Vogel | Es gilt das gesprochene Wort | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Vogel Es gilt das gesprochene Wort

Reden, Grundwerte, Würdigungen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-451-80976-7
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Reden, Grundwerte, Würdigungen

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-451-80976-7
Verlag: Verlag Herder
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Er holte die Olympischen Spiele nach Deutschland, behielt als Justizminister in den schwierigen Zeiten des RAF-Terrors einen kühlen Kopf und gab als Oppositionsführer Helmut Kohl Contra: Hans-Jochen Vogel - eine Ausnahmegestalt der deutschen Politik. Was hat er gewollt? Wer hat ihn geprägt? Welche Werte haben ihn geleitet?
Hier hat er aus seinem gewaltigen Nachlass von über 6.000 Reden die wichtigsten ausgewählt und zieht seine ganz persönliche Bilanz.

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Rede vom 28. November 1989
Folgende Rede hielt ich zum Tagesordnungspunkt »Haushaltsgesetz 1990«. Nach den parlamentarischen Gepflogenheiten fand unter diesem Stichwort eine Generalaussprache über die Politik der Bundesregierung statt, die der Vorsitzende der stärksten Oppositionsfraktion mit seinem Beitrag eröffnete und auf den dann der Bundeskanzler antwortete. So war es auch diesmal. Allerdings stand jetzt – drei Wochen nach dem Mauerfall – die sich rapide verändernde Situation in der DDR und in Osteuropa im Vordergrund. In meiner Rede beschrieb ich diese Situation und gab meiner Freude über eine Revolution Ausdruck, wie es sie so bisher in der deutschen Geschichte noch nicht gegeben habe. Dann präsentierte ich für die nun notwendige Politik der Bundesrepublik ein Fünf-Punkte-Konzept. In ihm bezeichnete ich die Einheit und Freiheit Deutschlands als Endziel und die baldige Schaffung einer Konföderation beider deutscher Staaten als einen wichtigen Schritt auf dem Wege zu diesem Ziel. Außerdem bezeichnete ich es als durchaus möglich, dass es rascher als vermutet zu einer Währungsunion kommen könne. Helmut Kohl antwortete mit einem Zehn-Punkte-Plan, der ebenfalls eine Konföderation vorsah und insgesamt weitgehend mit meinem Konzept übereinstimmte. Von einer Währungsunion sprach er jedoch nicht. Diese lehnte er vielmehr bis Anfang Februar 1990 ab. Danach störte allerdings Oskar Lafontaine als unser späterer Kanzlerkandidat die Einführung der Währungsunion auf seine Weise. Verhindern konnte er unsere Zustimmung zu dem maßgebenden Vertrag aber nicht.31 Einmal mehr hält das, was ich damals sagte, der Prüfung aus heutiger Sicht stand. Das gilt auch für die Verbindung, die ich zwischen der deutschen und dem Fortgang der europäischen Einigung mit der Maßgabe herstellte, dass die bestehenden Bündnisse – also die NATO und der Warschauer Pakt – in eine europäische Friedensordnung überführt werden sollten. Dies ist ja nach dem EU- und NATO-Beitritt osteuropäischer Staaten mit den Kooperationsvereinbarungen zwischen der NATO und Russland im Ansatz geschehen. Dass die Ukraine-Krise diese Kooperation inzwischen in Frage gestellt hat, steht auf einem anderen Blatt. Wiederholen würde ich aus heutiger Sicht auch den dringenden persönlichen Appell an Helmut Kohl hinsichtlich der jetzt notwendigen Deutschlandpolitik, alles Trennende zurückzustellen und darauf zu verzichten, die Ereignisse wechselseitig parteipolitisch auszuschlachten und stattdessen alsbald zu einem Gespräch über ein gemeinsames Vorgehen einzuladen. Das ist leider erst im Mai 1990 geschehen, als das Ergebnis der niedersächsischen Landtagswahl zu einer Veränderung der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat führte und Kohl deshalb in wichtigen Fällen auf unsere Zustimmung angewiesen war. Mein Appell war übrigens auch eine stillschweigende Mahnung an Oskar Lafontaine. Schließlich würde ich heute den Begriff »demokratischer Sozialismus« und die Ost- und Deutschlandpolitik Willy Brandts und Helmut Schmidts ebenso verteidigen wie damals. Und die drei großen Defizite, die ich am Ende meiner Rede darstelle, bestehen auch heute noch und fordern uns unverändert, ja sogar noch stärker heraus. Bei dem Umweltdefizit hätte ich aber gerade in Anknüpfung an meine Rede vom 14. Mai 1986 auch die Kernenergiefrage ansprechen sollen. Etwa mit den Worten: »Wir lehnen den weiteren Ausbau der Kernenergie ab. Die Nutzung der vorhandenen Kernkraftwerke ist nur noch für eine Übergangszeit zu verantworten.« Warum ich das unterlassen habe, vermag ich nicht zu erklären. Im Ganzen gehört die Rede sicher nicht zu den schlechtesten, sondern eher zu den eindrucksvolleren, die ich gehalten habe. *** Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst und vor allem richte ich an diesem Tag und von dieser Stelle aus einen solidarischen Gruß an das tschechoslowakische Volk. (Beifall bei allen Fraktionen) Es hat in einer ebenso eindrucksvollen wie gewaltlosen Erhebung damit begonnen, ein System abzuschütteln, das sich zuletzt nur noch mit brutaler Gewalt an der Macht hielt. Und es hat damit begonnen, Freiheit und Demokratie auch in diesem Herzland Europas wiederherzustellen. Wir nehmen an der Freude unseres Nachbarvolkes teil. Ich grüße zwei Männer als Repräsentanten dieser Volksbewegung, Václav Havel und Alexander Dubcek – (Beifall bei allen Fraktionen) – Alexander Dubcek, der zugleich das lebendige Vermächtnis des Prager Frühlings von 1968 verkörpert.32 Alles, was in diesen Tagen und Wochen geschieht, steht im Zeichen dieser Vorgänge, insbesondere aber der umwälzenden Ereignisse, die sich gegenwärtig in der DDR abspielen. Das gilt auch für die Haushaltsdebatte dieser Woche. Auch diese Debatte können wir nicht so führen, als ob im Grunde noch alles so sei wie vorher. Denn was da geschehen ist und noch geschieht, das berührt auch uns. Es stellt auch uns vor Aufgaben, deren Größe und Tragweite uns nur allmählich bewußt werden. Wir sind nicht Zuschauer, wir sind Beteiligte, und wir stehen auf unsere Weise nicht minder auf dem Prüfstand wie die Deutschen auf der anderen Seite der Elbe. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN) Dort, auf der anderen Seite der Elbe, ist eine Revolution im Gange, wie sie Deutschland in seiner bisherigen Geschichte so noch nie erlebt hat. Nicht eine Revolution von oben, nicht eine langfristig geplante Umwälzung, sondern eine demokratische Revolution, die das Volk selbst in Gang gesetzt hat und deren Richtung und Tempo das Volk selbst bestimmt. Und das mit einer Besonnenheit, mit einer Beharrlichkeit und Festigkeit, die wir immer aufs neue nur bewundern können. Zu Recht sind die Menschen in der DDR darauf stolz. Es ist kein Nationalismus, sondern Ausdruck eines ganz natürlichen Zusammengehörigkeitsgefühls, wenn ich sage: Auch wir sind ein wenig stolz darauf, daß Deutsche das zuwege gebracht haben, (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP) und dankbar dafür, daß hier in wenigen Wochen ein Bild korrigiert worden ist, das sich die Welt im Laufe von Jahrhunderten bislang vom politischen Selbstverständnis der Deutschen gemacht hat. Ich bin überzeugt, diese Bewegung läßt sich nicht mehr umkehren. Das Volk würde jeden beiseite fegen, der den Versuch wagen würde, die alten Verhältnisse wiederherzustellen. – Das ist übrigens ein Zitat aus der Regierungserklärung, die Herr Modrow am 17. November 1989 abgegeben hat. Da kann man nur sagen: Der Mann hat recht, jedenfalls in diesem Punkt. Inzwischen hat sich in der DDR bereits eine Menge verändert. Natürlich steht vieles noch aus, so zum Beispiel die Entlassung der politischen Gefangenen, von denen sich noch immer zu viele in Haft befinden. Wir verlangen die Freilassung aller politischen Gefangenen. (Beifall bei allen Fraktionen) Es steht aus die von uns nicht erst jetzt, sondern schon im März dieses Jahres und davor geforderte Rehabilitierung der in den 40er- und 50er-Jahren zu Unrecht Verfolgten und Inhaftierten, darunter vieler Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN) Es steht aus die förmliche Anerkennung der Tatsache, daß es 43 Jahre nach der Zwangsvereinigung in der DDR dort wieder eine sozialdemokratische Partei gibt. Wir werden übrigens besonders darauf achten, daß die SDP, die sozialdemokratische Partei in der DDR, die für die SED sicherlich eine Herausforderung eigener Art darstellt, in keiner Weise ausgegrenzt, sondern an dem Prozeß mit voller Gleichberechtigung beteiligt wird. (Beifall bei der SPD) Aber Grundlegendes ist bereits geschehen. Die Mauer ist gefallen. Die Grenzen sind geöffnet. Millionen von Menschen aus der DDR haben uns besucht und von der selbsterrungenen Freiheit in einer Art und Weise Gebrauch gemacht, die zeigt, wie sehr sie gerade diese Freiheit entbehrt haben. In diesem Zusammenhang gebührt übrigens zahllosen Männern und Frauen in den Verwaltungen und unzähligen freiwilligen Helfern ein herzlicher Dank dafür, daß sie ohne Rücksicht auf ihre sonstige Belastung mit großen Anstrengungen alles getan haben, um die Abwicklung dieser Besuche in den letzten Tagen und Wochen, vor allem an den Wochenenden, so reibungslos wie nur möglich zu gestalten. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Auch die Informations-, Meinungs- und Demonstrationsfreiheit schreitet voran, steht nicht länger nur mehr auf dem Papier. Eine Verfassungsänderung wird vorbereitet.33 Die bisherige Staatspartei weiß, daß sie ihr Machtmonopol bereits verloren hat und es selbst um den Preis brutaler Gewaltanwendung nicht zurückerlangen könnte. Auch hat eine nüchterne Bestandsaufnahme und eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit begonnen. Für eine Wirtschaftsreform sind immerhin erste Ansätze zu erkennen. Auf all diese umwälzenden, nicht nur die Deutschen, sondern unseren ganzen Kontinent, ja die Welt in Atem haltenden Vorgänge können wir hier in der Bundesrepublik auf zwei sehr verschiedene Weisen antworten. Wir können einmal Trennendes zurückstellen und alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte darauf konzentrieren, der Volksbewegung in der DDR bei der Erreichung ihrer Ziele zu helfen, so rasch und so intensiv, wie wir dazu nur imstande sind. Das ist die eine Möglichkeit. (Beifall bei der SPD) Wir können unsere Hilfe aber auch von immer neuen Begegnungen abhängig machen...


Hans-Jochen Vogel, Dr. jur., war Oberbürgermeister von München, Regierender Bürgermeister von Berlin, Bundesminister für Bauwesen, Raumordnung und Städtebau, Bundesminister für Justiz, SPD-Vorsitzender und Oppositionsführer im Bundestag. Er lebt mit seiner Frau in München.



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