti ist mit Studierenden den
Widersprüchen der sogenannten Burka-Debatte nachgegangen. Die entstandene Studie bietet zunächst neben einer kulturhistorischen Herleitung die erste solide Schätzung zur Anzahl vollverhüllter Frauen in der Schweiz, persönliche
Aussagen einer Schweizer Nikabträgerin über ihre Beweggründe und Erfahrungen sowie einen Vergleich mit der Forschung anderer westeuropäischer Länder und skizziert die politischen Vorstösse der letzten Jahre. Im zweiten Teil arbeitet das Team anhand typischer Beiträge in Presse und Fernsehen heraus, was hinter der Debatte steckt. Thematisiert werden auch die jüngsten Entwicklungen wie der Tod der bekanntesten Schweizer Nikabträgerin und die amtlich angeordnete «Verhüllung» in Zeiten der Corona-Pandemie.
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Kurze Geschichte des Gesichtsschleiers
29. April 2011, London, Westminster Abbey: Die Hochzeit des englischen Thronfolgers Prinz William mit Catherine Middleton, bis ins kleinste Detail durchgeplant, liefert hübschen Stoff für die Geschichte des Schleiers: Die Braut trägt einen durchsichtigen Gesichtsschleier, als ihr Vater Michael Middleton sie hinter dem Dean of Westminster vor den Altar führt, wo der Bräutigam und sein jüngerer Bruder bereits warten. Während die Gemeinde das Lied «Guide Me, O Thou Great Redeemer» singt, lüftet der Brautvater den Schleier. Kaum hat der Erzbischof von Canterbury den Brautleuten das Eheversprechen abgenommen, legt der Brautvater die rechte Hand seiner Tochter in die Hand des Erzbischofs, der sie weiterreicht in die Hand des Ehemannes.5 Im geschilderten Vorgang hat der Vater als der bisher zuständige Mann mit der Hilfestellung der geistlichen Macht die Tochter dem künftig zuständigen Ehemann übergeben. In jedem Moment aber ist die Frau im Verfügungsbereich eines Mannes. Der Vorgang in der Kathedrale von Westminster aktualisiert offensichtlich eine zutiefst patriarchalische Norm. Was aber hat es dabei und in anderen Zusammenhängen mit den verschiedenen Formen des Schleiers auf sich? Dieses Kapitel skizziert die wichtigsten Zusammenhänge, soweit sie für den heutigen islamischen Gesichtsschleier von Belang sind. Bedeckung in antiken Kulturen
Im Kulturraum vom westlichen Mittelmeer bis zum Himalaya besteht die Tradition des Schleiertragens schon seit Tausenden von Jahren. In den verschiedenen Kulturen und Epochen waren die Art der Schleier und die damit verbundene Bedeutung jedoch höchst unterschiedlich und lassen sich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen. Schleier kommen bei Frauen wie bei Männern vor; sie bedecken bald das Gesicht oder aber nur die Haare oder sitzen lediglich als Kopfbedeckung auf dem Haupthaar; sie markieren einen sozialen Stand oder einen Zivilstand oder auch eine berufliche Rolle. Das deutsche Wort «Schleier» trägt dieser Fülle möglicher Zusammenhänge nicht Rechnung, sondern deutet lediglich an, dass von einem Stück Stoff die Rede ist, das am Kopf getragen wird oder aber einen Gegenstand abdeckt. Die folgenden Beispiele werfen hierauf einige Schlaglichter. Die Vorstellung des Brautschleiers ist indirekt bereits im 4. Jahrtausend v. Chr. in der Kultur Sumers (heutiger südlicher Irak) belegt: Die Nacht wird in einer Quelle als «verschleierte Braut» umschrieben.6 Im Nachfolgereich Assur (ca. 1800–600 v. Chr.) galt: «Verheiratete Frauen und unverheiratete Töchter freier Bürger mussten sich in der Öffentlichkeit ebenso verschleiern wie Konkubinen, die verheiratet waren oder mit der Hauptfrau ausgingen, und verheiratete […] Frauen.» Andere Frauen hingegen, insbesondere Sklavinnen und Prostituierte, durften sich nicht verschleiern.7 Wiederholt begegnet uns der Schleier bei Gottheiten oder dann, wenn Menschen, insbesondere Priesterinnen oder Priester, dem Göttlichen begegnen. Oft findet sich etwa in der griechischen Antike die Göttin Hera, die «Göttermutter» und Gattin des höchsten Gottes Zeus, mit Schleier dargestellt. Ihr werden Schleier und andere Kleidungsstücke als sogenannte Gewandopfer dargebracht. Darstellungen der Hera mit Schleier nehmen im Lauf der Zeit ab, während die Frauen auf der Strasse immer öfter den Schleier tragen.8 Priester und Priesterinnen verschleiern sich in den Kulturen der Antike insbesondere beim Opfern. Die Priesterinnen der Isis und auch jene der Demeter trugen Schleier bei bestimmten Ritualen.9 Auch Moses, der Anführer des Volkes Israel beim Auszug aus Ägypten, verhüllt zum eigenen Schutz sein Gesicht, als er Gott begegnet (Altes Testament, Buch Exodus, Kap. 3, V. 6). Doch auch der Brautschleier taucht in der hebräischen Bibel wieder auf: Die Braut wird dem Gatten offenbar vollverhüllt zugeführt. Deshalb entdeckt Jakob zu spät, dass sein Schwiegervater Laban ihm nicht wie vereinbart die schöne Rahel, sondern deren ältere Schwester Lea zur Frau gegeben hat (Altes Testament, Buch Genesis, Kap. 29). Schleier schützen also in den alten Kulturen die Person in kritischen Situationen oder markieren einen sozialen Status. Sie tauchen insbesondere im Zusammenhang mit dem Statuswechsel der Heirat immer wieder auf. Früh ist auch die Rede vom Schleier im übertragenen Sinn fassbar: Die Überwirklichkeit ist durch den Weltenschleier verhüllt. Mit der Nacktheit einer Person ist zugleich ihre Heiligkeit verbunden, die es deshalb zu schützen gilt. Christliche Aneignung
Wenn die Umwelt des entstehenden Christentums den Schleier in unterschiedlichen Formen und Kontexten bereits kannte, so ist klar, dass sich auch die Anhängerinnen und Anhänger der neuen Religion früher oder später dazu positionieren mussten. Den nachhaltigsten Orientierungspunkt hierzu setzte Apostel Paulus, als er an die Gemeinde in Korinth schrieb: «4 Ein Mann, der im Gottesdienst öffentlich betet oder Weisungen Gottes verkündet, entehrt sich selbst, wenn er dabei seinen Kopf bedeckt. 5 Eine Frau, die im Gottesdienst öffentlich betet oder Weisungen Gottes verkündet, entehrt sich selbst, wenn sie dabei ihren Kopf nicht bedeckt. Es ist genauso, als ob sie kahl geschoren wäre. 6 Wenn sie keine Kopfbedeckung trägt, kann sie sich gleich die Haare abschneiden lassen. Es ist doch eine Schande für eine Frau, sich die Haare abschneiden oder den Kopf kahl scheren zu lassen. Dann soll sie auch ihren Kopf verhüllen. […] 9 Der Mann wurde auch nicht für die Frau geschaffen, wohl aber die Frau für den Mann. 10 Deshalb muss die Frau ein Zeichen der Unterordnung und zugleich der Bevollmächtigung auf dem Kopf tragen. […] 14 Schon die Natur lehrt euch, dass langes Haar für den Mann eine Schande ist, 15 aber eine Ehre für die Frau. Die Frau hat langes Haar erhalten, um sich zu verhüllen. 16 Falls aber jemand mit mir darüber streiten möchte, kann ich nur eines sagen: Weder ich noch die Gemeinden Gottes kennen eine andere Sitte im Gottesdienst.»10 Paulus argumentiert hier für heutige Ohren recht wirr: Mal geht es um Tradition, dann um die «Natur», um Geschlechterrollen gemäss der Schöpfung. Max Küchler, Professor für Neues Testament, frühjüdische Literatur und biblische Umwelt, hat die Paulus-Passage sowie weitere frauenfeindliche Stellen des Neuen Testaments ausführlich seziert und gezeigt, dass sie für die Zuhörerschaft ihrer Entstehungszeit durchaus argumentative Überzeugungskraft besassen; diese Kraft stamme allerdings, wie er ebenfalls minutiös zeigt, «aus jener von Männern für Männer geschaffenen Exegese, in welcher selbstverständlich die Bibel zu ungunsten der Frauen ausgelegt und nacherzählt wurde».11 In dieser Tradition erstaunte es im ersten christlichen Jahrhundert niemanden, wenn Paulus anmahnt, dass Frauen sich den Kopf bedecken sollen. Gut passt hierzu im Übrigen der Umstand, dass Paulus als Jude in Tarsus (heutige Südtürkei) aufwuchs, wo die Verhüllung der Frauen strikter als andernorts Brauch war.12 Kirchenväter wie Clemens aus Alexandria (ca. 150–215 n. Chr.) und Tertullian von Karthago (ca. 150/160–222 n. Chr.) haben Paulus’ Position zur Kopfbedeckung der christlichen Frau aufgenommen und ausgebaut. Nach Clemens’ Vorstellung soll sich die Frau verhüllen, um durch ihre Schönheit niemanden zur Sünde zu verleiten. Tertullian, der nach längerer Karriere in Rom als vermögender Privatier in Karthago nahe dem heutigen Tunis lebte und selbst nicht Priester war, legte gar in einem eigenen Traktat dar, «Warum die Jungfrauen verschleiert sein sollten». Seiner Meinung nach sollen die Christinnen, ob verheiratet oder nicht, auf hübsche Kleidung und Schmuck verzichten und sich beim Verlassen des Hauses verschleiern: «[…] Sie sollten wissen, dass ihr ganzer Kopf ein Weiberkopf ist, seine Grenzen und Enden erstrecken sich bis dahin, wo das Kleid anfängt. So weit als sich das aufgelöste Haar erstreckt, so weit geht das Gebiet des Schleiers, so dass auch der Nacken umhüllt wird. Denn dieser ist es, der unterwürfig sein soll, um dessentwillen das Weib auch eine Gewalt über seinem Haupte haben muss. Der Schleier ist also das Joch für ihn. Es werden Euch die heidnischen Frauen Arabiens beschämen, welche nicht bloss ihr Haupt, sondern auch das ganze Gesicht derart verhüllen, dass es ihnen genügt, wenn sie ein einziges Auge frei haben und die lieber das Licht nur halb geniessen, als ihr ganzes Antlitz prostituieren. Die Frau will lieber sehen, als gesehen werden.»13 Bereits um das Jahr 200 n. Chr. vertritt hier also einer der Kirchenväter normative Positionen, wie man sie heute im Westen üblicherweise nur bei besonders rigorosen Salafis vermuten würde. Wenn Tertullian dabei seinem Publikum die Frauen der weit entfernten Arabischen Halbinsel als Vorbild hinstellt, wird deutlich, dass das weitgehende Verhüllen des Gesichts offenbar als dortige lokale Sitte international bekannt war – vierhundert Jahre vor der Entstehung des Islams. Dass sich auch auf der Arabischen Halbinsel längst nicht alle Frauen so umfassend verhüllten, unterschlägt der Kirchenvater.14 Zugleich lässt sich aus der energischen Predigt dieses und anderer Kirchenväter ablesen, dass die Christinnen in ihrem Umfeld es mit der Kleidung offenbar ebenfalls nicht durchweg so streng nahmen wie angemahnt, denn sonst wäre diese Art von Traktaten nicht nötig gewesen. Eine Kopfbedeckung zu tragen – egal ob Schleier, Kopftuch, Haube oder Hut –, war dennoch für viele Frauen in christlichen Kontexten bis ins frühe 20. Jahrhundert gängige Praxis. Bekannt ist auch, dass der Schleier seit je zum Habit von Schwestern in christlichen Orden und Kongregationen gehört. Mit dem Eintritt...


Tunger-Zanetti, Andreas
Andreas Tunger-Zanetti ist promovierter Islamwissenschaftler, war Auslandredaktor
der Neuen Luzerner Zeitung und arbeitet heute am Zentrum Religionsforschung der Universität Luzern als Forscher, Dozent und Geschäftsführer.

Andreas Tunger-Zanetti ist promovierter Islamwissenschaftler, war Auslandredaktor
der Neuen Luzerner Zeitung und arbeitet heute am Zentrum Religionsforschung der Universität Luzern als Forscher, Dozent und Geschäftsführer.


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