Vertlib / Vertlieb | Zebra im Krieg | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Vertlib / Vertlieb Zebra im Krieg

Roman nach einer wahren Begebenheit
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7017-4673-6
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman nach einer wahren Begebenheit

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-7017-4673-6
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Liebevoller Vater und wütender Hassposter: Paul ist beides, und als er im Netz bloßgestellt wird, kämpft er um seine Würde, Familie – und sein Leben.

Mit der Geschichte von Paul Sarianidis gelingt Vladimir Vertlib in "Zebra im Krieg" ein meisterhaft ironischer, jedoch stets von Zuneigung und Humanität erfüllter Blick in menschliche und politische Abgründe: Paul lebt mit seiner Familie in einer vom Bürgerkrieg heruntergewirtschafteten osteuropäischen Stadt am Meer. Als er arbeitslos wird, verstrickt er sich immer tiefer in die wüsten Debatten, die in den Sozialen Medien toben. Doch eines Tages wird Paul von Boris Lupowitsch, einem Rebellenführer, den er im Internet bedroht hat, verhaftet. Lupowitsch rechnet mit ihm vor laufender Kamera ab. Paul wird verhöhnt und gedemütigt, das Video millionenfach gesehen. Wie kann er mit dieser Schande weiterleben?

Vertlib / Vertlieb Zebra im Krieg jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


2
Was für eine Stadt! Vor den Kämpfen, bevor die Kontrahenten ihre Transparente, Fahnen und Megafone gegen automatische Waffen und Granatwerfer tauschten, hätte sie eine Perle des Tourismus werden können. Neben Sehenswürdigkeiten, Museen und malerischen Gassen gibt es wunderschöne Sandstrände, Wander- und Radwege und eine Fußballmannschaft, die regelmäßig internationale Erfolge feiert. Vor der Corona-Krise hätten sogar chinesische Gruppen hier für ein paar Stunden eine Pause einlegen und Kreuzfahrtschiffe im alten Hafen vor Anker gehen können, wenn die Stadt nicht von den Mächtigen – der Stadtverwaltung, dem Gouverneur, den Bezirksvorstehern und den diese Clique finanzierenden finsteren Gestalten, die jeder kennt, aber niemand beim Namen nennt – völlig verschissen worden wäre. Das sagen alle und verwenden exakt diesen Ausdruck: verschissen und runtergespült! – Worte, die man an Hauswänden, Mauern und Zäunen überall in der Stadt lesen kann, genauso wie in diversen Accounts, auf Plattformen und in Netzwerken im Internet, meist kombiniert mit Schmähungen und Bezeichnungen menschlicher und tierischer Geschlechtsteile und Exkremente. Schon seit langem ist die Stadt für die kreative Gestaltung ihrer Außenflächen berühmt: kein Straßenbahnwaggon und kein Oberleitungsbus, der nicht eine Mischung aus Plakatwand und modernem Kunstwerk wäre – jugendfrei ab 18 Jahren. Für die Reinigung fehlt der Stadt angeblich das Geld. Kein Wunder, dass Lena eine derbe Zunge hat, denkt Paul. Kürzlich hat sie einen Nachbarn, den alten Zollbeamten außer Dienst aus dem zweiten Stock, als »Kinderficker« bezeichnet. So, wie er sie anschaut, wenn sie sich im Stiegenhaus oder auf der Straße begegnen, liegt sie wahrscheinlich nicht so falsch. Trotzdem ist Paul schockiert über die Ausdrucksweise seiner Tochter. Seine Frau reagiert gelassener. Das Kind wisse doch gar nicht, was dieser Ausdruck bedeute, sagt sie, und Pauls Mutter meint, in Zeiten, in denen anständige Menschen den Verstand verlieren und zu Mördern werden, seien Kinderficker das kleinere Übel, besonders dann, wenn sie nur in der Gestalt eines Schimpfwortes auftreten. Gegen Mitternacht schläft Lena endlich ein. Vorsichtig löst sich Paul aus ihrer Umarmung, lässt sich langsam aus dem Bett gleiten, sehr darauf bedacht, das Kind nicht zu berühren oder durch eine unachtsame Bewegung, das Anstoßen am Bettgestell oder an einem der Stühle im Zimmer, wieder aus dem Schlaf zu reißen. Dann umkreist er auf Zehenspitzen das Bett, überlegt kurz, ob er Lena zudecken soll, beschließt, es sei warm genug im Raum, geht zum Fenster, zieht einen der Vorhänge zurück – einen Spalt nur, gerade einmal so weit, um hinausschauen zu können … Seit einer Woche herrscht Verdunkelungspflicht. Die Nacht ist mondlos, finster, und nur wenn man sich auskennt und genau hinschaut, kann man dort, wo es noch schwärzer als schwarz ist, den Hafen und das Meer vermuten. Zwischen der Großen Mole und dem Zwinger, der mittelalterlichen Festung auf der karstigen Landzunge, haben die noch intakten Reste der nationalen Marine einen Kordon gebildet. Fünf Schiffe sind es. Ihre Kanonen sind nicht hinaus aufs Meer, sondern auf die Stadt gerichtet – bereit, die Innenstadt und die umliegenden Viertel in Schutt und Asche zu legen, wenn die Aufständischen einmarschieren sollten. Die Granatwerfer haben aufgehört, auf die Vororte und Hügelrücken rund um die Stadt ihre tödlichen Geschenke abzuladen. Der Donner wird trotzdem lauter. Es dauert einige Zeit, bis Paul begreift, dass seine Geschichte über Zeus offenbar ein Stückchen Wahrheit enthalten hat. Es handelt sich tatsächlich um ein Gewitter. Der Regen beginnt gegen die Fensterscheiben zu trommeln. Mehrere Blitze erhellen die Stadt und tauchen das Zimmer trotz der zugezogenen Vorhänge in ein käsig blasses Zwielicht, sodass Paul Lenas blonden Haarschopf und ihre linke Hand erkennen kann, die schlaff über die Bettkante hinunterhängt, und es scheint ihm, als würde diese Hand sich demnächst vom Körper lösen und wie ein weißes Tuch zu Boden fallen. Für den Bruchteil einer Sekunde, die Dauer eines halben Atemzugs nur, sieht er die ganze Stadt, als wäre sie ein Ort unsichtbarer Gespenster, verborgener Monster und verdrängter Albträume, längst untergegangen, im Meer versunken: Rechts liegt der Hafen mit seinen rostigen Kränen und endlosen, größtenteils nutzlos gewordenen Docks, links die bewaldeten Hügel mit dem felsigen Bergrücken im Hintergrund, dazwischen die Haupt-, die Flotten- und die Siegesstraße (benannt nach einem Sieg in einem längst vergessenen Krieg aus dem vorletzten Jahrhundert) mit ihren neoklassizistischen Bauten – dem Großen Operntheater, dem Theater für Drama und Ballett, dem Rathaus mit seiner berühmten Säulenhalle, dem Marine-Institut, dem ehemaligen Gouverneurspalast, der Synagoge, der alles dominierenden Marienkathedrale und der alten Börse mit der markanten Kuppel, die an den Bauch einer auf dem Rücken liegenden schwangeren Gigantin erinnert. Die Altstadt mit ihren verwinkelten Gassen und der vor fünfzig Jahren restaurierten, inzwischen aber wieder baufälligen Moschee. Das von Touristen noch unentdeckte Kleinod erinnert an die orientalische Vergangenheit des Ortes. Vor hundertneunzig Jahren wurde der repräsentative Hauptplatz geschaffen, in dessen Mitte wiederum fünfzig Jahre später das große marmorne Denkmal jener Kaiserin errichtet wurde, unter deren Herrschaft die Region in einem der längsten Kriege des 18. Jahrhunderts erobert und die Stadt zur lokalen Metropole ausgebaut wurde. Zweihundert Jahre lang war die Stadt Magnet und Schmelztiegel geblieben, Sündenpfuhl, Sprachenbabel und Sehnsuchtsort für Menschen aus der Region und von weit her, für In- und Ausländer – für Italiener und Griechen, Türken und Russen, Araber und Deutsche, Armenier, Roma, Franzosen, Rumänen, Georgier, Tataren und viele andere mehr, Christen, Moslems und Juden, vor allem aber für Menschen, die an den Handel und das schnelle Geld oder die große Karriere auf der Bühne glaubten. Ein libanesischer Reedereibesitzer errichtete im Jahre 1908 das Wahrzeichnen der Stadt: den großen Uhrturm im Stil eines venezianischen Campanile, der am Eingang zum Hafen steht – mit sieben Uhren an der Spitze, die einst die Zeit an verschiedenen Orten der Welt anzeigten, doch schon seit Jahrzehnten nicht mehr funktionieren. Paul selbst zählt neben Kopten, Ukrainern, Spaniern und einigen anderen vor allem Griechen zu seinen Vorfahren, davon zeugt auch sein Nachname Sarianidis. Natürlich spricht er kein Wort Griechisch. Früher versperrten die Masten unzähliger Segelschiffe die Sicht auf das Meer. Zehntausende Gaslampen machten die Nacht zum Tage. In den Theatern, Varietés und Nachtclubs war zu jeder Jahreszeit Hochsaison, und in den Druckereien wurden täglich Zeitungen in sechzehn Sprachen gedruckt. Doch das ist lange her. Heute wirkt die Stadt wie eine Frau, die vor sehr langer Zeit einmal ein Star war und heute, als Greisin, immer noch gerne die Reste ihrer alten Kleider anzieht, Schminke und Lippenstift aufträgt und von den vergangenen Zeiten auf der Bühne schwärmt. Paul liebt seine Stadt. Bevor er Vater wurde, hatte er nie erwogen, die Stadt zu verlassen, auch wenn er in der Hauptstadt in seinem Beruf als Flugzeugingenieur das Doppelte verdienen könnte, in Ländern wie Deutschland, den Niederlanden oder Schweden wohl das Zehnfache. Die notwendigen Arbeitsbewilligungen und Aufenthaltsgenehmigungen würden sich, wenn es nicht anders geht, käuflich erwerben lassen. Auf dem Schwarzmarkt lässt sich alles kaufen. Da ist seine Stadt immer noch ein Handelszentrum von Weltrang. Nach Lenas Geburt wurde das Thema Umzug im Familienrat, dem auch Onkel, Tanten, Schwägerinnen und Schwager angehören, erwogen und wieder verworfen. Pauls Frau konnte ihre pflegebedürftige Großmutter, die erst drei Jahre später sterben sollte, nicht zurücklassen. Pauls Mutter ließ ihre Beziehungen spielen und versprach, einen Kindergartenplatz für Lena zu organisieren, wenn diese zwei Jahre alt sein würde. Das wichtigste Argument für den Verbleib in der Stadt aber war die Wohnung, die Pauls Mutter von einer Großtante zweiten Grades geerbt hatte, als er noch ein Kleinkind war: eine Dreizimmerwohnung mit geräumiger Küche und eigenem Badezimmer im zweiten Stock eines noblen, gutbürgerlichen Hauses aus dem 19. Jahrhundert, in einer von Kastanien gesäumten Straße, die auf den »Hausberg« der Stadt hinaufführt, ein Hügel, von dem sich ein atemberaubender Blick auf die gesamte Innenstadt, den Hafen, die Berge und das Meer öffnet. Wer gibt so etwas Wertvolles in Zeiten von Krisen aller Art und globaler Wohnungsnot schon auf!? Wie konnte es nur so weit kommen?, denkt Paul, während er mit einer Mischung aus Rührung und Angst seine schlafende Tochter betrachtet. Bei jedem Blitz sieht er die Umrisse ihres Kopfes als Schatten im bläulichen Licht an der Wand. Er denkt zurück an die Zeit, als er sie als...


Vladimir Vertlib wurde 1966 in Leningrad geboren. 1971 emigrierte die Familie nach Israel, dann nach Italien, Holland und die USA, bevor sie sich 1981 in Österreich niederließ. Er studierte Volkswirtschaftslehre, er lebt seit 1993 als Schriftsteller in Salzburg und Wien. Sein Werk umfasst Romane, Erzählungen, Essays sowie zahlreiche Artikel. 2001 erhielt er den Adelbert von Chamisso-Förderpreis sowie den Anton Wildgans Preis. Vertlib schrieb u.a. die Romane "Lucia Binar und die russische Seele", der 2015 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis stand. Zuletzt erschien "Zebra im Krieg" (2022).



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.