E-Book, Deutsch, Band 5, 352 Seiten
Reihe: Türkische Bibliothek
Uyurkulak Zorn
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-293-30564-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman. Türkische Bibliothek
E-Book, Deutsch, Band 5, 352 Seiten
Reihe: Türkische Bibliothek
ISBN: 978-3-293-30564-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein alter Kämpfer, mit Beinamen »der Dichter«, und ein junger Enthusiast reisen zufällig im selben Zugabteil nach Diyarbakir, trinken, rauchen Hasch, reden, bis »der Dichter« auf einmal dem jungen Mann ein Konvolut mit Manuskripten in die Hand drückt und sagt: »Los, lies!« Die lose miteinander verwobenen Erzählungen, Beschreibungen und Gespräche handeln, wie der junge Mann bald feststellt, von seinem Vater, den er nie kennengelernt hat. Gleichzeitig wird damit die Geschichte einer ganzen Generation erzählt, die die Hoffnung auf eine Revolution nie aufgegeben hat.
Dieses Erstlingswerk ist eine literarische Sensation und sorgte bei seinem Erscheinen für Furore, weil der Roman auf hohem sprachlichen Niveau sämtliche Tabus bricht. Gleichzeitig hat der junge Autor mit Zorn die inoffizielle Geschichte der Türkei seit den Fünfzigerjahren bis heute geschrieben.
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1
Die Revolution war einst eine Wahrscheinlichkeit, und sie war sehr schön. Ich erinnere mich an barfüßige Kinder, die alte Paläste beäugten. An sonnenverbrannte Männer, die breite Straßen auf und ab gingen, an finster blickende Frauen, die Brombeeren aßen, an Menschen mit eingefallenen Wangen, die harte Reden führten. Meine Mutter hatte ein loses Maul. Wenn sie es aufriss in ihrem narbenübersäten, einer zerknautschten Wunde gleichen Gesicht, das wohl nur ich furchtlos anschauen konnte, dann sagte sie immer wieder dasselbe: »Die haben uns gefickt. Und unsere Kinder werden sie auch ficken. Egal, was sie an Geschichte, Gebeten, Waffen und Ruhm auch haben, sie werden alles auf uns runterkotzen.« Sie war ein bisschen verrückt, meine Mutter. Als ich in die Grundschule kam, brachte sie sich um. Auch ein vaterloser Yusuf bin ich. An dem Morgen, als ich den Sicherheitsrat mit eigenen Augen sah, war ich ein braves, altkluges Kind. Ich hatte wieder ins Bett gemacht. Beschämende Kühle weckte mich auf. Ich schob den Vorhang zurück und sah auf den schmächtigen Soldaten hinab, der vor dem Tor des Kinderheims Wache schob. Wie hätte ich ahnen sollen, dass sich in der Uniform dieses Soldaten schon damals ein kakifarbenes Messer zu wetzen begann, das mein ganzes Leben von oben bis unten aufschlitzen würde? Der Pinkelgeruch war angenehm und Kaki eine seltsame Farbe. Ich habe nie etwas ausgelebt, nie richtig meinen Hunger gestillt, nie richtig losgeschrien, nichts richtig berührt. Das Messer hat sich wie ein entsetzliches Flüstern in meine Seele geschraubt und mich genau in der Mitte gespalten. Ein Leben habe ich meiner Seele nie bieten können. Und doch bin ich vor jenem Morgen noch ein Yusuf mit heiler Seele gewesen. Jahre später war ich irgendwie immer noch Yusuf. Ich dachte viel nach, verlor mich völlig in meinen Gedanken. Man fragte mich andauernd, woran ich denn denke. An irgendjemanden, irgendwas, irgendeinen Ort, sagte ich dann, aber damit gaben sie sich nie zufrieden. Wie ausgehungerte Hunde fragten sie weiter: An wen, an was, an welchen Ort? Wenn ich gesagt hätte, an meine Schulden, hätten sie mir nicht geglaubt. Meine Schulden befremdeten sie. Jahraus, jahrein trug ich die gleichen Schuhe, das gleiche Hemd, die gleiche Jacke. Kein einziges Mal bestellte ich mir irgendwo Tee, das Magenknurren am Mittag unterdrückte ich mit einem Sesamkringel, jede Strecke kannte mich nur als Fußgänger, nie ließ ich mich auf eine Geburtstagsparty ein. Ich denke an Aynurs Brüste, hätte ich unmöglich sagen können. Aynur war die studierte Geliebte des Chefs. Ihre Brüste waren unerreichbar teuer. So sagte ich, ich denke an IHN. Und wenn sie mich dann fragten, wer das denn sein soll, dann sagte ich, na ja, ER eben, den ihr nicht kennt und ich auch nicht, ein anderer ER, jedermanns ER. Da lachten sie natürlich. In ihren Augen war ich ein harmloser Spinner. Dass meine Existenz auf dieser Welt so problematisch sein würde, davon hatte ich ja keine Ahnung! Mit zwanzig war mir ein Leben vorherbestimmt, dessen Form, Richtung und Name mir deutlich vor Augen standen. Mit dreißig dagegen war ich so verdattert wie ein von tausend Türen weggescheuchtes Huhn. Ich hatte keine Richtung, keine Form und keinen Namen mehr. Nichts von dem, was ich wusste, was ich gelernt hatte, erschien mir noch sicher. Wenn ich den Mund öffnete, klappten mir die Lippen schwerfällig auf und zu wie bei einem Fisch, und in meinem Gehirn schwappte eine dunkle, warme Flüssigkeit herum, die jeden meiner Gedanken lähmte. Dabei musste der Mensch doch, wenn er älter wurde, wenigstens irgendeine Gewissheit haben? Ich hatte aber gar keine Zeit, um über die Gründe meiner Armseligkeit ausgiebig nachzudenken. Für Menschen um die dreißig war die Zeit genau das, von dem sie am wenigsten besaßen und dem sie am meisten nachtrauerten. Bei manchen Leuten war es zwar so, dass die Zeit mit angemessenen Aufgaben zusammentraf, die alle in einen Sack passten und sich erledigen ließen. Für Menschen von meinem Schlag galt hingegen, dass zwischen einem Leben, das sich nicht zu betten wusste, und einer Zeit, die über jegliche Freude hinwegging, nur eine reichlich quälende Begegnung zustande kam. Auf der Anzeigetafel stand immer: Zeit: 1 – Huhn: 0. Hin und wieder hattest du aber Gelegenheit, die Tafel abzuwischen. Dann bist du eines Morgens aufgestanden, hast dem Rauchen, dem Saufen und anderen Gemeinheiten abgeschworen, hast einen Pinsel zur Hand genommen und die ganze Anzeigetafel von oben bis unten mit weißer Farbe überstrichen. Dann hast du dich glückselig lächelnd davor aufgebaut und deine letzte Zigarette geraucht. Aber dieses frische Glück, dieses Gefühl, in einem kraftstrotzenden Wagen ganz leicht aufs Gaspedal zu tippen, dahinzuschmelzen wie ein Himbeereis, begann sich schon beim ersten Zug abzunützen wie ein allzu treuer Bolzen. Da fingst du schon an, dich auf das Unvermeidliche einzustellen, das allzu Bekannte. Bist zur Arbeit gegangen, hast Überstunden gemacht, und als du am Abend deine Stammkneipe betreten hast, stand auf der Anzeigetafel, diesmal in schwarzen Ziffern, ein noch schlimmeres Ergebnis: Leben: 5 – Fisch: 0 Es hat nicht jedes Lebensalter seinen besonderen Reiz. Überhaupt hat kein Alter, dessen du dir bewusst bist, irgendeinen Reiz. Alter würde etwas sein, das du gar nicht kennst. Wenn sie dich nach deinem Alter fragten, würdest du stutzen und erst mal zu rechnen anfangen. Überbringer von Geburtstagsgeschenken würdest du als Provokateure ansehen. »Ihr sollt meine Jahre nicht zu einem Paket verschnüren, lasst sie gefälligst auseinander!« Und dennoch kam es einmal so weit mit mir, dass ich mein Leben fast im Minutentakt zählte, ja sekundengenaue Berechnungen anstellte. Wenn ich abends spät nach Hause kam, schlug ich mein kariertes Heft auf und schwärzte vierundzwanzig Kästchen meines auf zehn Jahre angelegten und dreihundert Seiten umfassenden Zeitrechnungsplans. War ich aber zu müde und schlief vorher ein, dann konnte ich am Abend darauf freudestrahlend und mit vor Aufregung zitternden Händen feierlich auf einen Schlag ganze achtundvierzig Kästchen erledigen. Vor lauter Genugtuung kamen mir fast die Tränen. Richtig zufrieden war ich mit diesem Vierundzwanzigstundenrechner allerdings nicht. Ich träumte davon, einen Plan anzulegen, mit dem sich auch einzelne Minuten abziehen ließen und den ich am besten auch noch mit mir herumtragen könnte, um jederzeit die entsprechenden Kästchen zu schwärzen. Aber das war schwer, alles war immer schwer. Ich musste mich mit den vierundzwanzig Stunden begnügen und die Achtundvierzigstunden-Abende als Feste ansehen. Über viele Jahre hinweg fand ich Trost im Alleinsein. Zum Alleinsein schienen sich nämlich gar nicht so viele Gelegenheiten zu bieten, wenn man daraus schließen durfte, dass jeder immer darüber klagte, er könne nicht allein sein, bis genug Klagende beisammen waren und sich gierig übereinander hermachten. Ich hingegen war nicht nur weit davon entfernt, mich zu beklagen, sondern kultivierte meine Einsamkeit geradezu. Die beiden Tische, die in meinem Leben einen wichtigen Platz einnahmen, hütete ich wie meinen Augapfel. So ließ ich weder an meinen Schreibtisch noch an meinen Tisch in der Kneipe irgendjemanden heran, und wer sich doch in meine Nähe wagte, den empfing ich mit einem derart erhabenen Schweigen, dass ich bald wieder in meine eigene Welt versinken durfte, ohne je mehr einstecken zu müssen als ein paar spitze oder spöttische Bemerkungen. Es kamen durchaus auch Frauen an meinen Tisch. Die meisten davon waren betrunken, geprügelt, verhärmt und hielten mich für einen Endzeitpropheten oder für einen blassen, mit literarischen Wundern schwanger gehenden Dichter. Bis sie wieder abzogen, dauerte es immer nur Minuten. Dann ging ich zu mir nach Hause, legte meinen Lieblingsporno ein und verschwand berauscht in einem zähen Leibermeer. Die Frauen hatten schon recht. Mit knapp zwanzig glaubte ich, wunderbare Gedichte zu schreiben. Was ich schrieb, war mein Schicksal und deshalb von zwingender Kraft. Ich war ein Auserwählter. Ich versorgte meine Umgebung mit Wörtern, die mir aus einer zerfallenden und wieder neu erstehenden Welt zuflossen, aus Gegenden, die nur mir allein bekannt und erreichbar waren. Es waren unfassbare, göttliche, verzaubernde Wörter. Ging das nicht schon daraus hervor, dass ich nicht eines dieser Wörter schreiben konnte, ohne zu weinen, vor Sterbensangst zu erzittern und wieder jemanden in meine geistige Todesliste aufzunehmen? Es ging sehr wohl daraus hervor. Eines Tages entflossen meinem Mund einige Straßennamen, Hausnummern und Personennamen, und die göttliche Stimme verstummte und wurde nie wieder vernommen. Sobald meine Knochen wieder zusammengewachsen und meine Wunden verheilt waren, hoffte ich, ER würde mir verzeihen oder mir wenigstens ermöglichen, das Geschehene zu erklären. Es kamen aber aus zwei Wohnungen drei Leichen heraus, und so wurde nichts aus meinem Wunsch. Ich ließ also die Stadt samt meinen Gedichten zurück und kam in diese Großstadt, in der ich niemanden kannte und niemand mich. Wenn sie mich fragten, woran ich dachte, dann sagte ich, an IHN. Und am...