E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Vittachi Shanghai Dinner
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-293-30603-5
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Fengshui-Detektiv rettet die Welt. Kriminalroman. Der Fengshui-Detektiv (4)
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-293-30603-5
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nury Vittachi, geboren 1958 in Sri Lanka, gilt - laut BBC - als »Hongkongs witzigster Kommentator«. Aufgewachsen u. a. in Großbritannien, lebt er seit 1986 in Hongkong, wo er sich als Kolumnist, Buchautor und Herausgeber einer Literaturzeitschrift Kultstatus verschafft hat. Er arbeitet als Dozent an der Hong Kong Polytechnic University.
Weitere Infos & Material
1
Im alten China, im ersten Jahrhundert, wurde ein Übeltäter ertappt, als er eben den Kaiserpalast ausrauben wollte. Man verurteilte ihn zu zwanzig Tagen Kerker. Der Kerker war jedoch, wie sich zeigte, kein gewöhnliches Gefängnis. Er bestand aus weißen Vierecken, die auf den nackten Boden gemalt waren.
Man führte den Räuber in die Mitte eines der gemalten Vierecke. Nur ein einziger anderer Mensch befand sich dort im angrenzenden Viereck: ein alter Mann mit langem Bart.
Der Räuber fragte: »Was ist denn das für ein Kerker?«
Der alte Mann sagte: »Der schlimmste, den es gibt auf der Welt. Sollte ein Gefangener je seine Linien überschreiten, so kommen alle Dämonen der Hölle und verschlingen ihn.«
Der Räuber war entsetzt und verharrte die vollen zwanzig Tage innerhalb der gemalten Striche. Nach Ablauf der Frist trat der alte Mann aus seinem Viereck heraus.
Der Räuber fragte: »Warum wirst du nicht von den höllischen Dämonen aufgefressen?«
Der alte Mann antwortete: »Ich bin kein Gefangener. Ich bin der Wärter.«
Grashalm: Die Leute glauben, dass sie auf ihre Umgebung reagieren. In Wahrheit jedoch reagieren sie darauf, wie andere auf ihre Umgebung reagieren. Die schlimmsten Dämonen hausen im Innern des Men…
Kawumm! In ohrenbetäubendem Tosen ging die Welt zugrunde. Zumindest klang es so. Und wirklich erzitterte das Gebäude derart heftig, dass C.F. Wong der Füller aus der Hand flog und die elegante letzte Zeile mit einem unschönen Krakel abschloss. Jäh fuhr er hoch, plötzlich auf der Hut. Mut yeh si? Was ist los? Ist das Ende der Welt gekommen? Bricht das Büro zusammen? Hat jemand im oberen Stockwerk einen Amboss fallen lassen? Er sah, wie durch die Erschütterung sein Becher mit Chrysanthemen-Tee zum äußersten Tischrand wanderte, und zog ihn zurück.
»Himmel!«, sagte seine Assistentin Joyce McQuinnie, deren Kopfhörer von ihrem Schreibtisch rollten und zu Boden fielen. »Was war das denn? So was wie 'n Erdbeben?« Sie begann an einem Fingernagel zu knabbern.
»Aijaaaa!«, schrie Wongs Sekretärin Winnie Lim, die aus ihrem vegetativen Zustand erwachte und vom Stuhl aufsprang. »Jeder muss selbst zuerst retten!« Sie wühlte in ihrem Schreibtisch und torkelte dann aus dem Büro. »Wenn ich umkomme, ich verklag Sie!«, warnte sie ihren Arbeitgeber aus dem Korridor und klickte dann auf ihren Pfennigabsätzen die Treppe hinunter. Unversehens verstummte das Geräusch ihrer Schritte. Offenbar hatte sie es sich anders überlegt. Klick, klack, kam es wieder näher, als sie zurückstieg. Wie ein kleines Nachbeben stürmte sie durch die Bürotür und grub in ihrer Schublade nach etwas Wichtigem, das sie retten musste: ihrem silbrigrosa Lippenstift, den man hierzulande nicht bekam.
In diesem Augenblick schickte ein neuer gewaltiger Stoß noch heftigere Vibrationen durchs Gebäude und durchzitterte alles Lebende und Unbeseelte im Raum. Wongs Teebecher fiel vom Tisch, und er musste zusehen, wie er mit melodischem Klirren am Boden zerschellte. Auf dem fadenscheinigen Teppich hinterließ der helle Tee einen Fleck, dunkel wie Blut. Wieso verursachten helle Flüssigkeiten so oft schwarze Flecke? Wong schob die Frage für künftige Überlegungen beiseite. Joyce' iPod landete neben ihren Kopfhörern am Boden. Jetzt hatte sie vier Finger im Mund.
Winnie wimmerte und stakste ohne ihren kosmetischen Schatz wieder hinaus. »Sie schulden mir ein Lippenstift Vergütung«, keifte sie.
»Ehe ich zahle, sterbe ich lieber!«, rief Wong ihr nach.
»Ja, ich hoffe«, gab Winnie zurück und klapperte schwankend die Treppe hinab. »Heute!«
Joyce, vor lauter Unentschiedenheit wie gelähmt, biss sich nicht länger auf die Finger, sondern zog sie aus dem Mund und begann stattdessen an ihrer Unterlippe zu nagen. Winnies Vorbild folgend sah sie sich nach wichtigen Besitztümern um, kramte in den Zeitschriften auf ihrem Schreibtisch und fand ihre wertvollste Habe: ihr Handy, oder genauer das digitale Adressenverzeichnis darin.
Joyce neigte bei Panik zu verlangsamter Reaktion: je akuter, desto zögerlicher. Das war freilich kein besonders intelligentes Verhalten, auch entsprach es durchaus nicht der evolutionären Überlebenstheorie. Aber so war Joyce nun mal. Sie hatte wirklich keine Ahnung, wie sie auf die Situation reagieren sollte. »Wir ziehen wohl am besten Leine, sag ich mal?«
Selbstverständlich hatte Joyce Angst, doch zugleich war sie einfach sauer. Sollte sie jetzt vor Furcht oder vor Frust schreien? Ein Erdbeben! War das zu fassen? Im Lonely Planet stand kein Wort über Erdbeben. Schon die ganze Woche war sie irgendwie genervt, weil sie sich nach dem schicken, englischsprachigen Singapur in Shanghai nur schwer zurechtfand. Hier sprach ja fast niemand Englisch. Die meisten Hinweistafeln, Ladenschilder, Speisekarten und überhaupt alles trugen nur chinesische Schriftzeichen. Zudem kam ihr das Leben in dieser Stadt größtenteils unwirklich vor. Die Gebäude schienen direkt vom Set der Jetsons – oder vielleicht von Dune – zu stammen: antik und futuristisch direkt nebeneinander. Einer der oft abgebildeten Shanghaier Wolkenkratzer sah aus wie eine Stahlzange, die einen Ballon hielt. Andere waren kugelförmig, und einer glich einem Ball am Stiel: ein absurdes, gigantisches kantonesisches Fischbällchen, in dem Leute herumwuselten. Das Park Hotel wirkte, als hätte jemand eine Kopie des Empire State Building gebaut und dann darauf herumgetrampelt und die Stockwerke zusammengedrückt. Nicht weit davon stand das Radisson, ein hoher weißer Turm, auf dem anscheinend ein riesiges UFO aus einem Science-Fiction-Streifen der Fünfzigerjahre gelandet war. Zwei dünne Seile hingen von Dachverstrebungen herab, als ob die Außerirdischen gerade angeln würden.
Ebenso abartig wie die Architektur erschien ihr die hiesige Kultur. Täglich entdeckte sie Neues, Seltsames und total Unglaubliches. War die Menschheit wirklich reif für den Fischleder-Anzug aus Heilongjiang-Lachs von Hezhenin? Oder für die englischen Schildchen in manchen Taxis: »Keine Betrunkenen und Psychopathen ohne Wärter«? Sollte es Läden echt erlaubt sein, getrocknete Schweineschnauzen auszustellen? Die wollte doch wohl keiner sehen, geschweige denn verzehren! Und als sie Shanghaier Bekannten erzählte, dass sie kein Fleisch mehr aß, meinten diese argwöhnisch, Vegetarismus sei ein Kult, der traditionell mit Gewalt, Gangstertum und Unterwelt zusammenhinge. China war dermaßen anders als … na ja, die ganze Welt, dass Joyce sich bedroht und ausgesetzt fühlte. Je weniger sie ihr neues Domizil begriff, desto stärker hatte sie den Eindruck, dass unter ihren Füßen Risse und Spalten klafften. Und jetzt schwankte Shanghai tatsächlich! Die Eingeweide der Stadt rumorten. Ebenso ihre eigenen: Sie merkte, dass sie dringend auf die Toilette musste.
Wong gab ihr vom andern Ende des Büroraums her keine Antwort. Ihm war unklar, was Joyce gemeint hatte, als sie von »Leine ziehen« redete. Wenn das jetzt wirklich ein Erdbeben war, hatten sie wohl kaum Zeit, irgendwelche Seile zu spannen …
Er war erschüttert, aber nur körperlich. Panik empfand er keine. Er dachte nach. Schon früher hatte er Erdbeben durchgemacht, und das Gefühl vergaß man nicht so leicht. Es war unmöglich, das Grauen bei einem Beben jemandem zu vermitteln, der noch nie eins erlebt hat. Das geht über bloßes Erschrecken hinaus. Da wandelt sich dies eine, auf das man sich immer, immer, immer verlassen hat, in einen tödlichen Feind! Der Boden, das Firmament, die Felsen und Bäume und Berge, die Erde, die festen Fundamente aller von jeher vertrauten Dinge spielen auf einmal verrückt, tanzen minutenlang Shimmy und Tango. In der materiellen Welt entspricht das dem psychischen Schock, den ein Kind erleidet, wenn seine Mutter ihm mitteilt, sie sei nicht seine richtige Mutter, weil es in Wirklichkeit vom Seegespenst Kanasi in der Provinz Xinjiang abstammte. Erdbeben rühren an die tiefste, dunkelste Seite der Seele. Doch das hier hatte nichts dergleichen getan.
»Ich glaube, kein Erdbeben«, kommentierte Wong eher für sich selbst, während er an seinen spärlichen Kinnhaaren zupfte. »Abbruch, glaube ich.«
Er trat an das alte Schiebefenster, das er nicht ohne erhebliche Mühe aufzog. Die kühle Luft eines Shanghaier Apriltags strömte herein, zugleich mit der Erkennungsmelodie der City: Ein winselnder Schlagbohrer-Sopran übertönte atonal das rhythmische Bariton-Stakkato der Presslufthämmer, und seltsam fremd heulte in der Ferne als Tenor-Fuge die Gegenstimme einer Polizeisirene im New Yorker Ton.
Auf dem sumpfigen Ödland vor ihrem kleinen Häuserblock abseits der Henanzhong-Lu1 in einem weniger angesagten Winkel des Huangpu-Bezirks2 standen denn auch etliche wuchtige Geräte, die vorher nicht da gewesen waren. Wong machte sogleich den Übeltäter aus: Ein rostiger grüner Kran schwenkte lässig eine Abrissbirne gegen die Räume, die an ihr Büro im vierten Stock grenzten. Der Anblick war ihm auf Anhieb vertraut und doch neu. In Shanghai gab es an jedem beliebigen Tag einundzwanzigtausend Baustellen, und ihr Bürohaus war anscheinend soeben zur einundzwanzigtausendersten geworden. Doch ein Abriss durch Schwermaschinen samt seiner kompletten Büroeinrichtung: das war entschieden kein gutes Fengshui! Ganz besonders heute, am inoffiziellen Eröffnungstag der Firma C.F....




