E-Book, Deutsch, Band 1, 240 Seiten
Reihe: Ein Hartmut-und-ich-Roman
Uschmann Hartmut und ich
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-10-400077-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 1, 240 Seiten
Reihe: Ein Hartmut-und-ich-Roman
ISBN: 978-3-10-400077-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Oliver Uschmann wurde geboren, als seine Eltern es für angebracht hielten und wuchs in Wesel am Niederrhein auf. In Bochum studierte er Literatur und in Berlin das Leben. Mit seiner Frau Sylvia Witt veröffentlicht er Jugendromane, Erwachsenenromane sowie lustige und ernste Sachbücher. Ihre bekannte Romanserie 'Hartmut und ich' haben die beiden als 'Hui-Welt' im Internet sowie 2010 als bewohnbare Ausstellung namens 'Ab ins Buch!' aufgebaut. Auf der Videospielkonsole stellt sich Oliver Uschmann regelmäßig den schwersten Gegnern. Zu seinen Hobbies außerhalb des Hauses gehören das Barfußlaufen und das Guerilla-Gärtnern. Außerdem begrüßt er jedes natürliche Gewässer, indem er vollständig seinen Schädel hineinsteckt. Uschmann lebt mit seiner Frau sowie zwei Katern auf einem Dorf im Münsterland. Literaturpreise: Förderpreis NRW 2008
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EINZUG
»Tja«, sagt unser Vermieter und sitzt auf dem Bierkasten in der Ecke wie ein Teilnehmer an einer Referatsgruppe, der zur Gruppenarbeit aber auch gar nichts beizutragen hat. Er zuckt mit den Schultern, die Flaschen aus dem Kasten bohren ihm in den Hintern. Seine Frau sitzt am Küchentisch und hat ihr spitzes Gesicht über die Kaffeetasse gebeugt. Sie seufzt, hebt schwer ihren kleinen Kopf, guckt wie ein getretener Hund und sieht uns unter der losen Glühbirne über dem Tisch an. »Sie sind dann also die neuen Mieter.« Ich weiß nicht, ob dieser Satz bedeutet, dass es schlimmer als mit den alten nicht werden kann, oder ob sie sich vor der Zukunft fürchtet. So oder so: Eigentlich sind wir es, die sich fürchten müssten. Das Haus, in das wir einziehen, steht schief, weil vor einigen Jahren eine alte Leitung aus Kriegszeiten unter der Erde gebrochen ist, Risse ziehen sich durch die Außenwände, und der Keller ist eine Ansammlung verdreckter und zugestellter Räume, die niemandem mehr gehören und die wir mit den Vermietern vor einigen Tagen eilig und gebückt durchhasteten. Hinten am Haus klebt eine Scheune, die mit Relikten so vieler Menschen voll gestellt ist, dass es scheint, als dürfe jeder Bewohner des Stadtteils hier seinen Schutt abladen.
Seit einer Woche sind Hartmut und ich jetzt in dieser Wohnung, die sich wie ein U um den Hausflur zieht und mit ihren mächtigen 120 Quadratmeter für läppische 400 Euro das ganze Erdgeschoss einnimmt. Tagtäglich haben wir gebaut und gestrichen, geräumt und montiert. Jeden Abend sind wir zum Gasthof gegenüber, der vorne raus eine brillante Frittenbude hat, in der tätowierte jugoslawische Kriegsveteranen die Würstchen drehen. Dann haben wir uns im Wohnzimmer auf Matratzen vor den kleinen Fernseher gesetzt und billige Kabel-1-Reportagen geguckt. Der Ketchup suppte auf den Boden, das Werkzeug lag überall verstreut. Wir hatten Feierabend.
»Keine Sorge, Sie sehen ja, wir kümmern uns gut um das Schätzchen«, sagt Hartmut jetzt und ringt der Vermieterin ein gequältes Lächeln ab. Ich glaube, sie hat gar keine Angst, dass wir ihr die Wohnung versauen, sondern ist vielmehr verzweifelt darüber, dass sich überhaupt wieder neue Mieter gefunden haben und sie dieses Haus nicht endlich loswerden können. Hans-Dieter hatte uns bei der Montage der Telefonanlage so etwas erzählt, von wegen, dass sie »dieses Dreckserbe« im Grunde am liebsten abreißen würden, dann aber doch immer wieder Mieter reinlassen, weil die Mutter sonst ausrastet oder so was. Hans-Dieter ist Informatiker und unser Nachbar aus dem kleinen Anbau hinter der Scheune, einem flachen, langen Schlauch mit vergitterten Fenstern, niedrigen Decken und einer Katze. Hinten raus, noch hinter Hans-Dieter, gibt es einen Garten, 350 Quadratmeter, von denen man nur 30 sieht, weil der Rest zugewachsen ist, es ist wie ein Freigehege, es sollen schon Füchse gesichtet worden sein.
Die Vermieterin seufzt wieder, und ihr winziger Mann grinst auf dem Bierkasten dieses blödsinnige, knopfäugige Grinsen, von dem man nicht weiß, ob er sich damit für sich, seine Frau, das Haus oder die ganze westliche Welt entschuldigt.
»Und der Vertrag?«, frage ich, eine Tasse in der Hand und das Weiterbauen an meiner handgefertigten Buchablage neben der Wanne im Kopf.
»Der Vertrag?«, flüstert die Vermieterin, als hätte ich sie unter der Glühbirne nach einem Alibi für eine Mordnacht im Herbst 1974 gefragt. »Den haben wir leider vergessen mitzubringen«, sagt ihr kleiner Mann auf den Bierflaschen, »wir hatten keine Vordrucke mehr, und wir müssen da mal gucken … wir werfen den einfach mal die Tage in den Briefkasten, dann brauchen wir nicht zu klingeln und stören Sie nicht. Sie können den ja dann irgendwann mal zurückschicken.«
Ich glaube nicht, dass wir den Vertrag in den nächsten Tagen kriegen werden. Hans-Dieter hat einen, hat er uns gesagt. Kirsten, die Polizistin über uns, die eine wackelige Terrasse über der Scheune gebaut hat, auch. Aber die beiden wohnen auch schon seit zehn Jahren hier, da findet sich schon mal ein Vertrag. Das Gothic-Pärchen unterm Dach hat keinen, seit es vor zwei Jahren eingezogen ist. In ihrer Küche merkt man, wie schief das Haus steht, sie haben extra eine Murmel da, um zu demonstrieren, welches Gefälle ihr Boden hat. Wir haben sie wie alle Nachbarn bei unserer Vorstellungsrunde durchs Haus kennen gelernt: Schüchtern waren wir die quietschenden Treppen hinaufgeklettert, eine Flasche Wein und eines dieser bebilderten Bücher mit erbaulichen Sprüchen von Hermann Hesse bis Konfuzius in der Hand. Ich hielt es ja für übertrieben, fremden Menschen zur Vorstellung als neue Nachbarn eines dieser weisen kleinen Geschenkbüchlein mitzubringen, aber Hartmut hatte für alle Nachbarn ein Exemplar gekauft, mit Rabatt.
»Ja, also, was sagt man an so einer Stelle?«, fragt jetzt unsere Vermieterin und lacht so halb ironisch, den Blick abwesend auf den Karton mit Playstation-Spielen gerichtet, die ich noch ins Wohnzimmerregal sortieren muss. »Haben Sie halt Spaß mit der Wohnung und schauen Sie, dass alles vernünftig bleibt.« Während sie das sagt, lacht sie unterschwellig, als wüsste sie, dass sie gerade Unsinn redet und selbst jedes zufällige Abrutschen mit dem Bohrer dieses Haus nur verbessern kann. »Ja!«, sagt jetzt der kleine Mann und steht schwungvoll von dem Bierkasten auf, auf dem er trotz freier Stühle die ganze Zeit gehockt hat. Sein zum Aufbruch animierendes Grinsen wird von einem kurzen Zusammenkneifen der Augen getrübt, da sich beim Aufstehen die Flaschenköpfe stärker in seinen Hintern drücken, doch als er sich wieder gefangen hat, zieht er seine kraftlose Frau sanft aus dem Stuhl und schiebt sie in den Flur. Gelbes Licht fällt aus dem Bad auf unsere Verabschiedung, ich schiele zu meinem Badewannen-Anbau-Projekt und freue mich aufs Weiterbasteln. Als die Vermieter durch den Hausflur verschwinden, sehen Hartmut und ich uns an und schütteln lachend die Köpfe.
Zwei Stunden später ist es so weit. Die Ablage ist fertig, ich habe Kerzen, zwei Romane, drei Comics, Wein und Plätzchen darauf positioniert und gleite in das heiße, gut duftende Wasser. Man muss ein wenig klettern, um in diese Wanne zu kommen, sie ist außerordentlich hoch gebaut, ich throne in ihr wie der König des Hauses. Ich denke an mein Leben, als ich bis zur Nasenspitze in der Wärme versinke, und muss lächeln. Die Außenstelle Herne hat mich angenommen, wir haben diese Riesen-WG für kleines Geld, ich liege in einer herrlichen Wanne, die Playstation im Wohnzimmer ist angeschlossen und die 350 Spiele sind ins Regal sortiert. Ich kann zufrieden sein. Kaum habe ich ein paar Mal tief und entspannend geatmet und will gerade zur Flasche greifen, als die Tür aufspringt und Hartmut vor mir steht. Das Bad ist bei uns ein Durchgangsraum, und Hartmuts Zimmer schließt direkt daran an. Zwar hat Hartmut einen eigenen Ausgang nach draußen sowie eine Tür in den Hausflur durch den Lagerraum hinter seinem Zimmer, aber durchs Bad sind es nur ein paar Schritte zum Flur und in den Ostflügel, wo Küche, Wohnzimmer und ich residieren. »Das glaubst du nicht!«, sagt er und sieht mich mit großen Augen an. Ich seufze und lasse langsam das Heft sinken. Es plätschert.
»Was?«
»Das musst du sehen!«
»Hartmut, ich bade gerade!«
»Aber nicht mehr lange, wenn wir Pech haben!«
Ich stutze. Ist Hartmut wirklich panisch oder tut er nur so?
»Schnell, schnell, komm, du musst dir das ansehen!«
Ich steige aus der Wanne, ziehe mir meinen Bademantel über und folge Hartmut in den Flur, als der plötzlich die Wohnungstür öffnet. »In den Keller, wir müssen in den Keller!«, sagt er hastig und zieht mich hinter sich her, um mich im Bademantel in den Keller zu führen. Die alten, schmalen Treppenstufen knirschen. Ich tropfe. Weberknechtleichen bleiben in meinen nassen Haaren hängen. Ich bete für Hartmut, dass er einen guten Grund hat, mich aus meinem ersten Bad in der neuen Wohnung zu reißen.
Er hat ihn.
Hartmut richtet den Spot seiner Taschenlampe auf eine Bombe.
Kaum erkennbar, zwischen alten Autoteilen, zerbeulten Blechwannen und verrostetem Schrott eingeklemmt, streckt sie uns ihre freche stählerne Rundung entgegen. Wir erkennen so was, da wir eine Menge Trash-Reportagen über Bombenentschärfer gesehen haben.
Eine Bombe.
Ich stehe im Bademantel, mit Weberknechtleichen in den Haaren im Keller meiner neuen Behausung und starre auf eine Bombe. Oben wartet warmes, nach Eukalyptus, Lavendel und blauer Lagune duftendes Badewasser auf mich, und hier unten liegt eine alte Bombe aus einem Weltkrieg.
»Was machen wir jetzt?«, frage ich, doch Hartmut hat schon einen Monolog begonnen.
»Das kann doch nicht sein, dass das noch keiner gesehen hat. Haben die denn alle noch nie in diese Räume geguckt? Benutzen die denn alle nur die Scheune als Abstellraum?« Ich sehe Hartmut an, wie wir hier gekrümmt in einem Keller stehen, dessen Decken nicht mal genug Platz zum Aufrechtgehen lassen und dessen Flure wie grob in die Erde gehauene Stollen wirken. Hartmut nickt. »Ja, gut, aber selbst wenn niemand hier den Keller betritt, ich meine, also … ja Herrschaftszeiten, wir wohnen auf einer Bombe!!!«
Es klingt fast komisch, wie theatralisch er das sagt. Als müsse er mir etwas weidlich Empörendes mitteilen, dessen Tragweite nur er erkennen kann. Ich frage noch mal: »Was machen wir jetzt?«
»Na anrufen!«, sagt Hartmut.
»Anrufen«, bestätige ich nachdenklich.
Am nächsten Morgen ist die Nachbarschaft abgeriegelt, und selbst die tätowierten Kriegsveteranen aus der Frittenbude haben sich überreden...