E-Book, Deutsch, Band 2, 230 Seiten
Reihe: Helle Kind
von Pannwitz Das helle Kind - Band 2: Anderswelt
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-95520-286-6
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, Band 2, 230 Seiten
Reihe: Helle Kind
ISBN: 978-3-95520-286-6
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Katharina v. Pannwitz wurde 1964 geboren. Nach einer Ausbildung zur Industrie- und Verlagskauffrau studierte sie Kommunikations- und Theaterwissenschaften. Später entschied sie sich, in der Filmindustrie zu arbeiten. Heute lebt Katharina von Pannwitz gemeinsam mit ihrem Mann in München und ist dort als Autorin tätig. Von Katharina v. Pannwitz erschien bei dotbooks 'Das helle Kind', ihre erste Fantasy-Trilogie.
Autoren/Hrsg.
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2. Kapitel: Thierna Og
Niam stürzte tief. In Todesangst erwartete sie den baldigen Aufprall. Doch ihr Sturz wurde weich aufgefangen. Verwundert öffnete Niam die Augen. Ihre Umgebung hatte sich blitzartig verändert. Die Brandung, die eben noch mit gewaltiger Wucht an die steilen Klippen rollte, war schlagartig ruhig geworden. Das Meer war überzogen mit einem seltsam anmutenden, weißen Teppich. Im Bruchteil eines Augenblicks hatten die Algen des Meeres zu blühen begonnen und bedeckten das Wasser der Bucht mit ihrem weichen Schaum. Niam fiel in eine flauschige Wolke. Wunderbare Seerosen hießen sie mit ihren leuchtenden Farben willkommen. Ein silbriges Licht kam vom Grund des Meeres und erhellte die ganze Bucht. Die Klippen warfen das Leuchten zurück und die Wellen der offenen See fingen es tausendfach auf. Es war ein wunderbarer Anblick.
Plötzlich teilte sich der Blütenteppich und öffnete den Blick nach Westen auf den weiten Ozean. Am Horizont sah Niam weiße Rösser, die den Schaumkronen der Wellen entstiegen. Herrlich waren sie, von edlem Wuchs und rassigem Temperament. In Windeseile jagten sie von den Tiefen des Meeres bis zur Küste. Vor Niam kamen sie zum Stehen und warfen feurig ihre Köpfe in die Höhe. Sie zogen eine prächtige Muschel mit genügend Platz für Niam. Weiche Kissen lagen auf glänzendem Perlmutt und das durchsichtige Dach schillerte wie eine Seifenblase. Mit klopfendem Herzen ließ sich Niam auf den samtenen Polstern nieder, dann machten sich die weißen Pferde pfeilschnell auf den Rückweg nach Westen, der Mitte des Ozeans entgegen. Delphine und Lachse begleiteten Niams Fahrt. An der tiefsten Stelle des Meeres schloß sich die große Muschel und der Zug tauchte ab. So durchbrach Niam das Tor zur Anderswelt, zum magischen Reich der Nixen.
Erschrocken hielt Niam die Luft an. Mit Erstaunen merkte sie aber schnell, das sie in der Kutsche ebenso leicht atmen konnte wie über dem Wasser. Vor ihrem Auge öffnete sich die unbekannte Welt des weiten Meeres, und sie sah sich fasziniert um. Alles um sie herum war fließend, in stetiger Bewegung. In kunstreichen Figuren durchschnitten die Meeresbewohner ihr nasses Element. Lachse in immer größeren Schwärmen schwammen neben dem Muschelgefährt. Ihre silbrigen Leiber blitzten im dunklen Meer auf. Sie hatten während des Tages die Sonnenstrahlen in ihrem perlmuttfarbenen Gewand gespeichert und warfen sie nun bei Nacht tausendfach zurück. Dieses Leuchten tauchte das Meer in ein wundersames Licht, und die Umgebung sah aus wie eine Zauberwelt. Durchscheinende Quallen zogen gemächlich vorbei, lautlos gefolgt von ihren feingliedrigen, langen Armen, kleine Fische in bunten Regenbogenfarben, aber auch Tintenfische und Wale. Sogar der seltene Riesenkrake der Tiefsee gab Niam sein Geleit. Dann waren sie endlich angekommen. Vor Niam auf dem Meeresgrund lag Thierna Og, das Zentrum des Wasserreiches. Durch das Licht seltsamer Leuchtfische hell erleuchtet sah Niam auf grüne Wiesen, die sich über weite Ebenen spannten. Blühende Gärten mit allerlei Früchten und Blumen umsäumten eine große Stadt mit breiten Straßen und prächtigen Palästen. Im Zentrum all dieser Herrlichkeit aber lag die größte Kostbarkeit: Tí Sorcha, das KönigsSchloß von Attalanius, dem Herren der Meere. Majestätisch erhob sich der gewaltige Korallenstock. Die vielen zackigen Wipfel waren mit den wertvollsten Kleinodien der Meere geschmückt, und den Eingang zierten zinnoberrote Korallenblüten.
Hier öffnete sich die Muschel lautlos und Niam verließ vorsichtig ihr Gefährt. Da kam ein großer Salm auf sie zugeschwommen. Seine langen, seidigen Barthaare verrieten sein hohes Alter.
Er verneigte sich vor Niam und sprach: „Folge mir, König Attalanius erwartet dich.“
Niam hatte auf der Reise hierher so viele wunderbare Dinge gesehen, daß sie sich nicht wirklich wunderte, daß sie die Sprache des Fisches verstand. Zu Beginn hatte sie allerdings Schwierigkeiten, denn der Fisch sprach sonderbar. Er blubberte bei jedem Wort und es klang, als redete er mit vollem Mund. Der alte Fisch führte Niam über korallene Stufen durch das große Eingangsportal. Ebenso wie bei Tír Taingire, dem Schloß der Herrin Aífe, war auch das Burgportal von Tí Sorcha mit der Doppelspirale verziert, der Signatur der großen Muttergöttin. Ehrfürchtig betrat Niam das Schloß des Meereskönigs.
Gwydón hatte nicht übertrieben: Tí Sorcha war wirklich wunderschön. Alle Sehenswürdigkeiten und Kostbarkeiten der Meere waren hier versammelt. Seltsame Fabelwesen und magische Erscheinungen schwammen durch die hohen Hallen des Schloßes, die in kunstfertiger Handarbeit in den harten Korallenstamm geschlagen waren. Durch Scheiben aus leise herabfallendem Wasser, die wie eine Wasserscheide wirkten, konnte man auf Thierna Og und das gesamte blühende Land sehen. Der alte Salm schwamm in hohem Tempo vor ihr her, und Niam musste sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. Sie durcheilten weite Gänge, hohe Hallen und festliche Säle. Überall sah Niam prächtige Symbole des Schwans, die hier an nahezu jeder Ecke angebracht waren. Dann erreichten sie die große Kuppelhalle. Dies war das Herz von Tí Sorcha, das Zentrum der Macht von Thierna Og.
Dort war der gesamte Hofstaat versammelt. Es waren hauptsächlich Fische und Seehunde, aber auch vereinzelt menschliche Geschöpfe. Viele der Gestalten konnte Niam nur als Mischwesen bezeichnen, halb Mensch und halb Fisch. Es waren meist Frauen, die als Nixen mit ihren langen, perlmuttschimmernden Fischschwänzen durch den Saal tanzten. Die Luft war hier fließend wie Wasser, und so schwebten sie durch die Hallen, als schwämmen sie im Meer. Sie waren geschmückt mit den Blumen der Meere und ihr Lachen war perlend und bezaubernd. Wie ihr Element, das Wasser, waren sie glänzend und durchsichtig, azurblau und silberfarben. Ihre großen Augen schimmerten und ihr Haar war lang und glänzend. Bei Niams Eintritt verstummte die Menge. Alle drehten sich zu ihr und lächelten ihr aufmunternd zu. Dann gaben sie den Blick frei auf das Zentrum der Kuppelhalle, den Thron des Meereskönigs. Dort saß er, Attalanius, der Beherrscher der Meere, und neben ihm seine Gemahlin, die Dame vom See.
Als der Meereskönig Niam sah, erhob er sich. Er war groß, größer als Niam erwartet hatte. In seiner Hand ruhte Tethròn, der mächtige Dreizack. Sein Gewand hatte die undurchdringliche Farbe des tiefen Meeres und schimmerte in den tausend Farbtönen des Perlmutt. Über seinen Bauch floss ein mächtiger, weißer Bart, dessen Enden an die kleinen Wellen erinnerten, die in sanften Berührungen das Uferland küssten. Doch als Erstes fiel Niam die Farbe seiner Augen auf. Sie waren ebenso strahlend Blau wie Niams. Auch die Dame vom See hatte solche Augen. Langsam trat der König der Meere auf sie zu. Der Saum seines Gewandes war von Wasser umsäumt und wo seine Füße den Boden berührten, zeigte eine Wasserspur seinen Weg. Niam fühlte sich seltsam angezogen. Unwillkürlich ging auch sie dem Meereskönig entgegen. Auf der Hälfte des Weges zwischen dem Thron und dem Eingangsportal trafen sie aufeinander.
Attalanius lächelte sie an: „Niam, ich freue mich sehr, dich endlich zu sehen. Mit glücklichem Herzen begrüße ich dich und heiße dich in Thierna Og willkommen. Sei Gast in meinem Haus. Lange haben wir auf den Tag deiner Ankunft gewartet.“ Auch er blubberte, aber bei ihm klang es anders als bei dem Fisch. Seine Stimme war wie das gewaltige Rauschen der Meeresbrandung, und Niam hatte nur geringe Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Er legte seine Hände auf Niams Schulter und drückte sie fest.
Niam war überrascht. Nie hätte sie eine so herzliche Begrüßung erwartet. Woher der König der Meere wohl ihren Namen kannte? Doch sie kam nicht zum weiteren Nachdenken, denn inzwischen hatte auch die Dame vom See ihren Platz verlassen.
Leise war sie hinzugetreten: „Niam, bist das wirklich du?“, blubberte sie. „Bei der Göttin, du siehst ja aus wie deine Mutter! Komm an mein Herz, geliebtes Kind.“ Damit nahm sie die erstaunte Niam in die Arme und drückte sie an ihren weichen Busen.
Ein warmes Rauschen umfing Niam und sie versank in einem tief vertrauten Gefühl. Unwillkürlich musste sie an ihre Mutter denken.
Dann lockerte die alte Dame ihre Umarmung und betrachtete Niam aufmerksam. „Lass dich ansehen. Dreh dich und zeige deine Schönheit von allen Seiten. Du machst mich glücklich. All die Jahre seit dem Tag deiner Geburt habe ich auf diesen Tag gewartet. Endlich begegnen wir uns. Mein altes Herz ist sehr froh. Wie sehr du doch deiner Mutter ähnelst.“
Niam war nun noch erstaunter. „Ihr kanntet meine Mutter?“
„Natürlich. Weißt du das denn nicht ...? Aber nein, woher solltest du ...“
Niam sah die Dame vom See fragend an, doch diese schüttelte lächelnd den Kopf: „Gedulde dich noch ein wenig. Zuerst stärke dich nach deiner Reise. Wir haben dir zu Ehren ein Festmahl vorbereitet. Dabei musst du uns von dir und den Menschen erzählen.“
Attalanius und die Dame vom See begleiteten Niam den langen Weg zum Thron. Er war überaus prächtig. Sein Sockel war in feinster Handarbeit aus dem Herzen des Korallenstockes, der das Schloß bildete, gemeißelt. Kunstvolle Figuren und Symbole aus Edelstein schmückten seine Lehnen und zwei prachtvolle Karfunkel in Form eines Schwans zierten den Baldachin. Der alte König setzte sich auf die samtenen Kissen und bat Niam, neben ihm Platz zu nehmen. Auch die Dame vom See ließ sich auf ihrem Prunksessel nieder. Dann klatschte Attalanius in die Hände. Wie von Geisterhand zog sich die Wand zurück und gab den Blick frei auf eine reich beladene Tafel. Noch nie hatte Niam solche Köstlichkeiten der Meere gesehen. Doch sie zögerte....