E-Book, Deutsch, 238 Seiten
Reihe: Wege der Psychotherapie
Votsmeier-Röhr / Wulf Gestalttherapie
2. überarbeitete Auflage 2024
ISBN: 978-3-497-61952-8
Verlag: Ernst Reinhardt Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 238 Seiten
Reihe: Wege der Psychotherapie
ISBN: 978-3-497-61952-8
Verlag: Ernst Reinhardt Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Gestalttherapie ist ein humanistisches Psychotherapieverfahren. Der Begriff "Gestalt" steht für Ganzheit und dafür, wie sich ganzheitliches Erleben und Verhalten organisiert. Störung und Krankheit werden als Verlust von Ganzheit angesehen. Die Gestalttherapie ist prozess- und erfahrungsorientiert. Sie hat die Selbstregulierung, die Integration der Person und deren kreative Anpassung in ihrer Umwelt zum Ziel. Ihre Wirksamkeit ist gut belegt, zentraler Wirkfaktor ist dabei eine therapeutische Beziehung in wechselseitiger Anerkennung.
Die überarbeitete 2. Auflage wurde um Kapitel zur beziehungsorientierten Entwicklung des Selbst und zu Narzisstischen Störungen erweitert.
Zielgruppe
Psychotherapeut:innen, Psycholog:innen, Ärzt:innen, Sozialpädagog:innen und andere Berufsgruppen, die in Psychotherapie und psychosozialer Beratung tätig sind, insbesondere Berufsanfänger:innen
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Inhalt
1
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
2
Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2.1 Zeit- und ideengeschichtlicher Kontext . . . . . . . . . . . . . 14
2.1.1 Gestaltpsychologie und Ganzheitsidee 17
2.1.2 Phänomenologie 20
2.1.3 Existenzphilosophie 21
2.1.4 Psychoanalyse 23
2.1.5 Schöpferische Indifferenz 25
2.2 Biografischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2.2.1 Fritz und Laura Perls 26
2.2.2 Paul Goodman 32
3
Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
3.1 Die Grundlagen der Gestalttherapie . . . . . . . . . . . . . . . 34
3.1.1 Erkenntnistheoretische Grundannahmen 34
3.1.2 Feldorientierung:
Alles ist verbunden und in Wechselwirkung 43
3.1.3 Existentiell-
phänomenologische Orientierung: Subjektives Erleben im Fokus 55
3.1.4 Dialogische Orientierung: Heilung aus der Begegnung 57
3.2 Die Person in kreativer Anpassung . . . . . . . . . . . . . . . . 64
3.2.1 Die Person existiert in einem Organismus-Umweltfeld 65
3.2.2 Die Person verwirklicht ihre Identität als Ganzheit 70
3.2.3 Die Person entfaltet sich in interpersonellen Beziehungen 81
3.2.4 Das vollständige Kontaktzyklus-Modell 89
3.3 Dysfunktionale Anpassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
3.3.1 Allgemeine Störungslehre 93
3.3.2 Störungen des Kontaktzyklus 97
3.3.3 Spezielle Störungslehre: Depressive Störungen 113
Angststörungen 116
Zwangsstörungen 121
Posttraumatische Belastungsstörungen 123
Borderline-Störung 126
Narzisstische Störungen 133
Somatoforme Störungen 139
Abhängigkeitsstörungen 143
Essstörungen 146.
4
Der therapeutische Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
4. 1 Behandlungsziele und Veränderungsstrategien . . . . . . . . . 151
4.1.1 Leitideen gestalttherapeutischen Handelns 151
4.1.2 Behandlungsansätze im Vorkontakt 160
4.1.3 Behandlungsansätze im Vollkontakt 165
4.1.4 Behandlungsansätze im Nachkontakt 169
4.2 Die therapeutische Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
4.2.1 Die dialogische Therapiebeziehung als wesentliche Stütze der
Therapie 180 ? 4.2.2 Merkmale einer dialogischen Beziehung 180 ?
4.2.3 Störungen der therapeutischen Beziehung beheben 192
4.3 Therapeutische Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
4.3.1 Phänomenologisches Explorieren / Basistechnik 195
4.3.2 Experimentelle Aufgaben 201
4.3.3 Übungen und Hausaufgaben 215
5
Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
5.1 Die Entwicklung der empirischen Psychotherapieforschung . . 217
5.2 Forschung zur Wirksamkeit der Gestalttherapie . . . . . . . . 218
6
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
2 Geschichte 2.1Zeit- und ideengeschichtlicher Kontext Die Gestalttherapie ist eine Form der Psychotherapie, die sich aus einer Vielzahl von Einflüssen zu einer neuen Gestalt gebildet hat. Es wird hier die zeit- und ideengeschichtliche Entwicklung nachgezeichnet und der Frage nachgegangen, mit welchen Konzepten und Ideen die Gründer der Gestalttherapie Laura und Friedrich S. Perls sowie Paul Goodman in Kontakt kommen, welche Theorien und Anregungen sie aufnehmen und von welchen sie sich abgrenzen. Wo finden sie die Ideen und Antworten auf die grundlegenden Fragen, die implizit in jeder Psychotherapie enthalten sind: Wie ist der Mensch zu verstehen? Gibt es einen Sinnzusammenhang im Leben? Wie wollen und können Menschen (zusammen) leben? Wie entwickelt sich Leiden in einer Gesellschaft? Es wird zunächst ein allgemeiner Überblick auf die ideengeschichtliche Entwicklung um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert gegeben, um dann die Denktraditionen und Erkenntnisse der Hintergrundwissenschaften zu beschreiben, die zu den grundlegenden Quellen der Gestalttherapie gehören: die Gestaltpsychologie, die Phänomenologie und die Existenzphilosophie mit der Dialogphilosophie, die Psychoanalyse und die philosophischen Ideen der schöpferischen Indifferenz. Alle haben um die Jahrhundertwende einen großen Einfluss auf die Entwicklung der psychologischen und philosophischen Themen gehabt. Sie haben auch die Gestalttherapie, wie sie von den Gründern verstanden wurde und wie sie auch heute noch im Wesentlichen verstanden wird, beeinflusst. Das ausgehende 19. Jahrhundert und das beginnende 20. Jahrhundert sind gekennzeichnet durch eine explosionsartige Entwicklung in den Naturwissenschaften und der Technik. Die neuen Techniken nehmen umwälzenden Einfluss auf die Wirtschaft und die Gesellschaft. Enormer Fortschritt und Entdeckungen sind in fast allen wissenschaftlichen Disziplinen zu erkennen, ob Biologie, Chemie oder Medizin. Auch im politischen Denken entwickeln sich revolutionäre Elemente. Sozialismus, Marxismus und Anarchismus werfen einen neuen und gewichtigen Blick auf den Menschen und das gesellschaftliche Leben. In der Kunst und der Literatur beginnt die Suche nach neuen Ausdrucksformen, die u. a. im Expressionismus (z. B. Otto Dix, Toulouse-Lautrec, Edvard Munch, Van Gogh) die alten bürgerlichen Normen und Fortschrittsgedanken überwinden wollen. Die Katastrophe des Ersten Weltkrieges mit Millionen Toten und dem Elend der Überlebenden, der Angriff auf die Menschlichkeit ist das drängendste Thema. Es führt zu dem Versuch, eine neue Vision vom Menschen zu entwickeln, in der soziale Verantwortung und Mitgefühl verankert sind. Neu hinzu kommt die Auseinandersetzung mit Intuition, subjektiver Erfahrung, Phantasie und Gefühl: Themen, die auch immer wieder in der Gestalttherapie anklingen. Die Psychologie, die bis dahin eng mit der Philosophie verbunden war, beginnt sich als eine eigenständige Wissenschaft zu etablieren und von der Philosophie abzugrenzen (Bruder 1991). Ihr Forschungsgebiet sind zunächst noch das menschliche Bewusstsein und erkenntnistheoretische Fragestellungen. Die Methodik orientiert sich jedoch zunehmend an den erfolgreichen Naturwissenschaften. Nunmehr richtet sich der Blick auf die Physiologie, die Sinnesorgane und Sinnesempfindungen, vor allen Dingen auf Optik und Akustik, um nachzuweisen, wie sich Sinnesreizungen in Bewusstseinsinhalte verwandeln, um damit die Grundlage der Erscheinungen des Seelenlebens zu erforschen. Die Naturwissenschaften und ihre Methoden bestimmen, was als „wissenschaftlich“ und „objektiv“ anerkannt wird. Diese Entwicklung geht vor allem von dem von Wilhelm Wundt (1831–1920) geleiteten Institut in Leipzig aus. Die „Neue Psychologie“ wie Wundt sie nennt, bemüht sich, auf experimentellem Weg neues Wissen zu gewinnen. Es gibt jedoch bereits zur Zeit Wundts Stimmen, die sich kritisch gegenüber der experimentellen und einseitig naturwissenschaftlich orientierten Psychologie äußern. Den Untersuchungen im Labor entgleite der Mensch als „Kulturwesen“, in seiner individuellen und geschichtlichen Natur so lautet die Wissenschaftskritik an der naturwissenschaftlich orientierten und sich neu institutionell etablierenden Psychologie. Zu den Kritikern gehört Wilhelm Dilthey (1833–1911). Er betont die Notwendigkeit einer verstehenden und deutenden Psychologie gegenüber einer naturwissenschaftlich experimentellen, die er als „Psychologie ohne Seele“ bezeichnet. Nach seiner Auffassung müsse die Psychologie als Wissenschaft der „inneren Erfahrung“ mit den Methoden des geisteswissenschaftlichen Verstehens arbeiten und dürfe nicht analysierend, kausal erklärend und mit naturwissenschaftlich experimentellen Methoden arbeiten. Diltheys Anliegen ist es, die Selbstständigkeit der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften zu erweisen und methodisch zu sichern. Er will die „geschichtlichen Seelenvorgänge“ durch Verstehen erfassen. Entgegen der naturwissenschaftlich orientierten „erklärenden“ Psychologie begreift er den Menschen als ein wollendes, fühlendes Wesen. Das Ziel der Wissenschaft sieht er darin, auf der Grundlage der Erfahrung zur Erkenntnis des Wirklichen zu gelangen. Alle psychischen, kulturellen und sozialen Erscheinungen müssen demnach mit einer eigenen Methode bearbeitet werden. Auf dem Vorgang des Verstehens fußt die hermeneutische Wissenschaft als Auslegungslehre oder Deutungskunst. Da sich Natur und geistige Welt wesensmäßig unterscheiden, muss daher auch die Psychologie vom Erleben ausgehen, denn naturwissenschaftlich lassen sich keine Gewissheiten über das Seelische gewinnen gemäß dem viel zitierten Satz von Dilthey: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir“. So fordert er für die Psychologie eine Methodik, die sich aus der Natur des Seelischen begründet (Dilthey 1957, zit. nach Eberwein 2009, 11). Bis heute sind in der Psychologie sowohl geisteswissenschaftliche Denkweisen als auch die naturwissenschaftliche Methodik erhalten, die ihren Ursprung in den damaligen Abgrenzungsversuchen von der geisteswissenschaftlichen Philosophie haben. Die Gestalttherapie versteht den Menschen in seiner Doppelnatur mit einer leiblich-körperlichen und geistig-bewussten Seite und die menschliche Erfahrung in einer Sowohl-als-auch-Perspektive, mit subjektivem Erleben, mit kulturellen und geschichtlichen Einflüssen und dem Verständnis des Menschen als einem biologischen Wesen. Auch Franz Brentano (1838–1917), der in Wien Philosophie lehrt, will die Philosophie mit der Psychologie verbinden. In seiner Kritik an Wundts Ansatz bezweifelt er, dass psychologische Phänomene angemessen durch physiologische Tatsachen erklärt werden können. Psychisches und Physisches unterscheidet er anhand des Kriteriums der Intentionalität. Intentionalität, die Ausrichtung des Bewusstseins auf die Dinge, die Welt, gilt für ihn als das wesentliche Merkmal des menschlichen Bewusstseins, das sich darin vom Materiellen grundlegend unterscheidet. Er vertritt eine phänomenologische Psychologie, die sich methodisch auf die unmittelbare innere Erfahrung bezieht. Der Begriff der Intentionalität hat starken Einfluss auf später berühmt gewordene Schüler wie Edmund Husserl. Die Vorlesungen Brentanos hören neben Edmund Husserl und Sigmund Freud auch Christian von Ehrenfels (Lutz / Retlich 1995). Alle drei haben einen entscheidenden Einfluss auf das gestalttherapeutische Denken. Der Leitgedanke des gerichteten Bewusstseins ist für die therapeutische Methode ein bedeutendes Kriterium. 2.1.1Gestaltpsychologie und Ganzheitsidee Auf der Suche danach, wie die Komplexität des Seelischen und des Bewusstseins zu erfassen ist, stehen sich konkurrierend die grundlegenden Auffassungen gegenüber, wie das Verhältnis vom Gesamt und Einzelteil, von „Teil“ und „Ganzem“ zu klären ist. Der Vorstellung, dass sich das Seelische in seiner Komplexität aus einzelnen Teilen bzw. Elementen zusammensetzt – wie es die Assoziationspsychologie versteht – wird ein ganzheitliches Denken entgegengesetzt. Dieses Denken kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Schon Aristoteles betont das einheitliche Ganze und verdichtet es in dem berühmten, jedoch verkürzten Satz sinngemäß: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile (Aristoteles 1994). Auch im deutschen Idealismus, z. B. in Goethes Farbenlehre werden dem reduktionistischen Denken ganzheitlich-holistische Ideen und Begriffe wie „Ganzheit“ oder „Einheit der Natur“ entgegengesetzt. Mit seinem Aufsatz „Über Gestaltqualitäten“ greift Christian von Ehrenfels (1859–1932) diese Gedanken auf und bringt sie erneut in die philosophisch-psychologische Diskussion über Bewusstseinsprozesse und die phänomenalen Gegebenheiten vom Erleben. Damit gibt er den nachfolgenden Gestaltpsychologen einen entscheidenden Anstoß (Ehrenfels 1890). Christian von Ehrenfels ist, wie bereits erwähnt, ein Schüler der Philosophie von Franz von Brentano in Wien. In dem erwähnten Aufsatz...