E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Veletzos Im Licht der Freiheit
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8412-1976-3
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-8412-1976-3
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Mädchen, das von Freiheit träumte.
Bukarest, 1941: Ein kleines Mädchen wird auf den Stufen eines Hauses gefunden, nur mit einem Brief, in dem seine jüdischen Eltern darum bitten, man möge ihr Kind retten.
Natalia wird adoptiert und freundet sich mit Victor an. Die Zeit der sowjetischen Besatzung beginnt, und Natalia verfolgt trotz aller Schikanen ihren Traum, Pianistin zu werden. Als sie Jahre später Victor wiederbegegnet, scheint er zu den neuen Machthabern zu gehören. Dennoch verlieben die beiden sich ineinander. Dann erhält Natalia unerwartet die Chance, aus Bukarest zu fliehen - doch um welchen Preis?
'Diese eindringliche Geschichte erinnert an Markus Zusaks 'Die Bücherdiebin' und wird viele Leser berühren.' Library Journal.
Roxanne Veletzos wurde in Bukarest geboren und zog mit ihrer Familie nach Kalifornien, als sie ein Teenager war. Nach ihrem Studium des Journalismus arbeitete sie als Lektorin, Autorin und Marketingmanagerin für verschiedene Firmen. Mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen lebt sie in San Francisco. Mehr zur Autorin unter https://www.roxanne-veletzos.com/ Corinna Rodewald studierte Literaturübersetzen und lebt in Berlin. Sie übertrug unter anderem Beth Harbison, Virginie Carton und Philippe Georget ins Deutsche.
Weitere Infos & Material
2
Anton und Despina Goza waren in ihrem großen Familien- und Freundeskreis dafür bekannt, stets pünktlich zu sein. Nie kamen sie auch nur eine Minute zu spät zu Verabredungen, es spielte keine Rolle, dass die Straßenbahnen unregelmäßig fuhren, die Bürgersteige von Eisregen überzogen waren und die Stadt sich seit einigen Wochen in einem besorgniserregenden Zustand befand. Despina hatte die gesellschaftlichen Umgangsformen verinnerlicht und traf stets zur vereinbarten Zeit ein, und zwar vollendet zurechtgemacht, angefangen bei ihrem Hut, gefertigt nach der aktuellen Pariser Mode, bis zu ihren Pumps aus Reptilleder, die ebenso zu ihrer Handtasche passten wie zu ihrem Gürtel, der ihre Wespentaille zur Geltung brachte. Obwohl sie ihre vier älteren Schwestern um mindestens einen Kopf überragte, war sie überaus feminin und elegant. Ihr Gesicht glich dem einer griechischen Göttin, sagten die Freundinnen ihrer Mutter oft bewundernd und möglicherweise ein wenig neiderfüllt angesichts von Despinas Porzellanhaut, ihren hohen Wangenknochen und ihrem gewellten dunklen Haar.
Als Despina an diesem Morgen die Augen aufschlug und zur Pendeluhr an der Wand sah, stellte sie entsetzt fest, dass sie verschlafen hatte. Trotzdem blieb sie noch einen Moment im Bett sitzen, ein Kissen im Rücken, und hörte zu, wie die Welt vor ihrem Fenster allmählich zum Leben erwachte. Jeden Tag wurde sie von den Geräuschen des morgendlichen Verkehrs auf der Strada Vlaicu begrüßt, von Schritten und gedämpften Stimmen, die einander grüßten. Das alles war ihr vertraut, und sie empfand es als tröstlich: ihr Mann, der neben ihr schlief, das schräg über das Fußende ihres viktorianischen Betts fallende Sonnenlicht, die milchkaffeefarbenen Seidenlaken, die sie schimmernd umhüllten wie feiner Wüstensand. Als Despina an diesem Morgen jedoch an den vor ihr liegenden Tag dachte, vollführte ihr Magen ein Salto. Was für ein Wahnsinn, es ausgerechnet jetzt anzugehen, dachte sie. Jetzt, wo der Krieg vor der Tür steht.
Tief in ihrem Innern wusste sie, dass es nie den richtigen Zeitpunkt geben würde, dass der richtige Zeitpunkt womöglich schon längst hinter ihnen lag. Dass ihr trotz ihres Glücks und ihres erfüllten Lebens das, was sie sich am sehnlichsten wünschte, verwehrt blieb. Es schien ihr, als hätte Gott ihr den Rücken gekehrt, denn obwohl sie an ihn appellierte, mit ihm verhandelte, hatte sie noch immer kein Kind. Die leise Hoffnung in ihrem Herzen wollte sie am liebsten zum Verstummen bringen. Dann könnte sie nach der langen Zeit des Aufruhrs endlich wieder zur Ruhe kommen. Hör auf, es zu wollen, mahnte sie sich immer wieder, doch ihr Herz wollte nicht auf sie hören.
Zumindest hatte sie es aufgegeben, dafür zu beten. Sie hätte schon vor Jahren damit aufhören sollen, als klar geworden war, dass sie kein Kind bekommen konnte, als ihr Selbsthass so stark geworden war, dass ihre Schwestern sie nur noch zusammen besuchen wollten, auf Zehenspitzen um sie herumschlichen und versuchten, sie mit unverfänglichen Themen auf andere Gedanken zu bringen. Ein vorschnelles Wort, eine unbedachte Bemerkung genügten inzwischen, und schon brach Despinas Verzweiflung aus ihr heraus, die tagelang andauern konnte.
»Du bist mit so vielem gesegnet, Despina. Konzentrier dich auf das, was du in deinem Leben hast«, redeten sie ihr aufmunternd zu, während sie wissende Blicke austauschten, Schachteln mit Schokolade auspackten, Tee servierten und ihr die Hände rieben. Doch Despina saß wie ein Häufchen Elend in ihrem Sessel und war am Boden zerstört.
Vier Fehlgeburten. Nachdem jede von ihnen eine neue Wunde in ihrem Herzen hinterlassen hatte, nachdem die Enttäuschungen vorhersagbar geworden waren und ihre Schärfe verloren hatten, war Despinas Hoffnung immer weniger geworden. Und nun diese unverhoffte Chance. Der Termin war so rasch vereinbart worden, dass sie kaum Zeit gehabt hatte, sich darauf vorzubereiten.
Im Bad seufzte sie beim Blick in den Spiegel über dem Waschbecken und drückte die Fingerspitzen auf die zarte Haut unter ihren mandelförmigen Augen. Ihr Gesicht war eine blasse Maske, die Gesichtszüge ausgeprägter als gewöhnlich. Im Schlaf musste sie sich auf die Lippe gebissen haben, denn sie war geschwollen und leicht gerötet. Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, und ihre Gedanken richteten sich wieder auf den vor ihr liegenden Tag.
Als Anton ins Bad kam, begegneten sie sich in der Tür.
»Guten Morgen, Liebes.«
Er küsste sie auf die Wange und schenkte ihr ein Lächeln, wirkte aber abwesend. Despina bemerkte, wie gut er in seinem gestreiften Seidenpyjama aussah, selbst zu dieser frühen Stunde, die kurzen Haare zerzaust und noch ein Hauch des abendlichen Whiskeys in seinem Atem. Er nahm seine Zahnbürste und summte vor sich hin.
Bisweilen brachte es Despina aus dem Konzept, wie grenzenlos optimistisch er war, aber genau das machte seinen Charme aus. Selbst an diesem Morgen konnte sie nicht anders als lächeln, während sie ihn beobachtete.
Nicht nur auf Despina übte Anton diese Wirkung aus, sondern auf jeden, der ihm begegnete. Seine Unbeschwertheit war ansteckend, unwiderstehlich. Auf der Straße drehten sich die Frauen nach ihm um, wenn er wie Cary Grant in seinem wie angegossen sitzenden Anzug an ihnen vorbeiging, einen weißen Angoraschal um die breiten Schultern geschlungen, wenn er die Hand an den Hut legte und ihn zum Gruß leicht anhob. Selbst Männer warfen ihm ein Lächeln zu, angesteckt von seiner joie de vivre und beeindruckt von seinem Wohlstand und davon, wie er den neuen Tag voller Zuversicht begann.
*
Zehn Jahre waren vergangen, seit Despina Anton begegnet war, und doch erinnerte sie sich noch in allen Einzelheiten an den Tag, als wäre es gestern gewesen. Amüsiert dachte sie darüber nach, dass sie einander womöglich nie kennengelernt hätten, wäre Despinas Vater an jenem Tag nicht die Tinte für seinen Montblanc ausgegangen oder hätte er sich dazu entschlossen, selbst ein neues Tintenfass zu besorgen. Doch ihr Vater war mit seiner Buchführung beschäftigt gewesen, und in der Luft hatte schon der erste Anflug von Frühling gelegen, so dass Despina, als er sie bat, neue Tinte zu besorgen, gern einwilligte.
»Pia?a Romana«, hatte er zu ihr gesagt, als er ihr mehrere große Banknoten in die Hand drückte. »Du kennst ja das Geschäft. Und vergiss nicht, auch ein paar Briefumschläge mitzubringen. Die aus Leinen, wenn du sie findest.«
Das war ihnen inzwischen zu einem Ritual geworden. Despina besorgte, was er benötigte, dafür durfte sie das Wechselgeld behalten. Ihr Vater fragte sie nie, was sie damit anstellte, und es gab immer etwas, das ihr in einem der Schaufenster ins Auge fiel – ein hübscher Hut, eine Handtasche aus Seide, ein bunter Schal, der zu ihren Haaren passte.
In Gedanken versunken schlenderte Despina in gemütlichem Tempo die Straße Richtung Pia?a Romana entlang. Ohne auf die Straßenschilder zu achten, überquerte sie die Kreuzungen, denn sie kannte den Weg zum Geschäft auswendig. Ihr Vater kaufte seit Jahren dort seine Schreibwaren, und die Inhaberin, Frau Zoltof, kannte Despina inzwischen gut. Als sie die Ladentür öffnete, war sie verwundert, statt der älteren Dame einen jungen Mann vorzufinden, der auf einer Leiter stand und Zigarettenschachteln in das Regal über der Kasse räumte. Ihr erster Gedanke war, dass sie das falsche Geschäft betreten haben musste, doch als sie Anstalten machte, wieder hinauszugehen, ließ seine Stimme von der Leiter herab sie innehalten.
»Guten Morgen, die Dame.«
Ein warmes, sanftes Lächeln lag auf den Lippen des Mannes. Einen Augenblick lang starrte sie ihn nur selbstvergessen an. Seine gerade, römische Nase, ein markantes Kinn mit Grübchen. Hellbraune Augen, die sie freundlich anblickten. Die Farbe erinnerte sie an einen Schluck des Cognacs ihres Vaters, der unten im Glas umherwirbelte.
Als der Mann scheinbar völlig mühelos die Leiter herunterstieg, wagte sie einen Blick auf seine muskulösen Unterarme, die honigfarben unter den hochgekrempelten weißen Hemdsärmeln hervorragten.
»Bitte kommen Sie doch herein«, forderte er sie auf. »Womit kann ich Ihnen behilflich sein?«
Sie trat ganz in den Verkaufsraum und schloss die Tür hinter sich.
»Ich bräuchte Briefumschläge und Tinte, bitte«, sagte sie knapp und hob ihr Kinn. »Ich bin die Tochter von Herrn Papodopulos. Eine seiner Töchter.«
Augenblicklich kam sie sich lächerlich vor. Was kümmerte es ihn, wer sie war? Sie war nur hier, um Umschläge und Tinte zu kaufen, um Himmels willen. Doch der junge Mann schien sich darüber zu freuen, dass sie sich vorgestellt hatte. Als er hinter dem Ladentresen hervortrat und mit der Hand durch seine dichten, beinahe schwarzen Haare fuhr, lächelte er sie einnehmend an.
»Zu Ihren Diensten. Was immer Sie benötigen.«
Despina spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen, und sie sah sich nach etwas um, worauf sie ihren Blick heften, worüber sie eine Bemerkung machen konnte, um von der Tatsache abzulenken, dass sie sich wie ein Tölpel aufführte. Wie peinlich, dachte sie. Er ist doch nur ein Angestellter im Laden. Rasch wandte sie sich ab und begann in den Hunderten von Briefpapiermustern zu stöbern, die in schmalen Holzfächern an der Wand ausgestellt waren.
»Ich hätte gern fünfhundert von diesen Umschlägen hier«, sagte sie kühl und hielt ihm einen hin.
Sie hatte keine Ahnung, was sie da aus dem Fach gezogen hatte. Als er ihr den Umschlag aus...