E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Vigan Die Kinder sind Könige
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8321-7130-8
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-8321-7130-8
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ab sofort als Serienadaption bei Disney+ verfügbar! Mélanie war als junges Mädchen ein großer Fan von Formaten wie >Bis Brother<. Sie hatte stets davon geträumt, gesehen und berühmt zu werden. Jahre später, als Mutter zweier Kinder, ist es ihr gelungen: Sie ist eine erfolgreiche YouTuberin mit Tausenden von Followern. Objekt ihrer Videos und Posts sind ihre Kinder, die auf Schritt und Tritt gefilmt werden. Seit Kurzem kommt ihre kleine Tochter Kimmy dem Filmen doch immer unwilliger nach. Mélanie tut das als eine Laune ab. Denn wie könnte man die unendliche Liebe, die ihnen aus dem Netz entgegenkommt, als Last empfinden? Doch kurz darauf verschwindet Kimmy nach einem Versteckspiel spurlos.
DELPHINE DE VIGAN, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman >No & ich< (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman >Nach einer wahren Geschichte< (DuMont 2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Zuletzt erschien bei DuMont ihre Romane >Dankbarkeiten< (2019) und >Das Lächeln meiner Mutter< (2020). Die Autorin lebt mit ihren
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KRIMINALPOLIZEI – 2019
VERMISSTES KIND KIMMY DIORE Betr.: nach Typ sortierte Beschreibung der Videos des YouTube-Kanals Happy Récré UNBOXING (bis zu zwanzig Millionen Aufrufe) Bruder und Schwester, die meistens nebeneinander stehen, öffnen wie vom Himmel gefallene »Überraschungs«-Pakete. Mélanies fröhliche, energiegeladene Stimme gibt ihnen jeden Schritt des Auspackens vor. »Na los, jetzt machen wir es ganz auf!« – »Was ist drin?« – »Oh, da sehe ich noch etwas …« – »Was ist denn das da, diese kleine grüne Schachtel?« – »Jetzt setzen wir die Batterien ein!« – »Oh, man kann die beiden Hebel ja bewegen, das ist echt super!« Die Kinder geraten in Verzückung und äußern ihre Freude: »Oh là là, das ist aber ein großer Karton!« – »Das ist eine Mega-Wucht!« – »Wow!« Sobald Kim und Sam mit dem Auspacken fertig sind, testen sie das Spielzeug, die Gesellschaftsspiele oder die Gameboys. Ein typischer Kommentar von Sammy: »Einfach irre, das Ding!« Ein typischer Kommentar von Kimmy: »Ich kann es gar nicht glauben!« Die Langeweile nahm seltsame, versteckte Formen an. Die Langeweile verbarg sich und wollte nicht so genannt werden. Nach Sammys Geburt, als sie nachts nicht mehr aufstehen musste, um ihn zu stillen oder weil er aufgewacht war, als sie sich eine neue Frisur zugelegt und ein paar Kilo abgenommen hatte, als sie körperlich gut in Form zu sein schien, kurzum, in dem Augenblick, in dem ihr Leben eine Art Reisegeschwindigkeit erreicht hatte, begann Mélanie Claux zu weinen. Das geschah häufig morgens, wenige Minuten nach dem Aufbruch ihres Mannes. Sie hatte festgestellt, dass ihr Leben nach einer vorhersehbaren Ordnung ablief. Was sie insgesamt beruhigend fand, was jedoch an manchen Tagen eine Art Schwindel, ja Übelkeit, bei ihr auslöste. Um acht Uhr spielte Bruno ein bisschen mit dem Baby, um fünf oder zehn nach acht sah er auf die Armbanduhr, sagte oh, jetzt muss ich aber los, küsste sie, griff nach Regen- oder Wintermantel und zog die Wohnungstür hinter sich zu. Dann hatte sie das Gefühl, dass ihr Körper ins Leere fiel, nicht in die große Leere, eher in so etwas wie ein innerhalb der Wohnung verborgenes erbärmliches Loch. Dann machte sie selbst sich daran, ihren Sohn zu unterhalten (er hatte eine Leidenschaft für Fingerpuppen entwickelt), und legte ihn schließlich für das Vormittagsschläfchen in sein Gitterbett. Danach kehrte Mélanie in die Küche zurück, räumte den Frühstückstisch ab, wischte alles sauber, setzte die Spülmaschine in Gang, ließ sich auf einen Stuhl fallen und weinte etwa zwanzig Minuten lang. Später am Tag blieb sie manchmal einfach so, mit hängenden Armen, im Wohnzimmer stehen. Während Sam schlief oder allein in seiner Babywippe oder in seinem Laufställchen spielte, stand sie reglos vor dem Fenster, sie sah nicht hinaus, sie sah gar nichts an, oder vielleicht sah sie sich in ihrem Innern diese öde, platte Weite an. In dieser Haltung konnte sie mehrere Minuten lang verharren und dabei die Geräusche von außen, das klingelnde Telefon oder Sammy, der mit Geschrei ihre Aufmerksamkeit zu erregen versuchte, ignorieren. Zu dieser Abwesenheit gehörte ein sehr sanftes Gefühl, ein Gefühl des Dahintreibens, fast ein Wohlgefühl, und es fiel ihr immer schwerer, sich ihm zu entziehen. Manchmal ging sie mit Sammy zum nächsten kleinen Park, doch sobald sie vor dem Eisentörchen stand, gab sie auf. Sie hatte nicht die Kraft, mit den anderen Frauen zu sprechen, Frauen, die wie sie selbst nicht berufstätig waren, oder Tagesmüttern, die sich jeden Tag zur selben Zeit an dem alten Sandkasten trafen, sie hatte keine Lust, sich in dieses Bild einzufügen, und schon gar keine, sich irgendeiner Gruppe, welcher auch immer, anzuschließen. Also ging sie einfach weiter, immer schneller, und schob den Kinderwagen vor sich her wie den orientierungslosen Bug eines vom Kurs abgekommenen Schiffs. An jenen Tagen marschierte sie bis zum Parc de Sceaux, auf dessen Wegen sie bis zum Einbruch der Dunkelheit hin- und herlief, auf der Suche nach einer Trunkenheit, die diese namenlose Leere ausfüllen könnte. Einen Teil ihrer Schwangerschaft hatte Mélanie Claux damit verbracht, sich Les Anges de la téléréalité anzuschauen. Die erste Staffel dieser Reality-TV-Engel, die im Winter 2011 auf einem TNT-Kanal ausgestrahlt worden war, hatte großen Erfolg gehabt. Man hatte für diese neue Serie frühere Reality-TV-Kandidaten ausgesucht, unter denen sie sofort Steevy erkannt hatte, eine der Ikonen der ersten Loft-Serie. Er war nicht mehr der Junge von zwanzig Jahren mit wasserstoffgebleichtem Haar, den sie hatte weinen und lachen sehen, er hatte überlebt und war älter geworden. Die anderen waren wegen ihrer allseits bekannten Leistungen in Secret Story oder L’Île de la tentation genommen worden, in Mélanies Jugend prägende Serien, von denen sie sich keine Folge hatte entgehen lassen. Marlène, Cindy, Diana, John-David, sie kannte sie alle. Sie hatten eine erste Chance gehabt und waren vom Publikum gesehen und geliebt worden, und jetzt bot man ihnen eine zweite Chance, einen zweiten Start, die Gelegenheit, ihre Karriere fortzusetzen oder zu beschleunigen. Doch sie, die Mélanie aus Rendez-vous dans le noir, deren Auftritt zu kurz gewesen war, um irgendeine Spur zu hinterlassen, war von niemandem geholt worden. Niemand hatte sie eingeladen, nach Beverly Hills in diese herrliche Villa zu kommen, »um ihren Traum wahrzumachen und berühmt zu werden«. Denn das war das Versprechen der Anges. Niemand hatte an sie gedacht, denn alle hatten sie vergessen. Sie hatte ihre Chance gehabt und sie verpasst. Wenn sie an diese Episode (das war der Begriff, den sie verwendete, er passte gut zu der Vorstellung, die sie sich von ihrem eigenen Leben machte, das sie gern in Staffeln, im Fernsehseriensinn des Wortes, unterteilt gehabt hätte, die ihrerseits, trotz einer nicht zu leugnenden Monotonie, in Episoden aufgeteilt wären) dachte, dann hatte sie den Eindruck, gescheitert zu sein. Nie war ihr der Gedanke gekommen, ein anderer Grund, beispielsweise im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Gegebenheiten oder den Anforderungen des Systems, zu dem sie gern gehört hätte, könne ihr Scheitern erklären. Nein. Sie konnte die Schuld nur bei sich selbst suchen. Sie hatte den Zug abfahren lassen. Kurz nach Sammys erstem Geburtstag hatte sie sich auf Anraten Brunos, der fand, sie sei ein wenig niedergeschlagen, auf Facebook angemeldet. Bruno hatte sie dazu gedrängt: Facebook erlebe einen kometenhaften Aufstieg in Frankreich und überall auf der Welt, es sei Zeit, dass sie sich damit befasse. Auch wenn sie nicht viele Freunde habe, so würde sie auf diese Weise welche finden und mit Leuten in Verbindung treten, die sie aus den Augen verloren habe. Sie habe sich sehr auf den Haushalt und ihren Sohn konzentriert, nun müsse sie sich nach außen öffnen. Bald gab es bei Mélanie kein morgendliches Weinen mehr, sie starrte nicht mehr im Wohnzimmer ins Leere, irrte nicht mehr über die Wege im Park. Wann immer Sammy sein Mittagsschläfchen machte oder sich sonst eine Pause ergab, konnte sie auf ihr Konto gehen. Sie hatte neue Bekannte, postete Fotos und Kommentare, markierte die Fotos und Kommentare der anderen mit Likes, sah anderen beim Leben zu und gab Einblicke in die Schokoladenseiten ihres eigenen Lebens. Das genügte mehrere Monate lang, um dieses Gefühl eines Mangels auszugleichen. Sie kommunizierte mit anderen Müttern, tauschte Ratschläge und Rezepte aus und näherte sich einer Vereinigung an, die sich aktiv für das Stillen einsetzte. Sie hatte das Gefühl, einen Platz auf der Welt gefunden zu haben, einen Ort zum Leben. Eines Morgens wurde sie von einer ihrer virtuellen Freundinnen für die Teilnahme an der Motherhood Challenge nominiert, einen aus den Vereinigten Staaten übernommener Wettkampf, bei dem es um die Freuden der Mutterschaft ging. Er folgte einem simplen Prinzip: Sie musste vier Fotos ins soziale Netz stellen, die zeigten, warum sie »stolz, Mutter zu sein« war und anschließend andere Frauen in ihrem Umfeld taggen, die sie für gute Mütter hielt. Sammy war ein hübsches Baby, aufgeweckt und pausbäckig, Mélanie fand die Idee wunderbar. Außerdem hatte sie sich den Titel super maman wirklich verdient, wenn man bedachte, mit wie viel Eifer sie den manchmal widersprüchlichen Anweisungen in den Elternzeitschriften folgte, die sie gleich nach ihrer Heirat abonniert hatte. In ihrem Computer fand sie vier Fotos, die ihrer Meinung nach das glückliche Aufgehen in der Mutterschaft illustrierten: ein Foto von ihr als Schwangerer am Strand, das Bruno bei sehr schönem Spätnachmittagslicht aufgenommen hatte, ein Foto von Sammy mit einem hinreißenden Baumwollmützchen wenige Stunden nach seiner Geburt, ein Foto von ihr mit der Babytrage vor dem Bauch, in der Sammy mit offenem Mund eingeschlafen war. Und schließlich ein neueres Foto von ihnen dreien, auf dem sie wie die Royals heiter lächelnd auf dem Wohnzimmersofa saßen. Sie hatte sie farblich geschickt zusammengestellt, die Fotos bildeten ein harmonisches Ganzes in Braun- und Mauvetönen. Sie bekam viel Lob dafür. Von da an postete Mélanie auf ihrem Facebook-Konto regelmäßig Fotos von Sammy und erntete dafür in dem Maß, in dem sie sich neue witzige Szenen oder Umgebungen einfallen ließ, um ihr Kind zur Geltung zu bringen, immer mehr Likes und begeisterte Kommentare. Sie war glücklich. Dass Mélanie ihrem Mann kein sexuelles Verlangen mehr entgegenbrachte, war ein Thema, das sie nie ansprachen. Sie liebte ihn, aber sie hatte keine Lust...