E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Voss Stern geht
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7317-6103-7
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6103-7
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thomas Heerma van Voss, 1990 geboren, studierte in London und Amsterdam. Seit 2009 schreibt er, teils auch zusammen mit seinem Bruder Daan, Romane. In den Niederlanden gilt er als eines der größten literarischen Talente seiner Generation.
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9.
Es klopfte an die Tür. Einfach so, an einem regnerischen Donnerstagnachmittag. Hugo schreckte aus dem Schlummer hoch, rieb sich die Augen, blieb vor dem Fenster sitzen.
In einer ersten Regung beschloss er, nicht zu öffnen. Es konnte sich nur um ein Missverständnis handeln. Seit Nora, auch schon wieder Wochen her, war niemand mehr bei ihm vorbeigekommen. Er verließ sein Zimmer immer seltener. Die ersten Tage nach ihrer gemeinsamen Nacht hatte er Nora noch gesucht, war durch das Haus gebummelt und hatte die Mitbewohner gefragt, ob sie etwas von ihr gehört hätten (»Wer? Oh, dieses stürmische Mädchen, das hier gern Geld einsammeln kommt, ja, und ob ich die kenne, haha«). Aber als er sie schließlich an der Eingangstür sah und ihr aufgeregt zuwinkte, drehte sie ihm den Rücken zu. Sofort zog er seine Hand wieder zurück. Er wagte nicht zu fragen, warum sie sich so verhielt, er traute sich nicht einmal, zu ihr zu gehen. Offensichtlich wollte sie ihn nicht mehr sehen. Nach einer gemeinsamen Nacht hatte er sich erledigt, war er als unfähig eingestuft worden. Vielleicht sprach sie mit ihren Freundinnen darüber. Siehst du den kleinen, stillen Jungen? Der bringt’s nicht im Bett. Der hat eindeutig nichts in Swinging London verloren.
Gelegentlich zwang er sich, Fremde im Speisesaal anzusprechen. Er lachte. Er machte Witze. Er erzählte von seinen Wanderungen durch die Stadt. Aber es klang von Tag zu Tag weniger überzeugend. Wenn ihn selbst die, die mit ihm geschlafen hatte, einige Tage später keines Blickes mehr würdigte, was konnte er dann von anderen erwarten? Nach ein paar Sätzen wusste er in der Regel nicht mehr, warum er das Gespräch überhaupt begonnen hatte, oder er sprach, weil er wirklich etwas loswerden wollte, manchmal aber auch nur deshalb, um nicht allein zu sein.
Wieder wurde angeklopft. »Wer ist da?« Hugoblieb noch immer sitzen. »Ich hab kein Interesse an Charity.«
Es blieb still. Danach: ein drittes Klopfen. Leise. Kaum vernehmbar. Das Geräusch schien allein für Hugos Ohren bestimmt. »Hallo, lass es doch sein. Du hast dich in der Zimmernummer geirrt. Hier wohnt Hugo Stern. Die Party ist irgendwo anders.«
Er erhob sich trotzdem. Einen Augenblick blieb er mitten in seinem Zimmer stehen, dem kleinen, engen Raum, den er mangels Alternative als sein Zuhause ansah und dessen Einzelheiten er alle auswendig kannte, jeden Fleck auf dem Fußboden, jeden Riss in der Wand.
Dann ging Hugo nach vorn und öffnete, ohne weiter zu überlegen, die Tür.
Vor ihm stand ein asiatischer Junge. Etwa gleich groß wie Hugo, vielleicht noch etwas kleiner.
Er hatte ein zerknittertes DIN-A4-Blatt in der Hand.
»Sicher das Rote Kreuz?« Hugos Stimme klang spöttisch, ein bisschen zynisch, er konnte seinen eigenen Tonfall nur schwer ertragen.
Der Junge schien antworten zu wollen, schwieg aber. Hugo konnte sich nicht erinnern, ihn schon einmal im Frühstückssaal gesehen zu haben.
»Das Rote Kreuz?«, wiederholte Hugo.
»Sorry, dass ich störe.« Der Asiate schaute auf sein Blatt, nicht zu Hugo. »Aber ich bin neu hier. Ich habe mich gefragt, wer in diesem Zimmer wohnt.«
»Na, ich doch.«
»Ich wohne ein Stockwerk drunter«, las der Asiate in wenig überzeugendem Englisch ab. »Ich bin das erste Mal in Europa. Ich bin gestern aus Südkorea angekommen. Wohnst du schon lange hier? Studierst du?«
Hugo schaute in den Flur. Leer. Da stand niemand, um ihn auszulachen, es gab keine Formulare, die er unterzeichnen sollte. »Fast zwei Monate«, sagte er. »Und nein, ich studiere nicht. Ich bin wegen anderer Sachen hierhergekommen.«
Der Koreaner blieb stehen. Kein Anzeichen von Verachtung oder Überraschung, nicht einmal die an sich unvermeidliche Frage nach den »anderen Sachen«.
»Ich auch«, sagte der Koreaner. Es klang unwirsch, war mehr ein Brabbeln als ein Sprechen, aber Hugo konnte ihn trotzdem verstehen. Zum ersten Mal schaute der Koreaner nicht mehr auf sein Blatt. »Ich studiere auch nicht. Ich bin hierhergekommen, um Englisch zu lernen. Was machst du?«
Zögernd wies Hugo auf die Pinnwand hinter sich. Sie war von links oben bis rechts unten übersät mit Fotos: Hugo bei einer Demonstration auf dem Trafalgar Square, vor einer Underground-Station während der Rush Hour, in der Schlange vor dem Kino.
»Sieht schön aus«, sagte der Koreaner, obwohl er die Fotos wahrscheinlich gar nicht erkennen konnte.
Zur Sicherheit trat Hugo einen Schritt nach hinten. »Du kannst ruhig gucken.« Die Worte kamen aus seinem Mund, ehe er sich dessen bewusst war. Er gab sich keine Mühe, sie zurückzuhalten oder eine Bemerkung dazuzusetzen.
Ein Weilchen standen sie so da, der Koreaner auf der einen Seite der Schwelle, Hugo auf der anderen.
»Ja, schön«, sagte der Koreaner. »Besonders das im Bus.«
»Das meinst du?« Hugo tippte mit dem Zeigefinger auf ein Schwarz-Weiß-Foto von sich hinten in einem Doppeldecker. Das hatte neulich eine ältere Frau auf seine Bitte hin gemacht. Hugo hatte dreimal erklären müssen, wie er das Foto haben wollte. Nein, kein Porträt oder ein Bild von ihm allein, sondern eins inmitten der anderen Fahrgäste. Als die Frau endlich kapiert hatte, was er meinte, sagte sie von einem Moment auf den anderen nichts mehr. Sie schaute ihn nur fassungslos und ein bisschen angewidert an, als hätte sie noch nie ein so seltsames Wesen gesehen.
»Der Bus hält hier in der Nähe. In Camden, nicht mehr als fünf Minuten zu Fuß.« Hugo sprach weiter: »Wenn du willst, kann ich dir die Stadt mal zeigen. Die Straße, meine ich. Ich kann dir die Straße zeigen, wo der Bus fährt.«
Hinter dem Koreaner lief ein schottischer Chemiestudent über den Flur, der ebenfalls in der zweiten Etage wohnte, jeden Abend auf seiner Gitarre klimperte und amerikanische Protestsongs sang. Beiläufig schaute er in Hugos Zimmer, ohne etwas zu sagen oder auch nur im Schritt innezuhalten, und danach waren Hugo und der Koreaner wieder allein.
»Willst du die Adresse?«
»Wovon?«
»Von der Bushaltestelle, über die wir eben gesprochen haben. Ich kann dir zeigen, wie du gehen musst, draußen nach rechts, dann über drei Straßen, und links siehst du sie schon.«
Der Koreaner starrte Hugo an, das A4-Blatt noch immer fest in der Hand. »Das kannst du mir zeigen«, sagte er. Zumindest glaubte Hugo, das zu hören. Sein Atem stockte. Er hatte nichts Bestimmtes gesagt oder getan, und doch eröffnete sich plötzlich die Möglichkeit, sich mit jemandem auf den Weg zu machen. Eine neue Hoffnung als Entschädigung für die vergangenen Monate.
»Weißt du eigentlich schon, wie ich heiße?« Er zeigte auf sich, beide Zeigefinger in Richtung seiner Brust. »Hugo, Hugo Stern. Schön, dich kennenzulernen.«
Der Koreaner versuchte, den Namen zu wiederholen, verschluckte sich aber bei den ersten Buchstaben.
»Spielt keine Rolle. Nenn mich, wie du willst, ich finde alles gut. Wie heißt du?«
»John.«
Der Name schien im Flur nachzuhallen.
Hugo beugte sich nach vorn. Er stand weniger als einen Meter von John entfernt, wenn er seinen Arm ausstreckte, konnte er ihn mitnehmen, mitschleifen, um zusammen die Stadt auf den Kopf zu stellen.
»Ich wollte eigentlich etwas fragen«, sagte John. Er las wieder von seinem Blatt ab. »Gestern habe ich mir Essen und Trinken gemacht. Aber ich habe auch Sachen vergessen.«
»Sollen wir vielleicht zusammen einkaufen gehen?«
Aufmerksam sah Hugo in das Gesicht vor sich, auf dem sich, seltsam genug, nicht ein Fünkchen Ironie oder Spott zeigte, nicht einmal der Vorbote eines Lachens. Die meisten Mitbewohner hätten wahrscheinlich den Kopf geschüttelt, hätten gesagt, dass es »groceries« statt »grocery« heißen müsse, und wären danach wieder zur Tagesordnung übergegangen. Hugo überlegte das auch, griff sogar schon zur Türklinke. Aber warum sollte er sich diese Chance entgehen lassen?
»Hier in der Gegend hat gerade ein Sainsbury’s aufgemacht«, sagte er. »Einer der größten Supermärkte, die ich je gesehen habe. Lass uns dorthin gehen.«
Hugo erschrak über seine plötzliche Entschlossenheit, aber er ließ sich davon nicht abhalten. Zum ersten Mal, vielleicht zum allerersten Mal überhaupt, seit er die Fähre nach England genommen hatte, überflügelte die Sehnsucht die Angst, der Enthusiasmus die Scham. Mit einer geschmeidigen Bewegung nahm er seine Jacke von der Garderobe. »Komm mit«, sagte er, während er seine Zimmertür hinter sich zuzog und aus dem Fenster wies, in Richtung der lärmenden Camdener Straßen. Seine Polaroid ließ er liegen. »Ich kenne den Weg.«
*
Als sie ins Studentenwohnheim zurückkehrten, war es draußen dunkel. Auf Hugos Drängen waren sie nicht nur bei Sainsbury’s gewesen, sie hatten auch einen Spaziergang über die Eversholt Street zum Tavistock Square gemacht, wo sie auf einer Bank ausgeruht und lauwarme Fish & Chips gegessen hatten. John sprach wenig. Sein DIN-A4-Blatt hatte er in den erstbesten Papierkorb geworfen. Er sah einen freundlich an. Hugo war sich nicht sicher, ob diese Freundlichkeit gespielt oder echt war, vielleicht wusste John es selbst nicht, was machte das aus.
Hugo redete. Mehr, als er es in den ganzen zurückliegenden Wochen getan hatte. Über die Straßen von London, über die Bewohner des Studentenwohnheims, über Camden, über Gott und die Welt, manchmal wusste er am Ende nicht mehr genau, womit er begonnen hatte, was ihn aber nicht abhielt, voller Hingabe weiterzusprechen.
Nur einmal in der...