E-Book, Deutsch, 208 Seiten
von Wyl In einer einzigen Welt
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-906913-35-3
Verlag: Lector Books GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-906913-35-3
Verlag: Lector Books GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Einst global bekannte Influencerin, hat sich Nora Savannah in ein leer stehendes Kino an der Atlantikküste zurückgezogen und lebt nun einsiedlerisch. Parallel dazu betreut Andreu Stuppa auf einem Kreuzfahrtschiff seine betagte Klientin und folgt in den wenigen freien Minuten fast manisch Nora in den sozialen Netzen.
Während das Schiff in Yokohama festsitzt, erhält Andreu überraschend und endlich eine persönliche Antwort von Nora. Begeistert vom Austausch mit der Begehrten und nachdem die Passagiere endlich an Land dürfen, macht er sich auf den Weg, um Nora Savannah zu finden.
Was Nora nicht weiß: In ihrem neuen Zuhause wuchert ein Pilz mit Fähigkeiten, die es so zuvor nicht gegeben hat. Was der Pilz entdeckt: ein Bewusstsein, die Idee der Idee und das Internet. Was Andreu erfährt: alles. Und nichts.
Benjamin von Wyl gelingt mit seinem dritten Roman »In einer einzigen Welt« ein literarischer Wurf. Im gleichzeitig utopischen wie dystopischen Rahmen schafft von Wyl ein großes Buch, das Einordnungsversuche unterläuft, relevante Themen mit hoher Spannung sowie Sprache mit Handlung perfekt vereint.
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2.
Als die Nachricht kommt, ist er mal wieder auf ihrem Profil. »Bingo!«, brüllt die Alte. Doch dann zuckt sie, als hätte sie keinen Staubsaugerroboter gewonnen, sondern einen Herzanfall. »Warum klappt das denn nicht? Klick, klick, klicken! Du musst klicken.« Also lässt Andreu das Handy liegen und sucht auf dem Kabinenbildschirm die richtige Schaltfläche, damit das Kabinenpersonal den Preis zur YRT 34/8/7 bringt. Die Nummer ihrer Zelle kennt er auswendig. Sobald Andreu das getan hat, ertönt in seiner wie in Tausenden Kabinen und Dutzenden Suiten ein Geräusch, das ihn an den Siegesjingle bei Flipperkästen erinnert. Hat er sich das eingebildet, oder war das wirklich eine Nachricht von ihr? Der Scheinoffizier mit dem Gewinncoupon ist in Minuten da. Er trägt eine Uniform, als wäre er nicht Abgesandter des Kreuzfahrerschiffs für Bingospiel-Gewinner:innen, sondern Erster Offizier auf der Kommandobrücke eines Flugzeugträgers. Andreu bedankt sich, er würde gerne länger sprechen, weil der Scheinoffizier ein anderer Mensch ist als die, die fast immer da ist. Doch er murmelt bloß ein paar Brocken Englisch, von wegen Danke und wie die Schwimmbecken seien, jetzt, wo sie die Angestellten für sich hätten. So passiert ihm das oft. Worte fehlen, und dann fehlt ihm das Vertrauen ins Sprechen, er macht den Mund nur halb auf. Der Scheinoffizier lässt sich nichts anmerken, Andreu ist immerhin ein Kreuzfahrer. Dann geht er, Andreu schließt die Tür. Die Alte reißt den Umschlag auf, man könne ja sagen, was man wolle, aber die japanischen Produkte bewahrten einen guten Ruf, schon seit sie eine junge Frau gewesen sei. Andreu muss die Angaben vom Gutschein sofort eintippen, veranlassen, dass der Staubsaugerroboter zu ihrer Wohnung in Nordwestreich geliefert wird, er muss sich beeilen, vor den nächsten Zahlen. Dann verlautet die Alte aber, dass sie nun genauso gut aufhören könne. Andreu fragt, ob wirklich. Die hätten die Bingokarten so gemacht, dass alle höchstens einmal gewinnen, das wisse doch jedes Kind. Andreu geht es darum, dass Frau Elisabeth Prader beschäftigt ist und ausgeglichen, möglichst alle Tele-Animationen mitmacht, auch das Dehn- und Bewegungsangebot für Menschen im dritten Lebensalter. Der schnelle Preis sorgt aber dafür, dass es ihr mit ihr selbst langweilig wird. Andreu schaltet probeweise Musik ein, Mozart aus dem Internet, die Alte regt sich auf, aber nicht vor kribbeliger Freude wie sonst, sondern ärgerlich. Die Qualität der Handylautsprecher sei eine Beleidigung. Sofort ausschalten! Es bleibt ein einmaliger Versuch. Aber dass ihm Nora Savannah jetzt wirklich eine Nachricht geschickt hat! Damit ist der Vorwurf der Belästigung nur noch lächerlich. Dass sie rausgefunden hat, dass er hinter diesem Profil steckt, erfüllt ihn mit Stolz. Sie ist eine schlaue Frau, diese Nora. Doch die Antwort muss warten, Andreu fühlt sich nicht frei, solange Frau Elisabeth Prader wach ist. Es stört ihn, hier zu sein und mit ihr. Anders als viele einzelige Menschen läuft er nicht Gefahr, um sich selbst zu kreisen. Seine Bedürfnisse stellt er hinter jene des Exemplars »die Schachtel«, wie er sie in den Nachrichten an seine Schwester nannte, wie sie in seinem Kopf heißt. »Die alte Prader«, wie sie für die Menschen auf dem ungetümen Schiff heißt, die wissen, wer sie ist: Frau Elisabeth Prader. Für andere einfach »die Alte«. Neu hinzugekommen ist auf dem Indischen Ozean der Name »Puste-Omi«, wie sie die Kinder auf der Geburtstagsparty bei der Oberdeck-Achterbahn nannten. Sie war halt im siebten Himmel mit ihm. Er neckte sie, da tat sie so, als wäre der Kuchen vom Kindergeburtstag ihrer. Aber es ist ja sowieso so, dass sie hier nicht alt werden wollen, nicht noch älter, sie und ihr Oberst a. D. … Wie es Harry Salamander wohl geht? Schon seit Wochen hat sie nichts von ihm gehört. Der letzte Stand ist kritischer Zustand. Auch Andreu tut es weh, wie schlecht es dem alten Mann geht. Die Begegnungen mit ihm, wenn auch als Witz, als ironisches »+1,5«, reichten ihm, um zu verstehen, dass der Oberst ein Mensch ist. Er ist neben der Alten der einzige andere, mit dem Andreu bewusst im selben Raum Zeit verbracht hat in den letzten Monaten. Bei allem Angestauten gegen die Alte, ihre Mahlzeiten, Medikamente, Aperitifgetränke und gegen die wenigen anderen Dinge, die der Alten etwas bedeuten, wünscht er dem Oberst das Beste. Bis die Bewegung an Land, die Bewegung des Schiffes und zum Schluss jegliche ihrer Bewegungen geendet haben, interessierte sich Frau Elisabeth Prader – die Alte, die Arbeitgeberin und Abhängige von Andreu – an ihren Destinationen dafür, dass alle erfahren, dass sie zum größten Schiff am Anlegesteg gehört. Je kleiner der Ort, desto kleiner der Hafen, desto kleiner die anderen Schiffe, desto fideler wurde die Alte. Sie suchte sich einen Ankerpunkt, eine Cocktailkarte mit Blick Richtung Meer, bat darum, die Musik auszuschalten, und beschrie ihre Überlegenheit gegenüber den hiesigen Soloexistenzen: Die Drinks seien in Biarritz besser gewesen, auf dem Schiff seien die Getränke ohnehin inklusive, so schaffe sie es als Kreuzfahrerin um die Welt, sonst komme es doch sehr teuer, »so heiß, wie es ist, bei euch im Süden«, und es geht immer südlicher, fast das ganze Jahr lang. »Immer südwärts, südwärts fährt das Kreuzfahrtschiff. Bis ins Hulahula-Land.« Unter Soloexistenzen heißt das Gebiet gemeinhin: die Straße von Malakka. Obwohl sie sich dabei überlegen fühlt, ist die Bewegung ihrer schwimmenden Insel eine Katastrophe für die Sendereichweite von Frau Elisabeth Prader: Von Woche zu Woche hat sie Reichweite gegenüber der lokalen Menschenbesiedelung verloren. Die Sprache Französisch spricht sie radebrechend, die sechste Destination, Gibraltar, war ein Hochmoment für sie. Aber je weiter es ging, desto weniger an Land verstanden Englisch. Am Anfang im Vertrauten, Hamburg, als sie auf der Rampe waren, an der Schwelle zu dieser Jahresreise um die Welt, war das ihre nicht das größte Schiff im Hafen. Frau Elisabeth Prader behauptete es trotzdem gegenüber allen, die auf dem Weg dahin in ihre Hörweite kamen. Niemand hat sich für ihr Ausrufen interessiert. Solange die Häfen noch offen waren, hielten die meisten sie für eine irre Alte, noch älteren Herren imponierte sie. Sie erkundete ihre Umwelt durch die Cocktailkarte, die Soloexistenzen an der Fahrtroute setzte sie herab, sie sah nichts, was sie mit denen verbindet, die eine andere Sprache sprechen. Während Andreus folgenreichster Sichtung an der Kreuzfahrtdestination vier, in der Strandbar auf Madeira, war Frau Elisabeth Prader hacke. Drei Sunset Daiquiri mindestens. Darum konnte sich Andreu so richtig konzentrieren, während die Musik pikste und sein Besitzwillen den weiteren Verlauf übernahm, ihn von ihr einnahm: Nora Savannah. Die Sonnenbrille saß auf der Frisur wie angeklebt, auch als ihre Hände durch die Haare fuhren, die Lippen mit scharfen Konturen. Als sie ihre Beine auf dem leeren Hocker ausbreitete, war sich Andreu sicher, sie tut das für ihn. Sie stellte sich zur Schau. Sein Blick verharrte auf ihrem Platz, als wäre er ein Alkoholiker kurz vor dem Einnicken. Süchtig ist er ja tatsächlich. Bei Jobantritt machte ihn die Sucht von Frau Elisabeth Prader traurig. Je besser er sie kennenlernte, desto mehr war sie ihm ganz recht so, unterwegs nun sowieso. Sie ist bereits Andreus neunte:r Individualklient:in, schon bei der Arbeit im Pflegeheim ist ihm klar geworden, dass die Alkoholsucht der Alten ein gut gehegter Missstand ist, der vielen recht ist, vor allem den Nachkommen. Die Alte blabberte und blubberte, und rechtzeitig hat Andreu die Kellnerin gerufen. Die rief ein Taxi. Dann hat sie sich gegen das Aufstehen gewehrt, eine Eigenleistung beim Gehen war nicht mehr zu erwarten. Auf der Rampe zum Kreuzfahrerschiff im Hafen von Funchal legte sie ihr ganzes Gewicht ins Gesäß, Andreu schwitzte, in Gedanken bei Noras Haut, so makellos trotz all der Sandstürme. Die alte Prader lässt sich alle Steigungen fahren. Schon waren sie wieder eingeschifft, auf nach Casablanca, Gibraltar, Sardinien, Malta, Kreta, Zypern. Danach wurden die Etappen länger. Mit ihrem neuen Freund Harry, dem pensionierten Militär, hat sie ein Danke gen Himmel gerichtet, dass ihr das Menschgemachte ermöglicht, den Kontinent zu umgehen, den beide noch für südlich von ihnen hielten, als er schon lange im Westen war und sie sich bereits der Kohorte Kreuzfahrerschiffe im Hafen von Dubai näherten. Kreuzfahrer:innen waren vor langer Zeit vor allem Menschenmännchen, in besonders grotesken Fällen beteiligten sich noch nicht ausgewachsene Soloexistenzen allerlei Geschlechts. Männchen und Menschchen machten sich dazu auf, die Weltregion, die heute für Frau Elisabeth Prader wegen der 7000-Kilometer-Abkürzung via Suezkanal interessant ist, mit Gewalt zu nehmen. Grund dafür war, dass die Menschen, die in der Region lebten, einer anderen Variation eines sinnstiftenden Zeichensystems anhingen als die aggressiven Männchen, die damals einer ähnlichen Fahrtroute wie Frau Elisabeth Prader folgten. Diese Zeichensysteme nennen sich »Glauben« und beziehen ihre Autorität daraus, dass sie in...