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E-Book, Deutsch, 336 Seiten, eBook

Wait Kopfüber zurück


1. Auflage, neue Ausgabe 2015
ISBN: 978-3-0369-9228-0
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 336 Seiten, eBook

ISBN: 978-3-0369-9228-0
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Fünf Jahre sind seit Kits Tod vergangen. Der jüngere Bruder Jamie lebt ein schattenhaftes Dasein, entfremdet von seiner Familie, gelähmt durch die Ereignisse der Vergangenheit und die unbeugsame Wut seines Vaters. Die Eltern sind in Schweigen versunken und froh, dass
wenigstens Tochter Emma ein zufriedenes Leben zu führen scheint und offenbar gar nicht genau weiß, was damals geschehen ist. Doch als Emma älter wird, beginnt sie, unbequeme Fragen zu stellen, in der Hoffnung, das Geheimnis um Kits Tod endlich zu lüften. Als die Antworten ausbleiben, beschließt Emma, der Sache selbst auf den Grund zu gehen, und reißt von zu Hause aus, um ihren Bruder Jamie zur Rede zu stellen.

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1

Der Regen hätte ihm so zusetzen müssen wie allen anderen. Er war unbändig, hartnäckig, hämmerte gegen die Scheiben, verlangte Aufmerksamkeit. Die Kunden hatten verschwörerische Mienen aufgesetzt, warfen sich gegenseitig Blicke zu und wickelten sich enger in ihre Mäntel, doch er beachtete sie nicht. Er ging durch den Laden, schloss die Fenster, damit die Bücher nicht nass wurden, und kehrte dann in die Abteilung für jüdische Geschichte zurück, wo er gerade die neue Lieferung in die Regale einsortierte.

In seinem Kopf ließ er nur absolute Stille zu. Zu lernen, an nichts zu denken, war schwierig gewesen. Aber er hatte es sich mit Geduld und hartem Training zur Gewohnheit gemacht. Manchmal, wenn er Schwierigkeiten damit hatte – so wie jetzt –, zog er sich in seine Gedanken zurück: auf eine Insel oder allein in die Wüste. Diesmal wählte er den Wald. Unbewegt und still warteten die Bäume darauf, ihn in ihr allumfassendes Schweigen aufzunehmen. Er stand inmitten der Geschichtsbücher und starrte in das Sonnenlicht, das durch die Äste fiel.

Jemand berührte ihn am Arm und riss ihn aus seinem Traum. Widerwillig verließ er den Schutz der Bäume, drehte sich um und sah einen älteren Mann.

Jamie stutzte, dann setzte er seine Kundenstimme auf und fragte: »Kann ich Ihnen weiterhelfen?«

»Ich möchte mich über die Abteilung für jüdische Geschichte beschweren«, sagte der Mann. Es hörte sich an, als hätte er den Satz vorher geübt. »Ich habe kein einziges Buch gefunden, das ich gesucht habe. Die Bücher hier sind alle über den Holocaust.«

»Ja«, erwiderte Jamie zögernd, »das sind wohl die meisten.«

»Das ist doch absurd«, empörte sich der Mann. Er schien Mut zu schöpfen, während er sprach. »Wo sind Ihre Bücher über jüdische Kultur, Musik oder Literatur? Bei Ihnen wirkt es so, als wäre der Holocaust das einzig Bemerkenswerte in der langen Geschichte des jüdischen Volkes. Als hätte es keine reiche und vielfältige Vergangenheit, die nichts mit dieser einen barbarischen Schandtat zu tun hat.«

Jamie sagte behutsam: »Wir führen, was sich verkauft, sonst machen wir Verluste. Und Bücher zum Thema Holocaust sind immer gefragt.«

»Weil das Grauen die Leute fasziniert.«

Jamie wusste nicht, was er darauf antworten sollte.

»Mir gefällt das nicht«, sagte der Mann. »Mir gefällt nicht, wie Ihr Laden die Juden über eine einzige schreckliche Sache definiert, die ihnen angetan worden ist, und nicht über etwas, das sie selbst hervorgebracht haben. Verstehen Sie, was ich meine?«

Jamie nickte.

»Uns darüber zu definieren, was sie uns angetan haben, bedeutet, sie gewinnen zu lassen. Geschichte sollte doch allem die gleiche Bedeutung zumessen.«

»Aber wie soll das gehen?«, fragte Jamie, ohne nachzudenken. »Manche Dinge stechen eben hervor und überragen die anderen.«

»Warum sollen wir nur lesen, was Leute für interessant halten, denen das … das große Ganze egal ist, und die nur Augen für grausame Details haben?«

Wollte sich der Kunde wirklich nur darüber beschweren, dass die Geschichtsabteilung schlecht bestückt war?, dachte Jamie. Er verlor schnell das Interesse an der Diskussion, erkannte jedoch, dass sein Gegenüber noch nicht zufrieden war.

Jamie errichtete eine Wand zwischen sich und dem Mann. »Wir freuen uns immer über Verbesserungsvorschläge. Haben Sie irgendwelche Empfehlungen, welche Bücher wir bestellen könnten, um die Bandbreite der Abteilung zu erweitern?«

Er hatte mit einer genervten Reaktion gerechnet, doch der Mann stellte ihm eine umfangreiche Liste auf. Dann zog er mit Mühe den Mantel wieder an, hantierte mit seinen geschwollenen Fingern an den Knöpfen und ging hinaus in den Regen. Jamie legte die Liste hinter seine Verkaufstheke auf den Stapel mit den anderen Merkzetteln. Er würde keines der Bücher bestellen. In den Regalen war nicht genug Platz. Und die Leute wollten das Grauen.

In der Mittagspause schüttete es noch immer, und er konnte sich nicht überwinden, hinauszugehen, um sich ein Sandwich zu kaufen. Er zog eine Tüte Chips und einen Marsriegel am Automaten und setzte sich in den Pausenraum, um seinen Alistair-MacLean-Roman zu lesen. Wenn er eine Buchhandlung betrat, hielt er immer unwillkürlich Ausschau nach den Büchern dieses Autors und hatte es inzwischen zu einer beachtlichen Sammlung gebracht. Er saß an seinem Stammplatz in der Ecke. Ein Platz, an dem man selten gestört wurde. Gerade als er in sein Mars beißen wollte, bemerkte er einen Schatten hinter sich.

»Was lesen wir denn da?«

Jamie seufzte innerlich. Brian aus der Belletristik war der Meinung, in ihm einen Gleichgesinnten gefunden zu haben, da er seine Leidenschaft für alte Thriller schnell entdeckt hatte. Brian stand zwar mehr auf Science-Fiction und Fantasy, aber er hatte den Liebhabereifer an Jamie erkannt und glaubte anscheinend, er würde dessen Aufmerksamkeit bald auf ein Genre lenken können, das sie eher verdient hatte.

»Die Überlebenden der Kerry Dancer«, antwortete Jamie, ohne aufzusehen. Jetzt ging es nur noch darum, den Schaden in Grenzen zu halten. Manchmal konnte man Brian abwimmeln, wenn man nicht auf ihn einging. So, wie man sich tot stellt, wenn man einem Grizzly begegnet.

»Taugt es was?«

»Weiß noch nicht. Erstes Kapitel.«

Brian setzte sich neben ihn, wie immer ein bisschen zu nah. Resigniert klappte Jamie das Buch zu.

»Du solltest Ursula Le Guin noch eine Chance geben«, meinte Brian.

»Ich glaube, die ist nichts für mich, Brian.«

»Eine herausragende Schriftstellerin«, fuhr Brian unbeirrt fort. »Genau das Richtige, wenn du mal etwas ein, zwei Kategorien über MacLeans Niveau lesen willst.«

»Ich glaube, alles über MacLean ist mir zu hoch.«

»Wie? Zu kaputt von der Schinderei in der Geschichte?«, gluckste Brian. »Klauen dir die Kundenmassen etwa die Hirnleistung? Die schaffen es doch gar nicht bis in den zweiten Stock. Du solltest mal sehen, was in der Belletristik los ist.«

»Ehrlich gesagt, Brian«, antwortete Jamie und nutzte seine letzte Notlüge, »kann ich nicht so gut lesen.«

Er stopfte das Buch in die Tasche und verließ den Pausenraum, während Brian eine Entschuldigung stammelte. Dass ihm wertvolle Minuten seiner Pause gestohlen worden waren, machte Jamie auf eine kindische Art wütend. Er schlich an der Auskunftstheke vorbei und setzte sich zum Lesen in die kleine Nische zwischen jüdischer und Kriegsgeschichte, in der Hoffnung, Brian würde ihn dort nicht finden.

Er war so sehr in Die Überlebenden der Kerry Dancer vertieft, dass er das Paar zunächst gar nicht bemerkte. Dann machte die Frau eine Bewegung – vielleicht strich sie sich die Haare aus dem Gesicht oder schüttelte die Regentropfen von ihrem Mantel, später wusste er nicht mehr, was es gewesen war. Irgendetwas an ihrer Art, sich zu bewegen, fiel ihm jedenfalls ins Auge. Jamie wandte den Blick nicht von seinem Buch ab, aber seine Aufmerksamkeit war nun auf den jungen Mann und die Frau gerichtet, die vor ihm standen.

Jetzt sprach die Frau, flüsterte dem Mann etwas zu, das ihn zum Lachen brachte, und Jamie erstarrte augenblicklich. Er konnte zwar nicht hören, was sie sagte, aber er erkannte am Klang, am Rhythmus dieser Stimme etwas wieder, das die vergangenen Jahre ungeschehen machte.

Alice Brown.

Er sah aus dem Augenwinkel, wie sie sich umdrehte, stutzte und ihn anstarrte. Sie schaute direkt in seine Richtung.

Als sie auf ihn zuging, stand er auf.

»Jamie?«

Sie trug die Haare in einem kurzen, ordentlichen Bob, nicht mehr leuchtend rot wie früher, sondern natürlich dunkelbraun. Ihr Gesicht hingegen wirkte noch immer zerbrechlich, neugierig, wie das eines Kindes. Vor allem in diesem Moment, mit diesem zögerlichen Ausdruck. Sie war immer noch hübsch. Natürlich war sie immer noch hübsch.

»Bist das wirklich du?«, fragte sie. »Ich war mir nicht ganz sicher.« Sie wirkte nervös. Jamie fragte sich, ob auch er nervös wirkte, aber konnte es nicht einschätzen.

»Alice.«

»Ich fass es nicht.«

Da war es wieder, das alte, breite Lächeln. Wie viel Vertraulichkeit darin lag, wie es Alice und ihn zu Verbündeten machte, wenn sich ihre Blicke trafen, hatte Jamie immer gefallen. Irgendwann war ihm jedoch aufgegangen, dass sie dieses Lächeln jedem schenkte.

»Das ist ja ein Zufall«, sagte Alice. »Wir haben Marks Eltern in Leeds besucht und machen hier nur einen Zwischenstopp. Dann hat es angefangen zu regnen.« Sie gestikulierte, als wollte sie sagen: Und jetzt sind wir hier.

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Alice schien nur zu reden, um die Leere zwischen ihnen zu füllen. Nach der anfänglichen Überraschung merkte Jamie, dass sie sich nicht viel zu sagen hatten, und vermutete, Alice ginge es genauso.

Sie gab ihrem Begleiter ein Zeichen, und er kam herüber. Jamie musterte ihn. Er sah akzeptabel aus. Irgendwie nett, aber nicht gerade gutaussehend.

»Jamie, das ist mein Mann, Mark. Mark, das ist mein alter Freund Jamie.«

Ihr Mann. Jamie nahm die Neuigkeit still auf und schüttelte dem Mann die Hand. »Freut mich, dich kennenzulernen.« An Marks taxierendem Blick erkannte er, dass er verstand, was Alice mit »alter Freund« meinte. Er fragte sich, wie viel Mark wohl über ihn wusste. So, wie Mark ihn ansah, wahrscheinlich eine ganze Menge.

»Wir sind seit vier Monaten verheiratet«, sagte Alice...


Wait, Rebecca
Rebecca Wait, 1988 geboren, schloss 2010 ihr Englischstudium an der Oxford Universität mit Bestnote ab. Dort wurde sie vom Lyriker und Romanautor Craig Raine unterrichtet. Sie schreibt seit ihrer Kindheit und hat zahlreiche Preise für ihre Kurzgeschichten und Theaterstücke gewonnen. Kopfüber zurück ist ihr erster Roman.

Kroll, Anna-Nina
Rebecca Wait, 1988 geboren, schloss 2010 ihr Englischstudium an der Oxford Universität mit Bestnote ab. Dort wurde sie vom Lyriker und Romanautor Craig Raine unterrichtet. Sie schreibt seit ihrer Kindheit und hat zahlreiche Preise für ihre Kurzgeschichten und Theaterstücke gewonnen. Kopfüber zurück ist ihr erster Roman.

Rebecca Wait, 1988 geboren, verbrachte als Kind viel Zeit in den schottischen Highlands und auf den Hebriden. 2010 schloss sie ihr Englischstudium an der Oxford University ab. Heute ist sie Lehrerin in London. Sie hat zahlreiche Preise für ihre Kurzgeschichten und Theaterstücke gewonnen. Ihre Romane "Kopfüber zurück" und "Das Vermächtnis unsrer Väter" erschienen ebenfalls bei Kein & Aber.



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