E-Book, Deutsch, 496 Seiten
Ulitzkaja Ergebenst, euer Schurik
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25745-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 496 Seiten
ISBN: 978-3-446-25745-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gut aussehend, höflich und sanftmütig ist er, ein Traum von einem Mann. Alles tut er den Frauen zu Gefallen - und sie lieben ihn. Alle. Warum also Nein sagen? Zu Matilda, die ihn als Knaben verführte; zur hässlichen, dafür um so bemitleidenswerteren Alja; zu Lena, die er heiratet, weil sie ein uneheliches Kind erwartet; zu seiner gehbehinderten Chefin Valerija und zu all den anderen Frauen, die ihn brauchen. Ein wunderbarer Roman über die Liebe mit einem tragikomischen Helden, dem die wahre Liebe fehlt.
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1 Der Vater des Kindes, Alexander Sigismundowitsch Lewandowski, ein Mann von dämonischem, leicht verschlissenem Äußeren, mit gebogener Nase und unbändigen Locken, die zu färben er mit über fünfzig aufgegeben hatte, war sehr früh als künftiges musikalisches Genie gehandelt worden. Mit acht Jahren ging er, wie Mozart, auf Konzertreisen, doch als er sechzehn war, geriet das Ganze ins Stocken, als wäre sein Erfolgsstern am Himmel erloschen; junge Pianisten von solider, aber keineswegs außergewöhnlicher Begabung überrundeten ihn, und er, der das Kiewer Konservatorium mit Auszeichnung absolviert hatte, wurde nach und nach zum Begleitpianisten. Als solcher war er unglaublich einfühlsam, präzise, ja einzigartig, er begleitete erstklassige Geiger und Cellisten, die sich sogar um ihn stritten. Aber sein Name stand eben immer in der zweiten Zeile. Auf Plakaten kam er bestenfalls als »Klavierbegleitung« vor, schlimmstenfalls nur mit zwei Buchstaben: »Kl.« Dieses »Kl.« war sein ganzes Unglück, ein ewiger Stachel in seiner Leber. In der Antike glaubte man, die Leber sei das Organ, das durch Neid am meisten leide. Natürlich glaubt niemand mehr an diese hippokratischen Albernheiten, doch Lewandowskis Leber neigte in der Tat zu Anfällen. Er hielt Diät, wurde von Zeit zu Zeit gelb, kränkelte und litt sehr. Er lernte Vera Korn im besten Jahr ihres Lebens kennen. Sie war soeben ins Theaterstudio von Taïrow aufgenommen worden, hatte noch nicht den Ruf der schwächsten Studentin erworben, genoß den interessanten, vielseitigen Unterricht und träumte von einer großen Rolle. Es waren die Jahre vor dem Niedergang des Kammertheaters. Der Landesvater und oberste Theatertheoretiker des Landes hatte das Theater noch nicht als »durch und durch bürgerlich« gebrandmarkt – das tat er erst einige Jahre später –, noch herrschte Alissa Koonen, und Taïrow erlaubte sich so »durch und durch bürgerliche« Streiche wie die Inszenierung der »Ägyptischen Nächte«. Im Theater wurde Neujahr traditionell nach dem alten Kalender begangen, und zu den zahlreichen Vergnügungen, mit denen die erfinderischen Schauspieler sich im Januar 1935 diese lange Nacht vertrieben, gehörte ein Wettbewerb um das schönste Bein. Die Schauspielerinnen verschwanden hinterm Vorhang, dann hob jede ihn ein Stück an und demonstrierte keusch ihr namenloses Bein vom Knie bis zu den Zehenspitzen. Die achtzehnjährige Vera drehte ihre Wade so, daß die akkurat gestopfte Stelle auf der Ferse nicht zu sehen war, und fiel fast in Ohnmacht von den süßen, prickelnden Gefühlen, als sie energisch hinterm Vorhang vorgezogen wurde und man ihr eine Schürze umband, auf der in großen silbernen Lettern stand: »Ich habe das reizendste Bein der Welt«. Außerdem wurde ihr ein in den Theaterwerkstätten eigens angefertigter Pappschuh voller Konfekt überreicht. Das alles wanderte in die unterste Schublade des Sekretärs ihrer Mutter Jelisaweta Iwanowna, die erstaunlich empfänglich war für den Erfolg ihrer Tochter auf einem Gebiet, das ihrer eigenen Vorstellung nach jenseits des Anstands lag – wo es, einschließlich der versteinerten Pralinen, jahrzehntelang ruhen sollte. Lewandowski, der aus Petersburg zu einem Gastspiel in Moskau weilte, war von Taïrow persönlich eingeladen worden. Der aristokratische Gast wich Vera den ganzen Abend nicht von der Seite und beeindruckte sie zutiefst, und als der Ball vorbei war, verstaute er ihren prämierten Fuß eigenhändig in ihrem weißen Filzschuh – einer mit einem hohen Absatz versehenen kühnen Variation des russischen Filzstiefels – und brachte sie nach Hause in die KamergerskiGasse. Es war noch dunkel, träge fiel künstlich anmutender Schnee, die Straßenlaternen warfen gelbes Theaterlicht, und Vera fühlte sich wie eine Debütantin auf einer riesigen Bühne. Mit einer Hand hielt sie ihre in Zeitungspapier gewickelten Ausgehschuhe Größe fünfunddreißig an sich gepreßt, die andere ruhte selig auf Lewandowskis Arm, und er rezitierte ihr altmodische Gedichte eines in Ungnade gefallenen Dichters. Noch am selben Tag fuhr er wieder in sein Leningrad und ließ Vera in völliger Verwirrung zurück. Er versprach, bald wiederzukommen. Doch Woche um Woche verging, und von Veras Herzenssehnsucht blieb nur ein bitterer Nachgeschmack. Veras berufliche Erfolge waren gering, zudem hegte die Ballettmeisterin, die modernen Ausdruckstanz im Geiste von Isadora Duncan unterrichtete, eine heftige Abneigung gegen sie, nannte sie nur noch »reizendes Bein« und ließ ihr nicht den kleinsten Fehler durchgehen. Die arme Vera wischte sich die Tränen mit dem Zipfel eines altgriechischen Chitons aus der Textilfabrik Iwanowo ab und plagte sich mit dem Takt der ekstatischen Skrjabinschen Rhythmen, zu denen die Studentinnen trainierten, indem sie energisch Fäuste und Knie emporschleuderten, um die unergründliche Seele der rebellischen Klänge in Bilder zu übersetzen. An einem der schlimmsten Tage dieses Frühlings wurde Vera am Bühneneingang von Lewandowski abgeholt. Er war für zwei Wochen nach Moskau gekommen, um mehrere Konzerte mit einem exzellenten, weltberühmten Geiger aufzunehmen. In gewissem Sinne war dies die Sternstunde seines Lebens: Der Geiger, ein Musiker der alten Schule, brachte Lewandowski betonten Respekt entgegen und erinnerte sich sogar an dessen Ruhm aus Kindheitstagen. Die Aufnahmen liefen großartig. Zum erstenmal seit Jahren konnte das verletzte Selbstwertgefühl des Pianisten aufatmen, sich entspannen und entfalten. Das reizende Mädchen mit den schillernden graublauen Augen erbebte allein von seiner Gegenwart – so nährte eine Inspiration die andere. Die junge Vera, die das ganze Studienjahr lang fleißig die Taïrowschen »emotional aufgeladenen Formen« studiert hatte, verlor in diesem Frühjahr endgültig das Gefühl für die Grenze zwischen Leben und Theater, die »vierte Wand« fiel, und fortan spielte sie das Stück ihres eigenen Lebens. Getreu den Ideen des hochverehrten Lehrers, der von seinen Schauspielern Universalität verlangte – vom Mysterienspiel bis zur Operette, wie er selbst sagte –, gab Vera für den gerührten Lewandowski die pathetische Naive. Dank der gemeinsamen Bemühungen von Natur und Kunst entwickelte sich eine berauschende Affäre: Nächtliche Spaziergänge, intime Essen in den Séparées der renommiertesten Restaurants, Rosen, Champagner, heiße Zärtlichkeiten, die beiden Genuß bereiteten – vielleicht sogar mehr Genuß als das, was in der letzten Moskauer Nacht vor Lewandowskis Abreise geschah, als Vera endgültig vor den überlegenen Kräften des Gegners kapitulierte. Der glückliche Sieger reiste ab und hinterließ Vera in einem süßen Nebel frischer Erinnerungen, aus denen sich allmählich das wahre Bild ihrer Zukunft herausschälte. Er hatte ihr bereits das ganze Elend seiner Ehe gebeichtet: die psychisch kranke Frau, die kleine Tochter mit einem Geburtstrauma, die herrische Schwiegermutter mit dem Wesen eines Feldwebels. Nie, niemals würde er diese Familie verlassen können. Vera war starr vor Entzücken: Wie edel er war! Sie wollte ihm unverzüglich ihr Leben opfern. Selbst wenn auf lange Trennungen nur kurze Begegnungen folgten, selbst wenn nur ein kleiner Teil seiner Gefühle, seiner Zeit, seiner Persönlichkeit ihr gehörten – der, den er selbst ihr zu widmen wünschte. Allerdings war dies eine andere Rolle – nicht mehr die des verwandelten Aschenputtels, das auf gläsernen Absätzen im Licht dekorativer Lampen munter durch die nächtlichen Straßen klappert, sondern die der heimlichen Geliebten, die tief im Schatten steht. Anfangs dünkte sie sich bereit, diese Rolle bis ans Ende des Lebens zu spielen, ihres oder seines Lebens: ein paar langersehnte Begegnungen im Jahr, dazwischen finstere Löcher und gleichförmige sehnsüchtige Briefe. So ging es drei Jahre, und Veras Leben bekam den Beigeschmack von ödem weiblichem Unglück. Ihre Schauspielkarriere endete, noch ehe sie recht begonnen hatte – man bat sie zu gehen. Sie verließ das Ensemble, blieb aber im Theater, als Sekretärin. Im selben Jahr, neunzehnhundertachtunddreißig, unternahm sie auch den ersten Versuch, sich aus der zermürbenden Liebesbeziehung zu befreien. Lewandowski akzeptierte ihren Willen ergeben, küßte ihr die Hand und entschwand in sein Leningrad. Doch Vera hielt keine zwei Monate durch, bat ihn zu kommen, und alles begann von vorn. Sie wurde immer dünner und, wie ihre Freundinnen meinten, häßlicher. Es zeigten sich die ersten Symptome ihrer Krankheit: Ihre Augen bekamen einen metallischen Glanz, mitunter saß ihr ein dicker Kloß im Hals, die Nerven gingen mit ihr durch, und selbst ihre Mutter begann Veras hysterische Anfälle ein wenig zu fürchten. Es vergingen weitere drei Jahre. Teils auf Betreiben ihrer Mutter, teils aus dem Wunsch heraus, ihr, wie sie es nun sah, verpfuschtes Leben zu ändern, brach Vera erneut mit Lewandowski. Auch ihn zermürbte diese schwierige Affäre, er hätte sich nur nicht als erster zur Trennung entschlossen: Seine Liebe zu Vera war wirklich aufrichtig, ja erhaben – jedesmal, wenn er in Moskau war. Veras leidenschaftliche, affektierte Verliebtheit war Balsam für seine Seele. Diesmal schien die Trennung zu gelingen: Der ausbrechende Krieg brachte sie für geraume Zeit auseinander. Zu der Zeit hatte Vera ihre triste Stelle als Sekretärin bereits verloren und den bescheidenen Beruf einer Buchhalterin erlernt, lief aber dauernd zu den Proben und probierte insgeheim so manche Rolle aus – besonders angetan hatte es ihr die der Madame Bovary. Ach, wenn Alissa Koonen nicht gewesen wäre! Damals glaubte sie, es könne sich noch alles wenden, eines Tages würde sie es sein, die in einem mit drei Rosenbuketts geschmückten Barègekleid auf der Bühne stehen und mit einem...