E-Book, Deutsch, Band 1984, 369 Seiten
Reihe: Beck Paperback
Walther Staatenkonkurrenz und Vernunft
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-406-67175-3
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Europa 1648 - 1789
E-Book, Deutsch, Band 1984, 369 Seiten
Reihe: Beck Paperback
ISBN: 978-3-406-67175-3
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Zeit zwischen 1648 und 1789 ist eine Zeit der Gegensätze und Paradoxien. Das 'lange' 18. Jahrhundert erfand die Menschenrechte – und ließ die weibliche Hälfte der Menschheit außen vor. Es propagierte Selbstbestimmung – und perfektionierte die Sklaverei. Es gilt als Zeitalter der Vernunft und war doch von kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt wie kaum ein anderer Abschnitt der Geschichte.
Gerrit Walther entwickelt in diesem Band ein breites Panorama der europäischen Staaten und der von ihnen beherrschten Teile der außereuropäischen Welt zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und der Französischen Revolution. Hierbei zeigt sich, dass Staatenkonkurrenz und Vernunft die zentralen Begriffe sind, mit denen sich die Epoche der Aufklärung begreifen lässt.
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I. Facetten des Staates im 18. Jahrhundert
1. Ein Aufklärer sieht Europa
/a/ls der Göttinger Geograph und Philosophieprofessor Anton Friedrich Büsching 1760 in seiner Neuen Erdbeschreibung auf «Europa überhaupt» zu sprechen kam, charakterisierte er es als einen Kontinent mit buchstäblich fließenden Grenzen: Nach Süden werde Europa durch das Mittelmeer begrenzt, nach Westen durch den Atlantik und nach Norden durch das «Nordmeer», im Osten durch Asien. Über den genauen Verlauf dieser Grenze jedoch seien die Experten uneins. Fest stehe nur, dass der Don, das Asowsche und das Schwarze Meer, der Hellespont und die Ägäis zu dieser Grenze gehörten.[1] Büschings Zögern zeigt, wie sehr man schon um die Jahrhundertmitte die politischen Verhältnisse gerade in Europas Südosten als im Fluss befindlich ansah. Österreich hatte seit 1683 einen Großteil des Balkans erobert, sein Territorium und seine Bevölkerung um fast das Fünffache erweitert und damit Russland zu gesteigerten Anstrengungen veranlasst, sich seinerseits auf Kosten des Osmanischen Reichs zu vergrößern. Dabei hielt Büsching das Zarenreich («ohne Sibirien») mit 57.600 Quadratmeilen ohnehin schon für den der Fläche nach größten europäischen Staat; es folgten Polen-Litauen (12.900), Schweden (12.800), «Deutschland» (11.236), das «türkische Reich in Europa, nebst der Halbinsel Krim» (10.544) und Frankreich (10.000). Spanien (8500) eröffnete die Reihe der kleineren Staaten, die mit italienischen Kleinfürstentümern, wie Modena (90), endete.[2] Die Gesamtzahl der Einwohner Europas schätzte Büsching – etwas kühner als heutige Kliometriker – auf etwa 150 Millionen Menschen, und er unterließ als Aufklärer nicht den Hinweis, dass es bei fortschrittlicheren Anbaumethoden noch «weit mehrere» werden könnten.[3] Tatsächlich wuchs, nicht zuletzt durch den Zustrom westlicher Siedler, die Einwohnerzahl allein der osteuropäischen Staaten zwischen 1700 und 1800 um gut 200 Prozent. Die anderen großen Wachstumsregionen Europas, die überseeischen Niederlassungen der europäischen Mächte, ließ Büsching außer Betracht. Jedenfalls zählte er sie nicht zu deren europäischen Landen dazu. So kam ausgerechnet Großbritannien, das schon 1760 beachtlichen Besitz in Übersee hatte und drei Jahre später durch seinen Sieg im Siebenjährigen Krieg Europas größte Kolonialmacht werden sollte, auf seiner Tabelle unter die eher kleinen Mächte (6000) zu stehen. In den Blick geriet die überseeische Welt bei Büsching erst, als er im Folgenden fünf Gründe für seine Überzeugung aufführte, dass der kleinste der vier Kontinente zugleich «der wichtigste» sei. Erstens sei Europa der agrarisch besterschlossene Erdteil. Zweitens übertreffe es die drei übrigen «zusammen genommen, an Macht». Drittens nämlich hätten sich die Europäer «den größten Theil des übrigen Erdbodens entweder unterwürfig, oder doch in demselben furchtbar gemacht, so wie auch sie allein durch ihre Schiffahrten, Reisen und Handlung die Haupttheile der Erde in Verbindung mit einander setzen und erhalten». Viertens sei Europa «seit vielen Jahrhunderten der Hauptsitz der Wissenschaften und Künste», und fünftens werde «die Erkenntniß des wahren Gottes […] durch die Europäer in den andern Haupttheilen des Erdbodens ausgebreitet».[4] Auf Mission, so scheint es, wollte auch und gerade der Aufklärer nicht verzichten – selbst wenn Büsching, der promovierte Theologe, es vermied, Europa als schlechthin christlichen Kontinent zu bezeichnen: Zwar seien die meisten Europäer Christen, «es ist aber auch ein ansehnlicher Theil der jüdischen, ein anderer der muhammedanischen Religion, und ein kleinerer auch dem Heidenthume zugethan».[5] Wie viele seiner aufgeklärten Zeitgenossen konnte er Toleranz mit Werbung für das Christentum verbinden, weil er in diesem vorab eine universell gültige Ethik sah, eine «wohltätige Moral», die, so hieß es im zeitgleichen «Europa»-Artikel der großen Encyclopédie, «nur das Glück der Gesellschaft erstrebt».[6] Selbst der Skeptiker Voltaire fand, dass die europäischen Christen heute das seien, was in der Antike die Griechen gewesen seien: Träger von «Prinzipien von Humanität, die den anderen Weltteilen fehlen». In solcher «civilité» hatte Bernard de Fontenelle schon 1686 das unterscheidende Merkmal zwischen den Bewohnern «unseres Europas» und den «Barbarenvölkern» gesehen, die nur «Kraft und Gewalt» gewohnt seien.[7] Noch 1791 erklärte der Kulturphilosoph Johann Gottfried Herder die augenscheinliche Blüte Europas mit der hier gepflegten «Kultur der Vernunft» und der «Wissenschaft der Rechte», die besonders in den großen Städten als «gleichsam stehende[n] Heerlager[n] der Kultur, Werkstätten des Fleißes und de[s] Anfang[s] einer besseren Staatshaushaltung» gefördert worden seien, mit Universitäten, Erfindungen (wie Magnetnadel, Glas, Schießpulver und Papier), vor allem aber mit «gemeinschaftliche[n] Bemühungen» und «eigene[m] Kunstfleiß»: «Das Klima in Europa, die Reste der alten Griechen- und Römerwelt kamen Dem allen zu Hülfe; mithin ist auf Thätigkeit und Erfindung, auf Wissenschaften und ein gemeinschaftliches, wetteiferndes Bestreben die Herrlichkeit Europas gegründet.»[8] Bei diesem kulturellen Konkurrenzkampf um Fortschritt waren die europäischen Intellektuellen überzeugt, allen anderen Nationen voranzugehen. Zwar gehörte es zum intellektuellen Spiel, Nichteuropäern zu bestätigen, dass sie die Ideale europäischer Bildung und Kultur viel besser erfüllten als die Europäer selbst – weshalb Voltaire seinen Essai sur les moeurs et l’esprit des nations (1756/69) nicht mit Europa eröffnete, sondern mit dem konfuzianischen China. Tatsächlich aber zweifelte niemand ernstlich, dass europäische Werte und Standards die besten seien und dass man sie anderen Völkern und Kulturen daher als zeitlos universale Werte vermitteln sollte. «Diese weiten Länder bieten [uns Europäern] zahlreiche Völker, die, um sich zu zivilisieren, nur zu warten scheinen, bis sie von uns die Mittel dazu erhalten, und in den Europäern Brüder zu finden, um deren Freunde und Schüler zu werden», verkündete Condorcet am Ende seines Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (1794).[9] Und noch 1809 glaubte der Göttinger Historiker A. H. L. Heeren, in «einer größern und herrlichern Zukunft […] statt des beschränkten Europäischen Staatensystems der verflossenen Jahrhunderte, durch die Verbreitung Europäischer Cultur über ferne Welttheile und die aufblühenden Anpflanzungen der Europäer jenseits des Oceans, die Elemente zu einem freyern und größern, sich bereits mit Macht erhebenden, Weltstaatensystem erblick[en]» zu können.[10] Aufgeklärte Kultur, so schien es, bildete nicht nur zum Europäer, sondern zugleich zum Kosmopoliten. Europa war ihren Verfechtern weniger geographischer Begriff als ein weltumspannendes Fortschrittsprogramm. 2. Land und Herrschaft
Büschings Zahlen bleiben so valide wie sie nach Lage der Dinge sein können. Wenn er die Zahl derer, die im 18. Jahrhundert zwischen iberischer Atlantikküste und Ural lebten, mit 150 Millionen angibt, so lauten heutige Schätzungen für 1700 auf 100 bis 140 Millionen Menschen, für 1800 auf etwa 187 Millionen. Trotz ungeheurer Menschenverluste durch Kriege und Seuchen also: Wachstum, Optimismus, Zukunftszuversicht. Gleichwohl: dass die Zahlen so weit auseinander gehen, ist ein Indiz dafür, dass die Regierungen, auf deren Statistiken sie fußen, die meisten ihrer Untertanen nicht wirklich kannten. Zwar bemühten sie sich um zuverlässige Kataster und Karten und um regelmäßige Volkszählungen – in Rom fand die erste 1656 statt, in Frankreich 1744, in England erst 1801 –, sei es mit Hilfe der Kirchen, der Militärbehörden oder auf Statistic spezialisierter Universitätsprofessoren, sei es durch Zählungen von Personen, Häusern oder von «Feuerstellen», also Wohneinheiten. Zuverlässige Daten aber ergab das alles kaum. «London hat der Sage nach 120.000 Häuser, Paris 50.000, Amsterdam 26.000, Berlin 10.000, Wien nur 5500», mokierte sich 1786 der Wiener Journalist Johann Pezzl. «Dafür zählt man in London auf ein Haus 9 Personen, in Paris 20, in Amsterdam 8, in Berlin 15 und in Wien 47.»[11] Für klare Daten interessierten sich die zu Zählenden aber auch deshalb nicht, weil sie sehr wohl wussten,...