E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Vareille Wir sehen uns morgen in Paris
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-641-27228-9
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-641-27228-9
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Amerikanerin Alice zieht nach Paris, um ein neues Leben zu beginnen. Aller Anfang ist schwer, und trotz ihrer Diplome hagelt es auf der Jobsuche nur Absagen. Zudem leidet sie unter Panikattacken und lässt kaum jemanden an sich heran. Als sie endlich ein Jobangebot von einem kleinen Start-up bekommt, sagt sie zu und landet zwischen hoffnungslosen Romantikern und Computer-Nerds. Doch der Programmierer Jeremy berührt etwas in Alice, was sie so schon seit langem nicht mehr gefühlt hat. Und die Mauer, die sie um sich herum gezogen hat, beginnt zu bröckeln ...
Eine romantische Geschichte über eine junge Frau, die die Vergangenheit nicht loslassen kann, und doch den Mut besitzt, in Paris einen den Neuanfang zu wagen.
Marie Vareille wurde 1985 in Montbard, einer Kleinstadt im Burgund, geboren. Sie hat in New York und Paris Management studiert und für ein kleines Start-up-Unternehmen gearbeitet. In Frankreich zählt sie inzwischen zu einer der beliebtesten und erfolgreichsten Unterhaltungsautorinnen und führt neben dem Schreiben auch einen Blog über romantische Komödien. Nach 'Manchmal ist es schön, dass du mich liebst', 'Vielleicht ist es ja Liebe' und 'Inselküsse unter Palmen' ist 'Wir sehen uns morgen in Paris' ihr neuer Roman bei Penguin.
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10:04 Uhr. Die Person, mit der ich den Termin habe, hat vier Minuten Verspätung. Zweihundertvierzig Sekunden meines Lebens sind davongeflogen, tot, irgendwohin im Nichts dieser Welt verschwunden. Sechzig Minuten in einer Stunde, sechzig Sekunden in einer Minute.
Zum zehnten Mal richte ich meinen Pferdeschwanz. Ich verstehe es einfach nicht. Um pünktlich zu sein, reicht es doch, rechtzeitig aufzubrechen. Ich lebe doch nicht in einem anderen Raum-Zeit-Kontinuum als die anderen, und dennoch bin ich scheinbar der einzige Mensch auf dieser Erde, der dieses große Mysterium begriffen hat: Die Dauer eines Wegs setzt sich aus der Zeit, die man in einem Transportmittel verbringt + Fußweg + Zeitpuffer zusammen.
Manchmal habe ich das Gefühl, nur ich sei mit dieser unglaublichen Wahrheit vertraut. Unsere Zeit ist begrenzt. Wie gern würde ich jene warnen, die ihr vom Universum beschertes höchstes Gut, die Zeit, mit unnützen Handlungen verplempern: Keine Ahnung, ob du es weißt, aber eines Tages müssen wir sterben. Das Leben ist kurz, nichts ist von Dauer, jeder Augenblick zählt. Die Zeit schwindet, und es gibt kein Zurück. Was bleibt, ist Bedauern, wie ein paar vom Meer bei Ebbe am Strand zurückgelassene Muschelreste.
Stopp!
Einatmen!
An etwas anderes denken.
Es ist grau, der feine Regen erinnert an einen Brautschleier, dennoch mache ich meinen Mantel auf.
Der Himmel über Paris ist bedeckt, aber die Temperatur muss bei mindestens fünfzig Grad Fahrenheit liegen. Wie viel ist das in Celsius? Ich muss endlich lernen, in Celsius zu rechnen.
Ein Strom von Männern und Frauen quillt plötzlich aus dem Métro-Schacht der Station Belleville, Regenschirme öffnen sich einer nach dem anderen wie graue Blumen. Eine Frau in Eile stolpert genau vor mir, ich kann sie gerade noch am Arm auffangen. Sie ist schwanger. Besorgt frage ich:
»Haben Sie sich wehgetan?«
»Nein, es geht, danke.«
In Panik und offensichtlich spät dran, bückt sie sich, um ihre Habseligkeiten aufzuheben, die aus ihrer Handtasche auf den Asphalt gefallen sind. Ich komme ihr zu Hilfe.
»Bücken Sie sich nicht, ich mache das schon.«
Ich hebe ihre Sachen auf, das Telefon, ein Päckchen Taschentücher, einen Füller und ein paar Münzen.
»Oh, danke«, sagt sie mit einem erleichterten Seufzer, »ich habe solche Rückenschmerzen …«
Wir lächeln uns an, und für einen kurzen Moment fühle ich mich durch ihren warmen Blick getröstet. Ich halte meinen instinktiven Wunsch zurück, ihren runden Bauch zu berühren, angezogen von dem kleinen Lebewesen, das dort wächst. Nachdem sie mir einen schönen Tag gewünscht hat, verschwindet sie in der Menschenmenge, und ich bin wieder allein. Unter meinen Füßen spüre ich das Vibrieren der Métro. Zwei Millionen und zweihunderttausend Einwohner. Paris rauscht, ist voller Bewegung und Gewimmel. Hierherzukommen war richtig. Dieser Ort ist ideal, um zu verschwinden, um in der gesichtslosen Menge unterzugehen, zu vergessen und vergessen zu werden.
»Alice Smith?«
Eine kleine Frau im beigefarbenen Regenmantel steht vor mir. Sie ist chic gekleidet und dürfte um die fünfzig sein. Das leicht ergraute Haar hat sie zu einem mit Haarspray fixierten Bananenknoten aufgesteckt. Ich reiche ihr die Hand.
»Guten Tag.«
»Marvelous. Ich bin Jane Thompson von der Agentur Field & Thompson«, sagt sie in perfektem Englisch, »wir haben telefoniert …«
»Freut mich.«
»Folgen Sie mir«, sagt sie in autoritärem Tonfall und öffnet einen Regenschirm mit Schottenkaros über meinem Kopf.
»Wie Sie feststellen werden, ist es nur zwei Schritte von der Métro-Station Belleville entfernt.«
Ich schlucke. Das war nicht gerade, worum ich sie gebeten hatte.
»Ich dachte eigentlich eher an die Viertel Marais oder Montmartre.«
Sie bleibt unvermittelt stehen und bricht in Gelächter aus.
»Warum nicht gleich Disneyland? Ich weiß, dass Amerikaner für das Marais und den Montmartre schwärmen, aber diese Viertel sind touristisch extrem überlaufen. Im Marais kommt man am Wochenende kaum voran, weil so viele Menschen auf den Bürgersteigen unterwegs sind. Montmartre liegt zwar etwas abseits der Stadtmitte, aber dort wimmelt es nicht nur von Touristen, sondern auch von Taschendieben. Und ehrlich gesagt, bei Ihrem Budget ist das ohnehin undenkbar …«
»Ach so, verstehe.«
Ich verberge meine Enttäuschung hinter einem zerknirschten Lächeln. Ganz naiv hatte ich mir eine Wohnung mit freigelegten Holzbalken und Blick auf vorgestellt, eine ziemlich klischeehafte und peinliche Vorstellung.
Wir passieren ein China-Restaurant, einen Waschsalon und ein griechisches Lokal, in dessen Schaufenster sich eine vor Fett triefende Fleischmasse an einem Spieß dreht. Ich denke an die Fotos der erleuchteten Fassade des Orsay-Museums oder an den von Arkadengängen umgebenen Park des Palais-Royal, über die wir im Französischkurs gesprochen hatten. Ich hatte das Wort »haussmannien« gelernt. Ich sehe noch mein amerikanisches Lehrbuch mit der Definition des Terminus unter der Abbildung eines majestätischen Gebäudes mit von schmiedeeisernen Gittern versehenen Fenstern und Balkonen vor mir: »… zahlreiche unter dem Präfekten von Paris, Baron Haussmann, ausgeführte Sanierungsarbeiten in der Mitte des 19. Jahrhunderts.«
Angesichts des post-apokalyptischen Zustands meiner Bankkonten kann ich die Rue de Rivoli, Montmartre und das Marais-Viertel vergessen und entschließe mich, Jane Thompson wohl oder übel zu vertrauen.
Sie bleibt vor einer ehemaligen Kutschen-Einfahrt eines zwischen einer orientalischen Zuckerbäckerei und einer Grundschule eingezwängten Hauses stehen. Sie tippt einen Code ein und hält mir die Tür auf, von der die Farbe abblättert.
»Die Wohnung befindet sich auf der Etage der ehemaligen Dienstbotenzimmer. Sie werden sehen, sie ist hell und sehr ruhig.«
Energisch schüttelt sie ihren Regenschirm über den gesprungenen Fliesen der Eingangshalle aus. Der Fahrstuhl bringt uns in das sechste und letzte Stockwerk, und wir betreten eine kleine möblierte Wohnung. Das Wohnzimmer ist mit einer vollständig eingerichteten Küche verbunden. »Hier nennt man das amerikanische Küche«, erklärt sie mir. »Vielleicht fühlen Sie sich ein wenig wie zu Hause.«
Seit der letzte Mieter ausgezogen ist, wurde alles renoviert. Die Möbel sind praktisch, es gibt zahlreiche Einbauschränke, ein Sofa, eine Stereoanlage und zwei Lautsprecher … Durch das Dachfenster strömt trotz des regengrauen Wetters helles Licht ins Schlafzimmer. Das winzige, drei Quadratmeter kleine Badezimmer weist tatsächlich eine Badewanne auf! Die Wohnung ist klein, unpersönlich, weiß und sauber.
Im Wohnzimmer gibt es nur ein Fenster. Ich öffne es und werfe einen Blick nach draußen. Die Wohnung geht direkt auf den Schulhof der Grundschule hinaus. Neben dem Regenprasseln kann man die Stadt brummen und hin und wieder Autos hupen hören. Das lässt mich an die praktisch ununterbrochen heulenden Sirenen von Manhattan denken und an die surrenden Klimaanlagen im Sommer. Ich weiß nicht, ob ich diese Wohnung mag. Ihre Nüchternheit wirkt zwar beruhigend, aber auch kalt.
Plötzlich schrillt eine Klingel, und Kinder rennen auf den Pausenhof. Ihre bunten Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, spielen sie im Regen. Die Symphonie ihrer fröhlichen Rufe, die bis zu mir dringen, entlockt mir ein Lächeln. Das erste seit meiner Ankunft. Und auf einmal erscheint mir die Wohnung viel einladender. Ob es am Kinderlachen auf dem Pausenhof liegt? Aber mir ist plötzlich, als dufte es nach heißer Schokolade.
Jane Thompson beobachtet mich aus den Augenwinkeln, während ich nochmals durch die Räume streife. Mein strenges schwarzes Kostüm und der perfekte Pferdeschwanz scheinen ihr Vertrauen einzuflößen.
»Wie viele Wohnungen haben Sie bis jetzt besichtigt?«
»Es ist die erste. Wäre es möglich, die Stereoanlage und die Lautsprecher aus dem Wohnzimmer zu entfernen? Sie brauchen viel Platz.«
»Ja, ich frage die Besitzerin. Ich kann mir nicht denken, dass sie etwas dagegen hat.«
»Ich habe ein Kätzchen. Ist das ein Problem?«
»Aber nein«, ruft sie und lächelt strahlend. »Die Besitzerin liebt Tiere, und ich auch. Wie heißt denn Ihre Katze?«
»David«, sage ich und schließe das Fenster.
Sie reißt erstaunt die Augen auf und fragt sich, ob es wohl eine Manie der Amerikaner ist, ihren Haustieren Menschennamen zu geben.
»Okay, ich will die Wohnung gerne haben, je früher desto besser. Wie hoch ist die Miete?«
»Tausendeinhundert Euro, inklusive Nebenkosten … Ich weiß, das liegt über Ihrem Budget, aber Paris ist eine sehr teure Stadt und …«
»Es passt.«
Das ist eine Lüge. Der Preis ist unverschämt hoch, und ich muss schnellstmöglich einen Job finden, aber ich werde schon zurechtkommen. Es muss vorangehen. Im Hotel zu bleiben, würde noch teurer werden, und ich will David schnellstens aus dem Tierheim holen. Im Hotel sind keine Katzen erlaubt.
»Gut, wenn Sie Ihren Pass dabeihaben, mache ich in der Agentur eine Kopie davon, die ist nur fünf Minuten von hier entfernt. Dann kann ich den Vertrag bis morgen fertig machen …«
»Perfekt.«
»Allerdings ist man in Frankreich sehr streng, was Mietverträge angeht. Ich brauche Garantien, Ihre letzten Gehaltsabrechnungen, die Steuererklärung, Ihre Bankanschrift, einen Auszug Ihres Bankkontos und einen Kontakt zu Ihren ehemaligen Vermietern …«