Vertlib Viktor hilft
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-552-06389-1
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-552-06389-1
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Viktor ist vor Jahren nach Österreich gekommen, auf der Flucht vor dem Antisemitismus in Russland. Nun versucht er, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle in einem Durchgangslager in Salzburg zu helfen. Ständig kehrt die Erinnerung an jene Zeit zurück, als er hier selber fremd war. Dazu kommt die Nachricht einer Jugendfreundin: Ihre Tochter, die übrigens auch seine sei, ist verschwunden. Nachforschungen zufolge macht sie sich in Deutschland für die AfD stark – Viktor begibt sich auf die Suche nach ihr. Mit großer Sensibilität erzählt Vladimir Vertlib in diesem teils autobiografischen Roman von großen Worten und kleinen Gesten, von Hass und Liebe und – vielleicht – Versöhnung.
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1
Der Mann beugte sich hinunter zu dem Kind. Das Kind wich aus, machte einen Schritt zurück. Der Mann verzog das Gesicht zu einem bemühten Lächeln, sagte ein paar Worte in der fremden Sprache und streckte die Hand nach dem Kind aus. Die Geste hatte etwas Zaghaftes und Insistierendes zugleich. Der Tonfall der Sprache, den das Kind zu deuten glaubte, obwohl es kein Wort verstand, machte ihm Angst. Der Mann war alt. Alt, traurig und mächtig. Sein Gesicht war rau und dunkel wie der Himmel des fremden Landes, die Haare weiß und schütter, die Augen graugrün wie das brackige Wasser in dem Tümpel hinter dem abbruchreifen, längst nicht mehr bewohnten Haus, das dem Kind als Spielplatz diente. Es schien dem Kind, als schauten diese Augen durch es hindurch, bis zur Wand hinter seinem Rücken oder noch weiter — hinaus auf die Straße, wo die Abgase an der Kreuzung das Licht verdüsterten. Hinter der scheinbaren Freundlichkeit des Mannes erkannte das Kind den Spott, dem es immer öfter ausgesetzt war, jenes ungeduldige Staunen, die Empörung der Erwachsenen, die ihm die Schamröte ins Gesicht trieben. Die dicken Finger mit den eingerissenen Fingernägeln näherten sich dem Kind, die Finger der anderen Hand umklammerten eine Tafel Schokolade. Das Kind wusste, dass es die Schokolade haben könnte, wenn es den Fingern erlauben würde, durch sein Haar zu streichen oder seine Wange zu tätscheln, aber es konnte und wollte sich nicht berühren lassen. Nie wieder würde es sich von Fremden berühren lassen! Man hatte es hierher versetzt, in ein Land, in dem der Himmel senkrecht stand und die Sprache stets wie Hohn in sein Gesicht geschüttet wurde. Seine Mutter wechselte mit dem Mann einige Sätze in der fremden Sprache. Sie sprach sehr langsam, stockend, und ihr Tonfall ließ jene Selbstsicherheit vermissen, die das Kind sonst von ihr kannte. Dann fasste sie das Kind sanft an den Schultern und schob es in Richtung des Mannes. Viktor hielt dem Kind den geflochtenen Korb mit Süßigkeiten und Keksen hin. Die Augen des Kindes leuchteten auf, doch war es zu scheu, in den Korb zu greifen, und schaute seine Mutter fragend an. Viktor bewegte den Korb sanft nach links und nach rechts, vor und zurück, so als wäre er ein Schiff auf hoher See. Die Frau redete dem Kind zu, nickte, lächelte. Sie war jung, so jung, dass sie Viktors Tochter sein könnte, und hatte denselben Blick wie Jahrzehnte zuvor Viktors Mutter, eine Mischung aus Wehmut, Angespanntheit, Erschöpfung und Resignation, erwartungsvoll und gleichzeitig in sich gekehrt. Die Menschen im Zelt rochen nach Schweiß, nach Salz und Meer, und Viktor wunderte sich, wie strahlend weiß das Kopftuch der Frau war, wie sie es sauber halten konnte in all den beschwerlichen Tagen, vielleicht Wochen, die sie unterwegs gewesen war. Schnell streckte das Kind seine dünne Hand aus, holte ein in Zellophan eingewickeltes Ei aus Schokolade aus dem Korb und, nachdem Viktor nicht sofort zur nächsten Frau mit Kind weiterging, noch einen Keks und einen Schokoriegel. Die Mutter erklärte dem Kind etwas, das wie eine Mahnung klang. »Schukran«, flüsterte das Kind und senkte den Blick. »Thank you, Sir«, sagte die Mutter. »You’re welcome.« Jemand in der Runde machte eine scherzhafte Bemerkung, ein paar junge Männer lachten, und Viktor sah, wie die Wangen und Ohrenspitzen des Kindes rot anliefen. Viktor löste sich aus der Umklammerung seiner Mutter und versteckte sich hinter ihrem Rücken. Wäre er ein oder zwei Jahre jünger gewesen, wäre er vielleicht unter ihren Rock gekrochen, doch er war fünf Jahre alt, er wollte nicht, dass man ihn für ein Kleinkind hielt. Der Mann grinste, zuckte die Schultern, steckte die Schokolade wieder in seine Sakkotasche, ging um den Schreibtisch herum zurück an seinen Platz und öffnete die schwarze Flügelmappe. Viktor wusste, dass der Mann sehr wichtig und die Flügelmappe noch wichtiger war. Längst hatte er verstanden, dass Mappen, vor allem aber die Papierstücke, die sich in den Mappen befanden, mächtiger waren als Menschen, mächtiger sogar als Menschen, die das Papier beschrifteten, bestempelten, unterschrieben, kuvertierten, ablegten oder weiterreichten. Er fragte sich, ob er sich vom bedruckten Papier berühren lassen würde, wenn es Hände hätte. Raschids Stimme brachte Viktor aus den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in die Gegenwart zurück. Den ganzen Nachmittag war Raschid in der Tiefgarage der ehemaligen Zollamtsstation gewesen, wo er gemeinsam mit Dari-Dolmetscher Mohammed und einem Unteroffizier namens Kurt die Gruppen — immer etwa zehn bis fünfzehn Personen — zusammengestellt hatte, die über die Grenze nach Deutschland gehen sollten. Nun war Raschid hier oben im Zelt und schäumte vor Wut. Ein Kurde hatte ihn als Tier bezeichnet. Der rothaarige Kurde mit markantem Haarschopf, sommersprossigem Gesicht und himmelblauen Augen war Viktor schon aufgefallen, als er mit den anderen Flüchtlingen aus dem Bus ausgestiegen war. Auch wenn Raschid nicht Kurdisch sprach, glaubte er, die Beleidigung verstanden zu haben, klang doch, laut Raschid, das Wort für Tier im Kurdischen ähnlich wie im Arabischen, und so konnte es nur diese Bedeutung haben, und nur er konnte damit gemeint sein, so verächtlich, wie es ausgesprochen worden war. Die Kopfbewegung, der Tonfall, der Blick seien »deutlich und unmissverständlich« gewesen. Nun hingen Raschids Worte als kehlige Drohung im Raum. Die Kinder verstummten, die Frauen drehten sich weg, und nur die Frau, die Viktor an seine Mutter in ihrer Jugend erinnerte, eine Irakerin, deren weißes Kopftuch mehr entblößte, als es zu verdecken vorgab, schaute kurz auf, musterte Raschid spöttisch und wandte sich wieder dem Kind zu, das auf ihre Knie gekrochen war und sich nun an ihrem Oberarm festklammerte. Der Kurde ignorierte Raschid. »You are okay, you are really very kind, but this Arab is a bad man«, erklärte er Viktor. »Why don’t you get rid of him?« Die anderen aus der Gruppe schauten konzentriert auf die Displays ihrer Mobiltelefone, auch wenn sie dort wohl kaum etwas Neues entdecken konnten: Es gab kein WLAN im Camp. Raschid, ein Meter neunzig groß, stand im vorderen Teil des Zeltes, die Hände zu Fäusten geballt und in die Hüften gepresst, und schoss über die Köpfe der Frauen und Kinder hinter der ersten Absperrung ein arabisches Wort nach dem anderen auf die jungen Männer ab, die auf den Bänken hinter der zweiten Absperrung Platz genommen hatten. Viktor musste plötzlich daran denken, dass Raschid auf seiner Facebook-Seite gerne Katzenbilder und rosafarbene Herzen postete. Um die Situation zu deeskalieren, teilte Viktor nochmals Schokolade und Kekse aus, ging mit dem Korb in den Bereich des Zeltes, wo die jungen Männer saßen. Es hatte schon Schlägereien im Camp gegeben. Das sollte nicht wieder passieren. Der rothaarige Kurde schüttelte den Kopf und drehte sich mit beleidigter Miene weg, die anderen aus seiner Gruppe griffen unwillig zu, versenkten die in Zellophan eingewickelten Schokostücke in ihre Manteltaschen, bedankten sich mürrisch. Viktor hielt sich keineswegs für eine respektable Persönlichkeit, aber man respektierte ihn, weil seine Haare grau waren und weil er noch um einiges älter aussah als dreiundvierzig. Sogar die jungen Frauen ließen sich von ihm berühren, wenn er ihnen mit einer Sicherheitsschere die Papierbänder, die sie im Camp alte Asfinag, dem viel größeren Transitlager und der ersten Anlaufstation für Flüchtlinge in Salzburg, bekommen hatten, vom rechten Unterarm herunterschnitt. Manchmal fasste er sie am Arm oder krempelte ihre Ärmel hoch. Manche Frauen zuckten zusammen oder verzogen das Gesicht, doch die meisten reagierten gleichmütig. Er war für sie kein Mann, sondern ein Herr — in Würde ergraut und in die Breite gewachsen. »Don’t get upset«, sagte Viktor leise und schielte Richtung Raschid. »Just wait, in twenty minutes you will cross the border, and you will never see this man again.« Die jungen Kurden ließen düstere Blicke durch den Raum schweifen, schienen wütend und resigniert zugleich, vor allem aber müde, unendlich müde wie fast alle Menschen, die in dieses Doppelzelt an der Grenze kamen und es durchquerten, indem sie von einem Bereich in den nächsten vorrückten, um schließlich zu Fuß über die kleine Fußgänger- und Fahrradbrücke, die seit Ende September ausschließlich für Flüchtlinge reserviert war, nach Deutschland zu gehen, wo ein weiteres Camp mit Zelten auf sie wartete. »Auslass der Flüchtlinge« wurde dies hier, auf österreichischer Seite, genannt. Die Farben der Papierbänder und die Buchstaben, die mit schwarzem Filzstift auf die Bänder geschrieben waren, regelten die Reihenfolge des Grenzübertritts. Für jeden Buchstaben...