E-Book, Deutsch, 190 Seiten
Ury Lilli Liliput
1. Auflage 2021
ISBN: 978-87-26-88373-2
Verlag: SAGA Egmont
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 190 Seiten
ISBN: 978-87-26-88373-2
Verlag: SAGA Egmont
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Else Ury (1877-1943) war eine jüdische und deutsche Kinderbuchautorin. Sie gilt als eine der bedeutendsten Kinderbuchautoren ihrer Zeit. Sie wurde als Tochter eines Berliner Tabakfabrikanten geboren. Else Ury besuchte eine Privatschule, dessen Unterrichtsschwerpunkt auf Fächern wie Handarbeiten, englische und französische Konversation lag. Nach ihrem Schulabschluss begann sie zu schreiben. Sie schrieb vor allem Bücher, die sich an Mädchen richteten und in denen sie größtenteils ein traditionell, bürgerliches Familien- und Frauenbild vertrat.
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Liliputchen
Als Lilli Steffen das Licht der Welt erblickte, war sie nicht viel kleiner, als es im allgemeinen neugeborene junge Damen zu sein pflegen. Gegen ihren um drei ganze Stunden jüngeren Bruder Ludwig allerdings, der als Riesenkind seinen Einzug in das weinumrankte Lehrerhäuschen hielt, sah unsere Lilli wie ein Püppchen aus.
»Der Junge könnte der Vater von dem kleinen Wurm sein,« sagte Doktor Ernst Steffen und wiegte lachend in jedem Arm ein quakendes Bündel.
Frau Mieze aber lächelte.
»Mach mir mein kleines Mädchen nicht schlecht, Ernst! Das wird schon sein Recht in der Welt zu behaupten wissen.«
Als ob Klein-Lilli der Mutter Verteidigungsrede verstanden hätte, begann sie im selben Augenblick mit erhobener Stimme zu schreien, so laut und kräftig, daß man es dem zarten Dinge gar nicht zutraute.
Und so blieb es: Lilli hatte die erste Stimme im Hause! Während das Brüderchen still am Daumen lutschte und den größten Teil seines ersten Lebensjahres verschlief, zeigte sich Lilli als ein aufgewecktes, munteres Dingelchen, das bald laut krähte und jauchzte.
Selten waren Zwillinge so verschieden. Wenn Frau Mieze mit ihrem weißen Kinderwagen durch die Villenstraße des Berliner Vorortes fuhr, blieben oft die Vorübergehenden stehen, um sich am Anblick der reizenden Kinder zu freuen. Aber niemand wollte glauben, daß die beiden Zwillinge seien.
Geruhte der Junge ausnahmsweise mal seine Augen aufzumachen, so schien es zweifelhaft, welches das schönere von beiden Kindern sei. Brüderchen war ein rosiger Pausback mit tiefblauen Augen und seidenweichen dunklen Haaren; das Schwesterchen dagegen hatte ein zartes Gesicht, von goldenen Löckchen umrahmt. Wen Klein-Lilli aus ihren braunen Schelmenaugen anlachte, der mußte ihr gut sein.
Noch bevor das Pärchen den ersten Geburtstag feierte, tappelte das kleine Mädchen, in seinem lichten Kleid wie ein weißer Punkt anzuschauen, durch Haus und Garten, während die dicken Beine des Bruders noch lange das Gehen für zu anstrengend hielten.
Auch beim Sprechen bewies Lilli, daß sie die Ältere war. Papa – Mama – Lulu – eine Welt von Zärtlichkeit wußte die Kleine in die drei ersten Worte ihrer Sprechkunst zu legen. Besonders das Wort »Lulu« – so nannte sie ihr Zwillingsbrüderchen – plapperte sie von morgens bis abends, und bald wurde der Kleine allgemein mit diesem Namen gerufen.
Lilli und Lulu liebten sich abgöttisch. Darin zeigten sie, trotz ihrer äußerlichen Verschiedenheit, daß sie echte Zwillinge waren. Sobald Klein-Lilli auf eigenen Füßen in die Welt hineinmarschierte, fühlte sie eine Art mütterliche Sorge und Verantwortung für den unbeholfenen Bruder. Jeden Zwieback, den sie bekam, hielt sie zuerst ihrem Lulu hin; jedes Spielzeug, nach dem er das dicke Patschhändchen ausstreckte, überließ sie ihm großmütig.
»Unsere Lilli ist viel zu gut zu dem Jungen,« sagte die Mutter oft, ihre Zwillinge beobachtend. »Wenn der Lulu erst merkt, daß er der bei weitem stärkere ist, wird er die Kleine für all ihre Liebe oft genug verhauen.«
Mit dieser Weissagung behielt aber die Mutter nicht recht. Die Kinder vertrugen sich großartig. Lulu liebte seine Lilli fast mehr als die Eltern. Ja, als der Vater eines Tages der Kleinen, die schon früh ihr Köpfchen für sich hatte, einen Klaps gab, um ihren Eigenwillen zu brechen, schlug der noch nicht zweijährige Lulu, als getreuer Ritter seiner Lilli, sogar nach dem Vater. Da bekam auch Lulu sein Teil ab, und nun heulten sie im Duett.
An der Hand Lillis, die selbst noch ein wenig unsicher auf ihren Beinen einhertorkelte, machte Lulu seine ersten Gehversuche, bis sie schließlich alle beide auf dem Näschen lagen.
»Puttchen« nannten die Eltern das winzige Dingelchen, das wie ein Sonnenstrahl durch das Haus tanzte, überall Lachen und Frohsinn verbreitend.
»Putt« rief auch Lulu, als er sich endlich zum Sprechen bequemte, und wenn sie darauf noch nicht hörte: »Lilli-Putt«.
Vater saß an seinem Schreibtisch und verbesserte lateinische Hefte, als der Name »Liliput« zum erstenmal von den Lippen seines Sprößlings durch das Haus flog. Lachend sprang er auf und eilte zur Mutter.
»Mieze, Frau, hast du gehört, wie der Junge eben die Kleine rief? Liliput – eine treffendere Bezeichnung gibt es nicht für sie. Da« – er hielt das kleine jauchzende Ding in die Höhe – »schaut sie mit ihren zierlichen Gliedern nicht aus, als ob sie wirklich dem Lande Liliput entstammte?«
»Mein Liliputchen!« Die Mutter fing kosend das nach ihr angelnde Töchterchen auf.
»Liliput!« rief Lulu noch einmal und hing sich eifersüchtig an das Kleid der Kleinen.
Das war der entscheidende Augenblick in Lillis Leben. Von diesem Tage an hatte sie ihren Beinamen, der ihr später im Lauf der Jahre noch so manche Träne auspressen sollte.
Liliputchen! Vater und Mutter riefen sie von nun an so. Großmama bemächtigte sich voll Zärtlichkeit dieser Koseform. Die Onkel und Tanten nahmen sie an, die Freunde des Hauses, ja, auch die Dienstboten. Kein Name hätte besser für die kleine Lilli gepaßt.
Die Jahre vergingen. Liliputchen ritt auf Lulus Schaukelpferd, und Lulu schob den Puppenwagen des Schwesterchens. Dann kam ein Morgen, an dem das Zwillingspärchen Hand in Hand, die Schulmappe auf dem Rücken, voll ungeheurem Stolz neben dem Vater hertrabte – der erste Schultag! Mutter schaute ihren Kleinen mit schwimmenden Augen nach. Wie sie lachend und glücklich in das neue Leben hineinsprangen, ohne eine Ahnung, daß sich mit diesem Tage das eigentliche Kindheitsparadies, das Reich des unbewußten, sorglosen Spieles, hinter ihnen schloß! Ja, jetzt kam auch für ihre Zwillinge der Ernst und die Pflicht.
Mutter mußte unter Tränen lächeln. Was sie da gerade vor sich sah, war noch recht weit entfernt von Ernst. Liliputchen, deren Schulmappe fast größer erschien als sie selbst, versuchte Lulu, dem sie gerade bis zur Schulter reichte, das Gesicht mit ihrem heraushängenden Tafelschwamm zu waschen. Jetzt schien Vater Einspruch zu erheben – nun bogen sie um die Ecke – das letzte Zipfelchen von Lillis rotem Mantel grüßte noch einmal, ehe es dem Mutterauge entschwand.
Frau Mieze ging wieder an die Arbeit, aber ihre Gedanken wandelten mit ihren beiden Kleinen ins fremde Leben hinein. Und als von der nahegelegenen Station der Pfiff des Zuges herüberschrillte, der ihre Lieblinge jetzt täglich in das große Berlin zur Schule bringen sollte, drängte sich doch wieder eine fürwitzige Träne ihr ins Auge. Aber sie wurde entschlossen fortgewischt.
Die Zeitenspule schnurrte unentwegt weiter. Aus den kleinen Abcschützen wurden ein eifriges Schulmädel mit langen blonden Zöpfen und ein tüchtiger Lateiner.
Freilich, die Blondzöpfe waren, wie Vater lachend zu sagen pflegte, das Längste an seinem Liliputchen. Sie hingen der jungen Besitzerin weit über den Rücken herab, und da sie sich niemals im Ruhezustand, sondern immer in hüpfender Gangart befand, hopsten die langen Zöpfe stets mit ihr um die Wette. Es war, als ob alles Wachstum in Lillis Blondhaar hineingegangen wäre.
Während Lulu ein großer schlanker Junge wurde, beim Turnen der Anführer seiner Riege, bildete Lilli stets den Schwanz der Turnschlange in ihrer Schule. Sogar als sie ein Halbjahr lang mit der unteren Abteilung zusammen turnte, mußte sie die schmerzliche Erfahrung machen, selbst da noch die Letzte zu sein.
Dafür war sie aber in den anderen Stunden allen voran. Durch sämtliche Klassen war sie die Erste. Keine war so lernbegierig, aufmerksam und fleißig wie Lilli Liliput.
Ja, das war der einzige dunkle Punkt in der Schule: sie wurde auch dort Lilli Liliput genannt! Wer es zuerst aufbrachte, ob eine Schulfreundin, die den Namen in Lillis Elternhaus gehört hatte, oder ob eine der Lehrerinnen auf die sehr naheliegende Bezeichnung für das zierliche Persönchen kam, war später nicht mehr festzustellen.
Gleich in der untersten Klasse riefen die Lehrerinnen das winzige Ding, das noch viel zu klein für den Schulbesuch erschien, Lilli Liliput, und dies Wort folgte ihm getreulich durch alle Klassen.
Solange die Kleine noch nicht in die Schule ging, hatte sie ihren Namen Liliputchen als etwas Selbstverständliches hingenommen. Im Gegenteil, wenn Vater oder Mutter sie mal ausnahmsweise »Lilli« riefen, wurde es ihr unbehaglich zumute. Das war ein sicheres Zeichen dafür, daß sie irgend etwas auf dem Kerbholz hatte.
Aber in der Schule – nein – dort wollte sie nicht kleiner sein als die übrigen Kinder! Wie sie geistig beim Lernen alle überflügelte, so hätte sie es auch gern körperlich getan. Aber da half nichts, weder das stundenlange Hängen an den Schaukelringen, bis sie Blasen an den...