Buch, Deutsch, 328 Seiten, PB, Format (B × H): 155 mm x 225 mm, Gewicht: 550 g
Lotte Schwarz (1910–1971). Dienstmädchen, Emigrantin, Schriftstellerin
Buch, Deutsch, 328 Seiten, PB, Format (B × H): 155 mm x 225 mm, Gewicht: 550 g
            ISBN: 978-3-0340-1144-0 
            Verlag: Chronos
        
Das Leben von Lotte Schwarz, geb. Benett, und ihre Texte stehen für vieles mehr als ihre drei geographischen Koordinaten – Hamburg, Zürich, Brüttisellen – es vermuten lassen. Geboren 1910, spiegelt sich in ihrer Biographie dieses 'kurze Jahrhundert' der Extreme, das für sie die Erfahrung zweier Weltkriege, nationalsozialistische Diktatur, Verfolgung und Exil in der Schweiz bedeutete, gefolgt vom Neubeginn im Zeichen des Wirtschaftsaufschwungs, vom Kalten Krieg und von einschneidenden gesellschaftlichen Umbrüchen. Lotte Schwarz mischte sich ein und meldete sich auf vielfältige Weise zu Wort.
Lotte Schwarz lebte, bis sie vierundzwanzig war, in Hamburg. Ihr beruflicher Weg führte sie von der Austrägerin von Verhütungsmitteln über das Dienstmädchen zur Bibliothekarin, ihr politischer Weg von den Guttemplern über die Frauenrechtlerinnen der Weimarer Republik zur Kommunistischen Jugend und zu den antistalinistischen Roten Kämpfern. Nach Hitlers Machtergreifung folgte die Flucht in die Schweiz.
Dort fand sie 1938 ihr wichtigstes Wirkungsfeld: das Schweizerische Sozialarchiv in Zürich, wo sie während zehn Jahren als Bibliothekarin tätig war. Mit ihrem Wissen und ihrer grossen Hilfsbereitschaft war sie die ideale Anlaufstelle für viele Emigranten und Flüchtlinge. Zwar trat Lotte Schwarz in der Schweiz der Sozialdemokratischen Partei bei, ihre sozialistischen Ideale verlangten aber zeitlebens mehr, als die Reformpolitik ihrer Partei vorsah. Dies kommt in den zahlreichen Artikeln, Essays und Romanen zum Ausdruck, die sie verfasst hat. In ihnen thematisiert sie gesellschaftliche Entwicklungen und Probleme, die sie aus eigener Anschauung kannte. Sie reichen von der Arbeitssituation der Dienstmädchen, den Schwierigkeiten berufstätiger Frauen, über das fehlende Frauenstimmrecht, die Mühsal der Emigration bis hin zu Architekturthemen, die sie in der Folge ihrer Heirat mit dem Architekten Felix Schwarz beschäftigt haben. Im 1956 erschienenen 'Tagebuch mit einem Haus' schildert sie zwar vordergründig den Bau des eigenen Hauses in Brüttisellen, tatsächlich aber präsentiert sie mit dem Buch eine eigentliche Studie einer Schweizer Familie der fünfziger Jahre.
Gescheit, kreativ, grosszügig, humorvoll, menschlich – so wurde sie von ihren Freunden und Freundinnen erlebt. Zu diesen gehörten Schriftsteller wie François Bondy, Adrien Turel und Ignazio Silone, Künstler wie Hans Aeschbacher, Richard Paul Lohse und Ernst Scheidegger, politische Mitstreiter wie Robert Jungk, Anna Siemsen, Fritz und Paulette Brupbacher und viele mehr, von denen im Buch ebenfalls die Rede ist.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Prolog – Ein unpublizierter Roman und seine Folgen
I. Au fbrüche: Hamburg 1910–1934
Die Benetts aus Schwarzenbek
Politische Umbrüche – neue Perspektiven
Schul- und Jugendjahre
Dienstmädchenjahre
Bei den Guttemplern
In der Frauenarbeitsgemeinschaft
Im Reich der Bücher
Hinein in die Stadt und in die Krise
Bei der Kommunistischen Jugend
Mitglied der Roten Kämpfer
Gewaltsames Ende
II. Im Exil: Zürich 1934–1945
Unsichere Zuflucht, ungewisse Zukunft
'Intelligente Person gesucht'
Keine Liebesheirat
Pension Comi – Friedmanns rettende Insel
Ringen um eine politische Haltung
Sozialarchiv – ein Ort des Wissens und der Hilfe
Ein junger Mann betritt die Bühne
III. A lte Fragen neu gestellt: Brüttisellen 1945–1971
Der Anfang nach dem ersehnten Ende
Wiederaufbau
Tagebuch mit einem Haus
Kreativ mit Holz
Wider den Zeitgeist
Der lange Kampf für die Rechte der Frauen
Ein Salon in Brüttisellen
Schreiben bis zum Ende
Wie es das Dienstmädchen sieht
Die beiden Miniaturchefs waren ausgesprochen schlecht erzogen. Nicht nur, dass sie mich gar nicht wahrnahmen; gegen Menschen, die einem die Hosen bügeln und die Schuhe putzen, ist man sowieso immun. Sie konnten zusehen, wenn ich, den Arm voll Geschirr, mich abmühte, die Küchentür zu öffnen. Sie konnten drei Schritte hinter mir hergehen, wenn ich den Kübel auf die Strasse bringen musste, es rührte sie nicht, sie nahmen ihn mir nie ab. Sie lasen ihren 'Sport', waren immer fröhlich, und wenn sie mit einer fremden Dame am Telephon sprachen, konnten sie sich fast umbringen vor Höflichkeit.
(Schweizer Spiegel, 1939)
Meditationen über eine Bibliothek
26 Nationen passierten trotz geschlossenen Grenzen unsere Bibliothek. Es war die Zeit der Kohleknappheit und der Stromrationierung. Wegen einer Sonderbewilligung durften wir unseren grossen Ofen, der in der Mitte des Lesesaals stand, des Nachts mit billigem Strom speisen. Am Tage erwärmte er viele Menschen, und die Nachfrage nach sozialer Literatur stieg. Alle Begleiterscheinungen der Rationierung mit der notwendigen Zwischenverpflegung spielten sich dabei im Lesesaal ab. Besorgt schaute ich auf manche Thermosflasche, die lose und zufällig aus dem Labyrinth der Männertaschen ihren Kopf herausstreckte. Merkwürdigerweise gelang es immer diese Zwischenverpflegungen einzunehmen, ohne dass ich eingreifen konnte, das heisst, ich sah es nie. Immer wenn ich aus dem grossen Büchermagazin zurück kam, woher ich die gewünschten Bücher holen musste, […], hörte ich, gleich eiligen Mäusen, Papiergeknister und im Übrigen tadellose Ordnung. Ich musste oft darüber lachen – in diesem Herunterwürgen lag doch eine gewisse Referenz dem bildenden Ort gegenüber.
(Meditationen über eine Bibliothek, 1950)
Tagebuch mit einem Haus
'Der Übergang zur Bourgeoisie ist leider bei Ihnen nur allzu offenbar. Sie sind jetzt Hausbesitzerin geworden.'
Ich gab letztere Tatsache zu. Der Übergang zur Bourgeoisie war so arbeitsreich für mich gewesen, dass ich die Ereignisse ausserhalb unseres Hauses vernachlässigte. Zu den sozialistischen
Prophezeiungen gehört die Aussicht auf weniger Arbeit. Wir hatten aber ein Abkommen mit unserer Bank, wonach wir Arbeit statt Geld zu leisten hatten … oder es gäbe kein Haus.
'Arbeit adelt, wir wollen Bürger bleiben!' sagte mein Bruder immer, wenn er bei den langwierigen Erdarbeiten die Schaufel in die Hand nahm. So waren wir unser eigenes variables Kapital und verloren während der Bautätigkeit jede Freizügigkeit!
[…] Als der Beamte von der Gebäudeversicherung kam und unser Haus auf einen Versicherungswert von 68 000 Franken schätzte, war unser Besitz für mich zum ersten Mal in Geld ausgedrückt. Wird dieser Besitz unser Bewusstsein verändern?
Kleiner Besitz kann kleinlich machen. So ist die Veränderung vom Mieter zum Hausbesitzer ebenso segensreich wie gefahrvoll.





