E-Book, Deutsch, 424 Seiten
Reihe: Edition Blau
Vermicelli Die unsichtbaren Dörfer
2. sprachlich überarbeitete Neuauflage 2022
ISBN: 978-3-85869-950-3
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 424 Seiten
Reihe: Edition Blau
ISBN: 978-3-85869-950-3
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Gino Vermicelli, 1922 im norditalienischen Novara geboren, kämpfte ab 1943 als Partisan in den Garibaldi-Brigaden. Innerhalb des Widerstands stieg er bis zum Vizedivisionskommissar des Ossolatals auf. Nach dem Krieg arbeitete Vermicelli für den Partito Comunista Italiano. 1969 trat er aus der Partei aus und gründete die linke Zeitung 'Il Manifesto' mit. Er verstarb 1998 in Verbania am Lago Maggiore.
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Der Mago trat aus der Hütte, wo er damit beschäftigt war, Käse zu machen. Er trocknete seine Hände und blickte zum Horizont, nach Westen. Es war schon elf Uhr. Um diese Zeit lag die ganze Bergflanke in einem so hellen Sonnenlicht, dass er seine Ziegen in den Steilhängen aus einigen Hundert Metern Entfernung beobachten konnte. Der Schnee lag Ende März nur noch als große weiße Flecken in den Mulden. Dort, wo er geschmolzen war, hatte er bereits der Vegetation Platz gemacht: Gras, hellgrüne Sprösslinge, weiße, gelbe und violette Blumen. Diese Pflanzen schmeckten den Ziegen besonders gut. An sonnigen Tagen stiegen sie am Vormittag weit hinauf, um ihr bevorzugtes Futter zu finden, und der Mago behielt sie von den Hütten von Collepiano aus im Auge.
Eigentlich hieß der Mago Piana Gerolamo, aber schon seit langer Zeit nannten ihn alle Leute den Mago, den Zauberkünstler. Er fühlte sich sehr wohl mit diesem Übernamen, der ein wenig wie ein Kompliment klang. Al Mago, im Dialekt, war er deshalb, weil er Dinge machen konnte, die niemandem sonst gelangen. Er blieb das ganze Jahr auf der Alp, auch wenn der Schnee bis zum Fenster seiner Hütte reichte. Wenn die Leute im Dorf ihn wiedersahen, nachdem er einen Monat oder länger in vollkommener Abgeschiedenheit gelebt hatte, fragten sie ihn: »Wie gehts dir?«
»Mi sto ben. Es geht mir gut.«
Wie hatte er es nur fertiggebracht, mit seinen Tieren dort oben zu leben? Nie war er erkältet, nie taten ihm die Knochen weh. Niemand wusste wie, aber ihm war es gelungen.
Wenn im Bach die Forellen sprangen, rissen sich die Knaben darum, sie zu fangen. Aber wer fing die schönsten, mit einem Haken an einem Faden und einem Ast als Angelrute? Der Mago! Und wer fand Pilze, wenn alle anderen mit leerem Korb zurückkehrten? Der Mago! Wer konnte Hasen, Rebhühner und Fasane mit einfachen, aber schlauen Fallen fangen? Natürlich der Mago!
Er lebte allein mit seinen Tieren, ob glücklich oder unglücklich, das weiß man nicht. Vielleicht hätte er den Sinn des Wortes Glück gar nicht verstanden. Er wusste, dass er zufrieden war, wenn etwas gut ging, und traurig oder wütend, wenn etwas schlecht ging, und damit basta. Bis 1938 hatte er im Dorf gelebt. Zwei Jahre zuvor war seine Frau gestorben. Dann, 1938, hatte auch seine jüngste Tochter geheiratet. Da hatte er beschlossen, sein Haus in Sambughetto zu schließen und fortan hier oben zu leben. Al Mago hieß er aber schon seit vielen Jahren.
Wenn jemand im Dorf starke Halsschmerzen hatte und nicht zum Arzt ins Tal hinunter wollte, wandte er sich an den Mago. Er verschaffte ihm eine Mischung aus Veilchen-, Lindenblüten- und Holunderblättern, um daraus einen lindernden und heilsamen Umschlag zu machen. Wenn jemand an zu hohem Blutdruck oder an Schlagfluss litt, war der Mago zur Stelle und verabreichte ihm einen wirksamen Aufguss, auch hier eine Mischung aus sechs oder sieben Kräutern und Gewächsen: Weißdorn, Fenchelsamen, Kamille, Erdrauchblätter und anderes mehr. Der Mago wusste Rat für vielerlei Leiden, und er war auch ein Fachmann für die Tiere. Er selber brauchte nie einen Tierarzt, vielmehr wurde er oft von andern Viehzüchtern zurate gezogen. Für all das verlangte der Mago keine andere Gegenleistung als die Freundschaft seiner Dorfgenossen, und diese Freundschaft war ihm sicher, immer und überall. Wenn es das Wetter zuließ, stieg er am Samstag ins Dorf hinunter, um seine Einkäufe zu machen, um seine Erzeugnisse zu verkaufen und schließlich auch, um ein Glas zu trinken. Aber aus einem Glas wurden schnell viele, weil jeder den Mago zu einem Glas einladen wollte.
Wie gesagt schaute der Mago an jenem Morgen zur Bergflanke und beobachtete seine Ziegen. Doch was er entdeckte, jagte ihm einen Schrecken ein. Auf dem Weg, der von der Alp Cipollina herunterführt, ging eine lange Reihe von Männern. Es waren viele, dreißig, vielleicht vierzig. Sie waren bewaffnet. Er sah ihre umgehängten Gewehre, einige trugen auch schwerere Waffen. Die Männer bewegten sich direkt auf seine Alp zu.
Sein erster Gedanke war zu fliehen, aber dann blieb er stehen, um die Männer besser beobachten zu können. Sie kamen ganz langsam den Berg herunter. Ihre Schritte waren müde. Außer den Waffen trugen sie große Rucksäcke und zusammengerollte Decken. Sie hatten keine Uniformen, auch wenn einige militärische Kleidungsstücke trugen. Jeder war auf seine Art angezogen, jeder trug seine Waffe so, wie er wollte: Kolben nach oben, Kolben nach unten oder das Gewehr quer über den Rucksack gebunden.
Das sind keine Soldaten, dachte der Mago.
Das sind keine Deutschen und keine Faschisten.
Es sind Partisanen!
Diese Feststellung verschaffte ihm eine gewisse Erleichterung, aber sie beruhigte ihn nicht ganz. Die Gedanken jagten durch seinen Kopf.
Schießen die auf mich? Nein, die werden nicht auf mich schießen.
Zünden die mir die Hütte an? Nein, die verbrennen keine Hütten.
Werden sie mich bestehlen? Ja, sie werden mir die Butter, den Käse und vielleicht auch einige Stück Vieh wegnehmen.
Er erwog einen Augenblick, Käse und Butter zu verstecken, ließ diesen Gedanken aber sofort wieder fallen.
Vieles würden sie ja trotzdem finden.
Er beschloss also, den Lauf der Dinge abzuwarten. Er konnte nichts anderes tun.
Die Männer kamen langsam näher. Es vergingen rund zwanzig Minuten, bis sie die Alp erreichten. Als sie bis auf etwa fünfzig Meter an die Hütten herangekommen waren, hob der Mann, der an der Spitze der Kolonne ging, seine offene rechte Hand zum Gruß. Die Männer näherten sich ohne Hast, mit umgehängter Waffe. Sie kamen nicht bis zu den Hütten, sondern setzten ihr Gepäck auf der Wiese ab und warfen sich erschöpft auf die feuchte Erde.
Nur der Mann, der die Kolonne anführte, trat vor, grüßte nochmals und fragte den Mago: »Ist das hier die Alp Collepiano?«
»Ja.«
»Gut, für heute reichts. Wir bleiben hier.«
Der Mago musterte sie jetzt aus der Nähe. Ihre ausgelaugten Schuhe deuteten darauf hin, dass sie ziemlich weit durch den Schnee gestapft waren; ihre angespannten Gesichter, dass sie sehr müde waren; die langen Bartstoppeln und die schmutzige Kleidung, dass sie seit mehreren Tagen unterwegs waren.
Inzwischen waren alle angekommen. Der Hinterste aus der Kolonne kam nun ebenfalls auf den Mago zu. Auch er schien ein Offizier zu sein. Sie trugen zwar keine Abzeichen, aber der Mago bemerkte, dass an den Gürteln der beiden eine Pistole im Halfter hing und eine Kartentasche.
»Woher kommt ihr?«, fragte der Mago.
»Aus der Hölle«, antwortete der zuletzt Angekommene und versuchte zu lächeln.
Dann erklärte er: »Wir sind Partisanen. Wissen Sie, was Partisanen sind?«
»Ja, das weiß ich.«
»Wir kommen aus dem Sesiatal; die haben uns dort fünf Tage lang gejagt. Dort oben, im Schnee …«, und er deutete auf die Berge in Richtung La Mazza.
»Wer ›die‹?«
»Wer? Die Deutschen natürlich!«
Die Deutschen. Seine Gedanken flogen zurück in seine Jugend, zum andern Krieg, zu den vielen Monaten, die er in den Schützengräben in Venezien verbracht hatte.
»Natürlich, die Deutschen. Semper lur. Immer sie.«
Diese Sache mit den Deutschen ging auch ihn, den Mago, etwas an. Plötzlich kamen ihm diese Männer nicht mehr fremd vor.
»Seid ihr über den Sattel gekommen?«, fragte er.
»Ja, von Colle di Campo, hinunter nach Sasso Bric, dann nach Cipollina. Und jetzt sind wir hier …«
»… wo es, dem Himmel sei Dank, keinen Schnee mehr gibt!«, sagte der Erste, hörbar erleichtert, endlich auf trockenem Boden zu sein.
»Ich heiße Emilio und bin der Kommandant dieser Partisanen. Er hier ist Simon, der politische Kommissar. Und Sie, wie heißen Sie?«
»Mi son Piana Gerolamo«, war die Antwort im Dialekt, »ma mi ciaman al Mago, aber man nennt mich den Mago.«
Den Mago? Simon betrachtete diesen Bergbewohner, der aussah wie viele andere auch: klein, untersetzt, grau meliertes Haar, das Gesicht von Falten durchzogen und von Sonne und Kälte gegerbt. Ein Mann von unbestimmtem Alter.
Vielleicht ist er fünfzig, vielleicht auch jünger, dachte Simon. Aber warum nur nennt man ihn den Mago?
»Gut«, sagte er, »wenn Sie der Mago sind, können Sie uns vielleicht helfen.«
Er öffnete die Tasche, die an seinem Gürtel hing, und entnahm ihr einen großen rötlichen 500-Lire-Schein. »Wir möchten Sie fragen, ob Sie in der Lage sind, diese Banknote in eine Mahlzeit für achtunddreißig Personen...




