E-Book, Deutsch, 328 Seiten
Visser Gib deinem Affen eine Banane
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7557-4388-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zen-Koans für unseren Alltag
E-Book, Deutsch, 328 Seiten
ISBN: 978-3-7557-4388-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
o Wieso bin ich ständig abgelenkt beim Meditieren? o Warum bin ich immer wieder wütend, ärgerlich usw., obwohl ich doch schon so lange Achtsamkeit übe? o Gibt es Tricks für ein spirituelles Leben im Alltag? Mit solchen praktischen Fragen beschäftigt sich der Autor und Familienvater in seinen Zen-Vorträgen, geschult durch seine Kinder, seine Zen-Schüler*innen und durch die Herausforderungen als Betriebsarzt. Aber auch grundlegende Fragen wie o der Sinn im Leben, o Karma und Wiedergeburt und o "Was ist Erleuchtung?" werden besprochen.
Kyo Shin, Dr. Willem Menno Visser, geb. 1957, studierte Medizin, Soziologie und Theaterwissenschaft in Göttingen. Nach mehreren Jahren in der Inneren Medizin und Chirurgie wurde er Arzt für Arbeitsmedizin und arbeitete über 30 Jahre lang als Betriebsarzt. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. 1990 begann er mit der Zen-Übung in der Sangha des Zen-Kreis Bremen und wurde Schüler von Rei Shin Wolf-Dieter-Nolting und Rei Ho Christoph Hatlapa. Später wechselte er zu En Kyo Regina Weißbach, die ihn 2012 er zu ihrem Dharma-Nachfolger ernannte. Seit 1998 praktiziert er zusätzlich in der Tradition des vietnamesischen Zenmeisters Thich Nhat Hanh. Dort lautet sein Dharma-Name "Quelle tiefgründiger Bewusstseinsschulung". Menno Visser bietet im Zen-Kreis Bremen wöchentlich Einzelgespräche (Dokusan bzw. Taiwa) an und führt regelmäßig Sesshins durch. Seine Sesshin-Angebote und die Audio- und Videomitschnitte seiner Vorträge sind zu finden unter http://zenkreis-bremen.de/. Da er auch Mitglied der Choka-Sangha (Steyerberg) ist, werden einige seiner Sesshins auch im dortigen Tempel ToGenJi durchgeführt, siehe https://choka-sangha.de/. Weitere Angebote sind Kurse zum Thema "Meditation und Achtsamkeit in Beruf und Alltag" und zusammen mit seiner Ehefrau mehrtägige Retreats zum Thema "bewusstes Wandern" (2021/22 keine Angebote). Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit sind neben der Koan-Arbeit insbesondere Übungen und "Tricks" für die Zen-Praxis im Alltag.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
PSYCHOLOGISCHE ASPEKTE
1. Gib dem Affen eine Banane
– buddhistische Psychologie
(Shoyoroku, Fall 72)
DER FALL: Kyozan fragte Chuyu: „Was bedeutet eigentlich ‚Buddha-Natur‘?“ Chuyu antwortete: „Dir zur zu Liebe will ich ein Beispiel erzählen: Da ist ein Raum mit 6 Fensteröffnungen und in der Mitte des Raumes befindet sich ein Affe. Eine Person draußen ruft: ‚Affe! Affe!‘ und der Affe antwortet. In der gleichen Weise reagiert der Affe an allen 6 Fenstern, wenn er durch sie angesprochen wird.“ Kyozan darauf: „Was ist, wenn der Affe schläft?“ Chuyu verließ sein Meditationskissen, griff ihn beim Arm und sagte: „Affe! Affe! Du und ich, wir haben uns gerade getroffen!“ GLOCKE Buddhisten reden immer wieder von der Buddha-Natur: „Ich will meine Buddha-Natur verwirklichen.“ Und tun so, als wüssten sie genau, was die Buddha-Natur ist. Ganz so klar scheint es aber doch nicht zu sein. Sonst würde es nicht so viele Koan-Geschichten darüber geben, in denen der eine Zenmönch den Anderen danach fragt. Oft ist die Antwort etwas harsch, so z. B. im Fall 34 der Koan-Sammlung "Eiserne Flöte". Ein Mönch fragte den Zenmeister Seppo: „Sage mir, wie siehst du deine eigene Buddha-Natur?“ Als Antwort gab der Meister dem Mönch drei Stockhiebe. Das hielt den Mönch aber nicht davon ab, zu einem anderen Kloster zu pilgern und dem dortigen Zenmeister Ganto die gleiche Frage zu stellen. Und ratet mal, was die Antwort war? Richtig, drei Hiebe mit dem Stock. Typisch, werden manche von euch sagen. Typisch martialisches Macho-Zen! Die Akteure in diesem Koan, also Kyozan und Chuyu, sind dagegen Anhänger von Marshall Rosenberg und kommen gerade von einem Seminar in gewaltfreier Kommunikation – und das in China vor 1200 Jahren. Chuyu spricht also nicht mit Wolfssprache, sondern übt Giraffensprache, wenn er sagt: „Dir zur zu Liebe will ich ein Beispiel erzählen: Da ist ein Raum mit 6 Fensteröffnungen und in der Mitte des Raumes befindet sich ein Affe. Eine Person draußen ruft: ‚Affe! Affe!‘ und der Affe antwortet. In der gleichen Weise reagiert der Affe an allen 6 Fenstern, wenn er durch sie angesprochen wird.“ Also da gibt es einen Affen, der in einem Raum mit 6 Öffnungen lebt. Ihr könnt euch das vorstellen wie ein Ein-Zimmer-Haus mit 6 Fenstern. - Wieso genau 6 Fenster? Nun das sind die 6 Sinnesqualitäten, mit denen wir Menschen ausgestattet sind, also Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Körperempfinden. Der Sinn für das Körperempfinden umfasst dabei diverse Sinne, u. a. den Schmerz- und Tastsinn sowie das Gleichgewichtsorgan. Wer jetzt genau aufgepasst hat, zählt nur 5 Fenster, also 5 Sinnesorgane. Das ist auch richtig, denn im westlichen Sprachgebrauch werden nur 5 Sinnesorgane unterschieden. Mit dem berühmten 6. Sinn sind ja auch nur diejenigen ausgestattet, die zu übersinnlichen Wahrnehmungen fähig sind, oder intuitiv das Richtige tun nach dem Motto: „Da hat mich mein 6. Sinn gewarnt …!“ In der buddhistischen Psychologie dagegen gibt es wirklich einen 6. Sinn, nämlich den Denksinn. Wem jetzt die Haare zu Berge stehen, weil das zu sehr nach esoterischem Unsinn klingt, dem sage ich „Warte ab!“ Denn was ist mit den anderen Konstrukten, mit denen die moderne westliche Psychologie die Funktion unseres Gehirns erklärt? Was ist mit dem Modell von Freud: Über-Ich, Ich und Es. Oder mit der Transaktionsanalyse: Eltern-Ich, Erwachsenen-Ich und KindIch. Oder was ist mit dem Modell des Inneren Teams von Schulz von Thun. Die Annahme eines 6. Sinnes, eines Denksinns oder Denkorgans, ist eine solche Modellvorstellung, die erklären soll, wie wir funktionieren. Und diese Modellvorstellung hat viel Charme, weil sie uns hilft, unsere Buddha-Natur zu verstehen. Kein Wunder also, dass Kyozan sich der buddhistischen Psychologie bedient, um die Frage nach der Buddha-Natur zu beantworten. Was ist der Denksinn denn eigentlich? Der Denksinn ist dazu da, alle unsere Geistesprodukte wahrzunehmen. Und da hat unser Denksinn viel zu tun, denn unser Gehirn ist voll mit Geistesprodukten: Ihr alle kennt Tagträume und Gefühle. Aber auch die Produkte unseres planenden Geistes gehören dazu. Und unsere Willensregungen. Einfach alles, was wir denken. So sinnvoll unsere Geistesprodukte manchmal sein mögen, oft nerven sie enorm: Gerade, wenn wir einschlafen wollen, fällt uns ein Geistesprodukt ein, das wir im Moment überhaupt nicht gebrauchen können, z. B. den bevorstehenden Abgabetermin für unsere Masterarbeit. Auch beim Meditieren nerven unsere Geistesprodukte: So habe ich einmal 25 Minuten lang darüber meditiert, wie toll es wäre, wenn sich ein paar Kilometer südlich von Bremen ein 5000 m hohes Gebirge erheben würde. Wie toll ich da wandern könnte! Während dieser 25 Minuten hatte ich überhaupt keine Schmerzen, obwohl es der berüchtigte schmerzreiche dritte Tag eines Sesshins war. Meine Wirklichkeit in diesen 25 Minuten war mein innerer Fantasie-Film vom Fünftausender, und da traten alle anderen Wahrnehmungen in den Hintergrund. Das revolutionäre an der buddhistischen Psychologie ist, dass sie vor 2000 Jahren erkannte, dass unsere Geistesprodukte als innere Wirklichkeit genau so bedeutend sind wie die äußere Wirklichkeit. Sie erkannte, dass der Denksinn sogar wichtiger ist als die anderen Sinnesorgane. Bei dem ganzen Gerede über unsere Geistesprodukte: Das Ziel unserer Meditation sollte doch sein, gar keine Gedanken zu haben, quasi gedankenlos zu sein und völlig im Nichts zu verweilen. Wenigstens denken wir oft, dass das das Ziel der Meditation und überhaupt das Ziel von Zen sei. Wenn wir jedoch unsere Meditation mit der Vorstellung betreiben, möglichst keine Geistesprodukte zu haben, engen wir die Wahrnehmungsfähigkeit unseres Denksinns ein, ja wir versuchen dann, unser Denken abzuschneiden. Dieses Einengen und Abschneiden unseres Denksinns kann aber nicht Ziel unserer Meditation sein. Im Gegenteil geht es im Zen darum, alle unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten, also unsere Fensteröffnungen, zu erweitern. Insofern ähnelt Zen vielen psychotherapeutischen Verfahren, in denen es auch darum geht, uns von (nicht mehr zu uns passenden) Vorstellungen - wie wir zu sein zu haben oder nicht zu sein haben – zu befreien. Dazu müssen diese Vorstellungen jedoch wahrgenommen werden können. Jede (tiefenpsychologisch fundierte) Psychotherapeutin ist also eine Abbrucharbeiterin, die das 6. Fenster erweitert, damit der Denksinn mehr von der inneren Wirklichkeit wahrnehmen kann. Im Unterschied zu dieser Art von Psychotherapie beschäftigt sich Zen dann allerdings nicht weiter mit unseren Geistesprodukten. Im Zen freuen wir uns zwar, wenn unser Geist immer weniger von Vorstellungen eingeengt wird, aber weder unsere einengenden Vorstellungen selbst, noch das, was unser Geist ohne diese Vorstellungen ungehinderter wahrnehmen kann, wird im Zen analysiert. „Jetzt meditiere ich schon länger, und meine Gedanken während der Meditation nehmen zu statt ab!“ Kennt ihr das? - Ich höre das oft von meinen Schüler*innen. Das passiert, wenn wir die Fensteröffnung für unseren Denksinn erweitert haben und ist nichts Schlimmes. Dass wir bei einem längeren Zen-Sesshin dann irgendwann immer weniger Geistesprodukte produzieren, steht auf einem anderen Blatt. Darüber will ich heute nicht sprechen. Sind wir eigentlich abgeschweift von dem Koan? Nein, im Gegenteil, wir sind mitten drin in dem wunderbaren Bild von Chuyu: So wie der Affe die Wirklichkeit seiner eigenen Geistesprodukte mit dem 6. Sinn nur eingeschränkt wahrnehmen kann, so kann er auch mit den anderen 5 Sinnen die ihn umgebende Wirklichkeit nur gefiltert und verzerrt wahrnehmen. Er schaut ja auch nur durch kleine Fenster. Das liegt nicht nur an daran, dass z. B. unsere Augen nicht alles wahrnehmen können, sondern auch daran, dass unser Gehirn nur eine begrenzte Anzahl von Informationen verarbeiten kann. Unser Arbeitsspeicher hat höchstens – ich nenne jetzt mal eine Hausnummer - 8 Megabyte, oder vielleicht waren es bei Einstein 12 Megabyte. Aber auch Einsteins Arbeitsspeicher war begrenzt. An diesem kleinen Arbeitsspeicher können wir mit der Zen-Praxis oder mit anderen Methoden nichts ändern. Wenigstens nicht, solange wir nicht irgendwelche zusätzlichen Chips ins Gehirn einbauen können. Woran wir etwas ändern können, ist unsere Arroganz, zu glauben, dass wir uns und unsere Umwelt wissen. Gerade durch Zen lernen wir, wie sehr unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit eingeengt ist. Dies gilt insbesondere für die Geistesprodukte, die unser Denksinn wahrnimmt. Denn der Affe reagiert ja immer, egal, durch welches Fenster er von außen angerufen wird. Egal, ob der Seh-Sinn ein heranrasendes Auto sieht, oder ob der Denksinn unseren Ärger über "den Regen genau jetzt" wahrnimmt. Der Affe antwortet sofort. Er ist den Sinneseindrücken hilflos ausgeliefert. Und er merkt es gar nicht einmal. Der Affe nimmt wahr: Das bin ich! Ich bin das, was meine 6 Sinne mir erzählen, insbesondere der 6. Sinn, also der Denksinn. Das bin ich. Der Affe...




