Waldman | Singularkollektiv | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 154 Seiten

Waldman Singularkollektiv

Erzählungen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8353-8505-4
Verlag: Wallstein Erfolgstitel - Belletristik und Sachbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 154 Seiten

ISBN: 978-3-8353-8505-4
Verlag: Wallstein Erfolgstitel - Belletristik und Sachbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Aus dem dünnen Spalt zwischen der Einsamkeit des Übungsraums und der Anonymität der Orchesterreihen erscheinen Fantasien, Beobachtungen, gesellschaftliche Aphorismen.

Das könnt ihr euch nicht vorstellen. Den Rausch, die Angst, den Herzschlag, den Atem, das Gefühl, die Hitze. Mit diesen Worten taucht »Singularkollektiv« in eine Welt, die jenseits des Glamours liegt, der gewöhnlich mit klassischer Musik verbunden wird. Eine Welt unter der dünnen Schicht von Frack und Fliege, in der das Orchester einer weiten Steppe gleicht, einem bahnhofslosen Ort. Wo es nach Blech und Öl, Holz und Schweiß riecht. Aus dem dünnen Spalt zwischen der Einsamkeit des Übungsraums und der Anonymität der Orchesterreihen, zwischen Musikbeamtentum und brotloser Kunst, dringen Fantasien, Beobachtungen, gesellschaftliche Aphorismen nach außen. Die Geigerin, die so tut, als ob sie spielt und ihre stille Kunst feiert, der abgelehnte Posaunist, der um die Gunst eines neuen Generalmusikdirektors bangt. Der schlechte Cellist, der an seinem Cello wie ein Schiffbrüchiger hängt, der verspätete Geiger, auf den nicht gewartet wird. Die Scheinrealität einer Generalprobe. Die ungewöhnlichen Instrumente, die es in den Orchesterkanon nicht geschafft haben. Figuren und Momente, die der Orchesterwelt entstammen, aus dieser gleichzeitig herausragen als menschliche, gesellschaftliche Kommentare.

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Herr Müller kommt zu spät ins Konzert
Herr Müller kommt zu spät ins Konzert, wir sind doch auch alle nur Menschen, und trotzdem, Herr Müller kommt zu spät ins Konzert. Er schaut auf die Uhr, während er die Haustreppen runterhastet, sein Knie schlägt schmerzhaft gegen den Geigenkoffer, er stolpert, fast wäre er hingefallen, zu spät, zu spät, das schafft er niemals, der Herr Müller. Es ist das erste Mal, dass er zu spät kommt, seitdem er im Orchester ist, noch nie, noch nie, weder zur Probe noch zum Konzert, sieben Jahre ist er schon hier, in der Gruppe der 2. Geigen, kein Vorspieler, tutti, sehr zuverlässig, immer da, immer geübt, unscheinbar, höflich, schlank, schlaksige Arme und Beine, erster Ansatz einer Glatze, etwas traurige Augen, runde Nase, überraschend volle Lippen, ständiger grauer Bartschimmer, ein fast entenhaftes Gesicht, könnte man sagen, der Herr Müller.   Er gehört zu denen, die ab der Pubertät immer gleich aussehen, der Herr Müller. Bereits als er an der Hochschule studierte, erschien er wie ein Mann mittleren Alters, mit seinem entenhaften Gesicht und schlaksigen Armen. Oft saß er am Fenster am Ende des langen Ganges der Übungsräume und wartete darauf, dass eins frei wird, las währenddessen aus gelben Reclamausgaben, die er immer im Geigenkoffer bei sich trug, und trank Tee aus einer beigefarbenen Thermoskanne. Er wanderte zusammen mit den anderen Musikstudenten von einem Probespiel zum nächsten, auf der Suche nach einer festen Anstellung, spielte sorgfältig sein Mozartkonzert vor, die Auszüge aus diesem oder jenem Orchesterwerk, wie ein Kind, das eine Sandburg aus Förmchen bastelt, seine Mutter aber nicht ruft, sondern geduldig am Rande des Sandkastens wartet, bis sie hinschaut.   Ein Alptraum. Eine falsche Kalendereintragung, ein nicht gehörter Wecker, ein ausgefallener Zug. Kalter Schweiß, rasendes Herz, schnell hin- und herblickende Augen, hilfloser Frust, Hand zum Mund, zur Stirn, glättet zitternd das vielleicht noch nicht gebügelte Hemd, der Griff des Geigenkoffers ist feucht in der Hand, komm schon, 19:52, 19:57, 20:01.   Eine sonderbare Angelegenheit, so ein Probespiel. Die jungen Musikerinnen und Musiker treffen früh im Theater oder Konzertsaal ein, suchen nach ruhigen Ecken, um sich einzuspielen, noch mal diese oder jene Stelle zu üben, einige strotzen dröhnende Geselligkeit, um ihr Bangen zu überspielen, wie Patienten vor einem invasiven Eingriff. Viele sind abergläubig und absolvieren kleine Zeremonien, positives Denken, autogenes Training, Alexandertechnik, Yoga. Andere schlucken heimlich Beruhigungsmittel, meditieren, einmal haben wir einen jungen Mann vor einem Probespiel beim Beten beobachtet, mit geschlossenen Augen, die Finger, mit weiß gewordenen Knöcheln, um den Geigenhals festgeklammert. Dann kommt der Leiter der Stimmgruppe, die nach einem neuen Kollegen sucht, es ist sein großer Moment, er ruft alle Kandidaten zu sich, stellt sich breitbeinig in deren Mitte und erklärt die Probespielordnung. Erste Runde ein Solostück, zweite Runde (wer es schafft) noch ein Solostück, dritte Runde fünf Stellen aus der Orchesterliteratur, was Ruhiges, was Schnelles, was Schräges, was Schönes, was Fieses. Danach wird die Auftrittsreihenfolge verlost, alle schicken blasse Finger in die Tüte, holen einen Zettel mit einer Zahl heraus, die Abergläubigen stöhnen, die Gedopten hoffen, das Mittel wirkt, bevor sie dran sind.   Sie werden doch auf ihn warten müssen, nicht wahr, denkt sich Herr Müller, er stellt sich vor, wie das Orchester und das Publikum in Ruhe sitzen und warten, vielleicht gibt es hier und da etwas Murmeln, die Kollegen schauen auf seinen leeren Stuhl, nicken mit dem Kopf, werfen einen Blick auf den Bühneneingang. Er erinnert sich, in der letzten Spielzeit kam der 2. Oboist zu spät, da warteten sie auch, na gut, dachte sich der Herr Müller, der 2. Oboist ist der einzige, der seine Stimme spielt, Herr Müller ist Teil der Gruppe der 2. Geigen, und doch, sie werden auf ihn warten, ganz sicher.   Herr Müller gehörte weder zu denen, die einen Aberglauben pflegten, noch ließ er sich vom Arzt einen Betablocker verschreiben. Er nahm einfach seine Reclamhefte und Thermoskanne, stand morgens früh am Bahnsteig und wartete auf die Züge, die ihn mit seinen Kommilitonen zu den Probespielen kutschierten, nach Hamburg, Duisburg, München, Berlin, Dresden, Nürnberg, Köln. Aussteigen, Käsebrötchen kaufen, die Nahverkehrsinformation studieren, ins Theater fahren, sich einspielen, Zettel holen, auf die Bühne gehen, einen leisen »guten Tag« in den Saal schicken, wo fast das ganze Orchester sitzt, dem Probespiel zuhört und über die Kandidaten mitstimmt, den Korrepetitor begrüßen, kurz stimmen, die schlaksigen Arme kurz durchschütteln, noch mal in den Saal schauen, sich kurz räuspern, dem Korrepetitor mit dem Kopf ein Zeichen geben, Mozart. Verlegenes Lächeln, runter von der Bühne, warten. Der Leiter der Stimmgruppe kommt raus und liest die Namen derer vor, die weitergekommen sind – wichtig, denn nur wer in die zweite Runde kommt, bekommt auch die Fahrtkosten erstattet –, dann entweder sich für die zweite Runde einspielen, oder einpacken, Kaffee am Bahnhof, wann fährt der Zug zurück.   Herr Müller eilt, eilt durch Straßen, durch Gänge, der Kopf leicht gesenkt, ein schlaksiger Arm schwingt durch die Luft, der andere hält den Geigenkoffer dicht bei sich, fast wie ein Gewehr, irgendwann klammert er den Koffer unter den Arm, senkt den Kopf noch etwas weiter und kämpft sich durch, der Herr Müller, er rudert regelrecht mit dem freien Arm, zu spät, zu spät, wir sind doch alle Menschen, Herr Müller. Schweißringe in den Achseln des nicht gebügelten Frackhemds, er meißelt seinen Weg durch die Stadt, der Frust lässt ein ungewolltes, hohes Stöhnen aus seinem Mund entweichen, fast einen Schrei, er sieht schon den Konzertsaal, die Autos parken drum herum, höhnisch grausam in ihrer friedlichen Ruhe für den Herrn Müller.   Einmal, da wartete Herr Müller hinter der Bühne, es roch nach den schwarzbestrichenen, hölzernen Gegenständen, die wir aus jeder Hinterbühne dieser Welt kennen, nach dem Fett an den Seilen, die an der Wand angebunden sind und mit denen die verschiedenen Vorhänge getätigt werden. Einmal also, er war als Nächster dran, der Zettel mit seiner Nummer in seiner Tasche zerkleinert, hörte er, wie die Kandidatin vor ihm gerade spielte. Da merkte er, der Orchesterwart vergaß, die Tür zur Bühne fest zuzuziehen, er ließ einen Spalt offen, einen Lichtstrich in der hölzernen Dunkelheit der Hinterbühne. Er schaute kurz um sich, da war keiner, und ging vorsichtig an den Spalt, presste sein Auge dagegen und schaute. Er konnte der jungen Geigerin, die da gerade spielte, zusehen, sie im Profil beobachten. Sie hatte kurze, glatte braune Haare, eine sehr weiße, etwas dicke Haut, kleine Mandelaugen, eine rundliche Nase. Sie trug ein dünnes, dunkles Hemd aus einem glatten Kunststoff, das von ihren schmalen Schultern senkrecht abfiel. Jede Bewegung, die sie mit den Schultern machte, schickte Wellen durch das Hemd, kleine Wellchen bei langsamen Bewegungen, Sturmböen bei furiosen Passagen.   Herr Müller versucht, sich zwischen den geparkten Autos hindurchzuschlängeln, er hievt den Instrumentenkoffer über den Kopf, die Autos stehen dicht an dicht. Es ist so still um den Konzertsaal, alle Autos sind leer, der Brezelverkäufer sitzt auf einem mitgebrachten Hocker und unterhält sich mit dem Trompeter, der vor und nach dem Konzert dem hereineilenden oder herausrieselnden Publikum einige Klassik-Highlights anbietet, sonst ist niemand zu sehen, keiner raucht eine Zigarette vor dem Künstlereingang, der Künstlereingang, Herr Müller kann ihn bereits sehen, fast hat er die parkenden Autos überwunden, zu spät, zu spät, es ist still und leer um den Konzertsaal.   Die junge Dame erreichte eine sehr ruhige Passage, in deren Mitte sie einen langen Ton halten musste, den Bogen leicht über die Saiten gleiten lassen, sie kaum berühren. Herr Müller merkte, die junge Geigerin ist etwas aufgeregt, er merkte es an den Enden ihres Kunststoffhemdes, die langsam zu zittern begannen. Er merkte, wie das Ende des Bogens etwas tanzte, er hörte auch, wie der Klang ein kleines Stottern bekam. Er beobachtete das weiße Gesicht der jungen Geigerin, mit den kleinen Mandelaugen und der rundlichen Nase. Um sie herum, in der dunklen Luft des Saales, glänzten Staubkörnchen im Scheinwerferlicht, und er sah, die Geigerin schickte ihren Blick zu ihrem zittrigen Bogen, der hin und her tanzte, und lächelte leise vor sich hin. Zitterte und lächelte, lächelte und zitterte. Als ob der Bogen ein trotziges Kind wäre, auf dem die gütigen Augen der Mutter weilen. Herr Müller traute sich kaum zu atmen, fast wäre er auf die Bühne gefallen, so fest drückte er sein aufgerissenes Auge gegen den Lichtspalt der offenen Tür. Eine große Verwunderung fiel auf Herrn Müller, und als er auf die Bühne gerufen wurde, vergaß er fast, seine künftigen Kollegen und den Korrepetitor zu begrüßen, er stimmte gedankenverloren seine Geige, spielte los, verwundert, verwundert ging er auch von der Bühne ab und wartete, die Geige in der Hand, bis der Stimmführer herauskam und sagte, Herr Müller, gratuliere, herzlich willkommen.   Herr Müller erreicht den...


Waldman, Ofer
Ofer Waldman wurde 1979 in Jerusalem geboren. Als einer der ersten Musiker im West-Eastern Divan Orchestra zog er 1999 nach Berlin, wo er ein Orchestermusikerdiplom als Hornist absolvierte. Er spielte u. a. im Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, im Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, bei den Nürnberger Philharmonikern, an der Neuen Israelischen Oper und beim Israel Philharmonic Orchestra. Später wurde Ofer Waldman an der Hebräischen Universität Jerusalem (Geschichtswissenschaft) sowie an der Freien Universität Berlin (Germanistik) promoviert. Seit 2015 ist er als freier Autor tätig, hauptsächlich für deutsche Rundfunkanstalten. 2021 wurde er mit dem Deutschen Hörspielpreis der ARD ausgezeichnet.



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