Wagner | Marlene fährt nach Köln | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 276 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 210 mm

Wagner Marlene fährt nach Köln

Roman
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-96123-041-9
Verlag: Eifeler Literaturverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, 276 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 210 mm

ISBN: 978-3-96123-041-9
Verlag: Eifeler Literaturverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Wenn die Eltern alt werden, die Mutter einen nicht mehr erkennt und der Vater verzweifelt, erscheint das Leben mit einem Mal vollkommen verändert. »Wer bin ich überhaupt?«, fragt man sich dann. »Wo gehöre ich hin? Und was bedeutet Heimat?«

Heimat ist, wenn Oma Irmi vom Krieg erzählt, vom Opa, der von einer Bombe getroffen wurde. Heimat ist, wenn Marlene fragt, ob ihr Vater auch mal ein Kind gewesen sei. Heimat ist Berlin, sagt Marlene, da wo Oma Kathie wohnt. Heimat ist Köln, sagt Frank, da bist du aufgewachsen.

Doch Marlene hat sich in Köln nie heimisch gefühlt, dort, wo immer noch ihre unperfekten Eltern und ihre perfekte Schwester leben. Erst als in Köln nichts mehr geht, Demenz, Verwahrlosung und Schlaganfälle passieren, kehrt Marlene immer wieder an den Ort ihrer Kindheit zurück. Dort findet sie Erinnerungen, gute und schlimme. Begegnungen, verstörende und berührende. Sie sichtet, räumt auf, entdeckt sich selbst.

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1. Kapitel
Mainz, September 2014
Marlene hatte gleich im Schlafanzug Frühstück gemacht, den Tisch gedeckt, nach Frank gerufen, er möge sich mal beeilen, wobei ihre Stimme heller klang als um diese Uhrzeit üblich. Jetzt stand sie vor dem Spiegel im Bad, betrachtete die Spuren der frühmorgendlichen Umarmungen an Gesicht und Hals. So ließ sich dieser Freitag gut an und Marlene sagte sich, dass sie an diesem Wochenende auf keinen Fall das warme Gefühl verlieren wollte, das sie im ganzen Körper spürte. Als Frank sich setzte und sie gerade begann, ihm zu sagen, was sie sich für das Wochenende ausgedacht hatte, unterbrach er sie. Sagte ja ja, während er seinen Blick auf die Zeitung richtete. Und sagte weiter, dass die ganze Familie am Wochenende, also Samstag und Sonntag, in Neuwied erwartet werde. Und fügte mit Nachdruck hinzu: »Du weißt ja, warum.« Marlene, die einen Anflug von Schrecken in sich spürte, starrte Frank nur stumm an, als Alexander, der fünfzehnjährige Sohn, in der Tür auftauchte. »Muss sofort weg, bin schon viel zu spät!« Frank schüttelte den Kopf, Marlene sprang auf, lief hinter Alexander her, wollte wissen, ob er alles habe, und wieder ohne Frühstück, aber der Sohn, ohnehin durch Kopfhörer und Kapuze vor elterlichen Zurufen geschützt, ließ schon die Tür hinter sich zufallen. Die Unterbrechung nutzend, ging Marlene wieder ins Bad, verschloss die Tür, setzte sich auf den Rand der Badewanne. Sie merkte ihre Enttäuschung, hatte sich doch das Wochenende mit weiteren Umarmungen ausgemalt. Und nun Neuwied. Der Todestag des unbekannten Schwiegervaters. Marlene stand auf, betrachtete ihr Spiegelbild, sagte zu sich selbst, mein Gott, Marlene, wie siehst du wieder aus. Sie nahm die Flasche mit der Reinigungsmilch, auf der »entknittert die Haut« stand, gab einen großen Klecks auf die linke Handfläche und verteilte die angenehm weiche Creme auf ihr Gesicht. Mit der Zunge umkreiste sie sorgfältig ihre Zähne, um den Entknitterungsvorgang um die Lippen herum zu verstärken, spülte alles mit lauwarmem Wasser ab, war nun schon zufriedener mit ihrem Gesicht. Frank klopfte an der Tür und fragte, wann sie endlich wiederkäme, er wolle jetzt auch los, aber vorher wissen, was denn mit Neuwied sei. »Du, ich muss drüber nachdenken«, rief Marlene und drückte auf die Wasserspülung des Klosetts, um Frank hören zu lassen, dass sie jetzt im Augenblick auf keinen Fall herauskommen könnte. »Wir können heute Abend drüber sprechen«, fügte sie hinzu und hörte erleichtert, wie Frank sich draußen im Flur hin- und herbewegte und mit einem »Tschüss, bis heute Abend!« die Eingangstür schloss. Marlene wartete noch einen Moment, ging dann in die Küche und sah vom Fenster aus, wie ihr Mann vorsichtig rückwärts aus der Garage fuhr und mit seinem Auto in die Straße abbog, die heute Morgen schon wieder regennass war. Septemberwetter. Ich bin, sagte Marlene in dieses Wetter hinein, ich bin in Berlin geboren. Dieser Satz richtete sie auf. Sie sagte ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit, zu sich selbst und zu anderen. Ich bin in Berlin geboren. Versteht ihr? Großstadtluft, das Leben in Berlin ist ganz anders. Wenn Frank dabei war, bemerkte er, sie sei doch noch ganz klein gewesen, als die Familie von Berlin nach Köln zog. Sie sei doch keine echte Berlinerin, was sie da rede. »Aber ich war in allen Ferien bei den Berliner Großeltern«, verteidigte sie sich, »ich war so oft dort, dass es doch reicht, um sich als Berlinerin zu fühlen«. Frank schüttelte den Kopf, sagte, sie solle doch bei den Tatsachen bleiben. Von sich allerdings könne er behaupten, er sei ein Neuwieder, weil er in Neuwied Kindheit und Jugend verbracht habe. Und natürlich stamme ja auch seine Familie aus Neuwied und wohne noch dort, seine Mutter, Onkel, Tanten und die ganze Verwandtschaft. Und selbstverständlich sei sein jung verstorbener Vater in Neuwied begraben. Dagegen kam Marlene nicht an, sie rief dann: »Ist mir doch egal!«, was Frank wie üblich mit einem Kopfschütteln beantwortete. »Du verstehst mich nicht!«, rief sie lauter. »Du weißt gar nicht, worum es mir geht.« Wenn Frank versuchte, die Stimmung zwischen ihnen zu retten, sagte er zum Beispiel in versöhnlichem Ton: »Dann erklär es mir doch«, aber Marlene antwortete seit Jahren nur: »Ach Frank, wie oft habe ich es dir erklärt und wenn du es immer noch nicht weißt, dann ist sowieso alle Mühe vergebens. Du verstehst eben nicht, was mir Berlin bedeutet.« Wenn Marlene an Neuwied dachte, sich über Neuwied beschwerte, dann hatte sie besonders ihre Schwiegermutter im Blick, die klein und leicht gebeugt über allen herrschte. Sie sagte etwas, und war es noch so leise hingemurmelt, zwischen den Zähnen hinausgepresst, alle hatten es gehört und richteten sich danach, als sei es göttlicher Befehl. Und der war sowieso allmächtig gegenwärtig. Der liebe Gott – auch wenn er mal nur Unglück schickte, wurde er als lieb bezeichnet – dieser Gott hing in Bildern oder Kruzifixen an den Wänden, in jedem Zimmer einer, als Baby, als Bub im Tempel, als strahlender junger Mann, als trauriger immer noch junger Mann am Kreuz, als Auge über den Wolken. Und Franks Mutter vereinte die Familie wie der liebe Gott. Franks Vater Hans war nicht so oft wie Gott, aber doch drei Mal zu betrachten: im Flur, im Wohnzimmer und in der Küche hingen seine Fotografien in schmalen silbernen Rahmen. Im Wohnzimmer war ein hochbeiniges Tischchen unter sein Abbild gestellt, darauf immer frische Blumen und eine Kerze, die fünfmal im Jahr angezündet wurde. An seinem Namenstag, seinem Geburtstag, seinem Todestag, an Weihnachten und Ostern. Und an diesen Tagen erwartete Franks Familie, seine Sippschaft, wie Marlene sie nannte, nicht nur den Sohn aus Mainz, sondern auch seine Frau und die beiden Kinder zu Besuch. In den ersten Jahren ihrer Ehe war Marlene dieser Erwartung nachgekommen, hatte es sogar genossen, Annika, ihr erstes Kind, in Neuwied zu präsentieren, von allen begutachtet und beglückwünscht, obgleich ein Mädchen, also nicht der ersehnte Träger des Vaternamens. Franks Mutter hatte unter beifälligem Nicken einer anwesenden Nachbarin zu Marlene gesagt, sie werde sicher auch noch einen Jungen bekommen, der dann den Namen Wurz weiterführen könne. »Die sind ja beschränkt«, hatte Marlene nach diesem Besuch zu Frank gesagt, »immer dieser Kult mit den Namen!« Sie selbst habe lange gezögert, ob sie seinen Namen annehmen und sich von Marlene Gerich in Marlene Wurz verwandeln sollte oder lieber doch in Gerich-Wurz. Aber die freie Namenswahl sei ja wohl in Neuwied noch nicht angekommen, vielleicht in der Innenstadt von Neuwied, aber nicht in dem kleinen Kaff, was ja eh nur eingemeindet und ein rückständiges Dorf geblieben sei. »Und«, fügte Marlene boshaft hinzu, »vielleicht wird unsere Tochter Annika ja lesbisch, heiratet ihre Freundin oder sie heiratet nie und behält von daher ihren Namen. Nach dem Motto Wurz ist schnurz.« Frank hatte nur müde dazu genickt, gemurmelt: »Wozu sagst du solche Sachen? Musst du immer meine Familie lächerlich machen?« »Ist doch wahr!«, beharrte Marlene und nannte ihn Otto, bei seinem zweiten Namen, den er von seinem Großvater geerbt hatte. Diese alten Geschichten fielen ihr wieder ein, als sie, immer noch im Bademantel, am Esstisch saß, unschlüssig, was jetzt zu tun und zu entscheiden sei. Sollte sie dem Gefühl nachgeben, von Frank abgewiesen zu sein? Schließlich war sie mit ihrem Wunsch nach einem Wochenende zu zweit bei ihm nicht gelandet, und das nach diesen besonders heftigen und schönen Umarmungen vorher. Er hatte sie nicht einmal ausreden lassen und sofort den Pflichtbesuch verkündet. Also könnte sie doch zu Recht gekränkt sein. Womöglich bis zum Abend schmollen. Oder sollte sie einfach so tun, als sei nichts und mit nach Neuwied fahren? Und dann auch noch im Regen auf dem Friedhof. Bei dieser Vorstellung fröstelte sie. Um sich anzuziehen, stand sie auf, gleichzeitig vibrierte ihr Handy. Auf dem Display erschien: Nachricht von Sabine. Welche Sabine?, dachte sie und war einen Moment lang irritiert. Ach so, meine Schwester, fiel ihr ein, oh Gott Sabine. Das ist aber lange her. Sie öffnete die Nachricht, las: Hallo Marlene, kannst du bald mal nach Köln kommen? Besuch der Eltern wäre gut. Gruß Sabine Um Gottes Willen, was soll das denn bedeuten?, fragte sich Marlene, rannte aufgeregt ins Schlafzimmer, zog sich in Eile an, als könnte sie die Entscheidung, was zu tun sei, nur angezogen treffen. Dann setzte sie sich zurück an den Esstisch, schlug ihr Heft mit den To-do-Listen auf, dachte, dass sie auf jeden Fall zunächst Ess- und Wohnzimmer aufräumen und reinigen werde und bei dieser Tätigkeit, da war sie sich auf einmal sicher, zu einer Entscheidung kommen würde. Entweder mit nach Neuwied oder alleine nach Köln. Während sie vor sich hinarbeitete, fiel ihr plötzlich ein, wie Frank die Besuche in Neuwied oft mit dem Satz rechtfertigte: Wer weiß, wie lange meine Mutter noch lebt! Und sie dachte, oh Gott, ob Sabine geschrieben hat, weil unsere Eltern vielleicht? Ja was denn vielleicht, fragte sie sich, und dachte, dass sie ja auch nicht wisse, wie lange diese Eltern noch leben. Das bereitete ihr sofort ein Unbehagen, fast ein schlechtes Gewissen. Den Vormittag über versuchte sie sich weiter abzulenken, merkte aber, dass sie immer wieder an die Eltern in Köln denken musste. Marlene hatte keine klare Erinnerung an die Kölner Wohnung. War sie warm oder kalt gewesen? Wie hatte sie...


Wagner, Christel
Christel L. Wagner, Jahrgang 1946, ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt mit ihrer Familie in Mainz, wo sie eine eigene Praxis für Psychotherapie und Supervision betreibt. Sie hat bereits mehrere Bücher, Zeitschriftenartikel und Kurzgeschichten veröffentlicht, unter anderem »Fabrikerfahrungen« und »Ich nehme dich in meine Arme«, die beide im Grünewald-Verlag erschienen sind.



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