E-Book, Deutsch, 332 Seiten
Wartini Betweonan
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7407-3913-3
Verlag: TWENTYSIX
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stadt der Toten
E-Book, Deutsch, 332 Seiten
ISBN: 978-3-7407-3913-3
Verlag: TWENTYSIX
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Wartini ist am 06. April 1973 als jüngerer von zwei Brüdern in Bad Buchau, Baden-Württemberg, geboren. Heute lebt er mit seiner Frau, seiner Tochter und seinem Sohn im Landkreis Landsberg am Lech in Oberbayern. Nachdem er ursprünglich ein neusprachliches Gymnasium in Kaufbeuren besucht hat, ist er heute beruflich als Industriemeister Metall im Qualitätsmanagement eines Automobilzulieferers tätig. Die Leidenschaft für das Erfinden von Geschichten und das Schreiben hegte Michael Wartini schon seit seiner Kindheit. Dennoch dauerte es einige Jahre und diverse Anläufe, bis sein erstes Manuskript "BETWEONAN - Stadt der Toten" fertiggestellt und schließlich veröffentlicht wurde. Inspiriert durch Autoren wie Wolfgang & Heike Hohlbein, Peter Francis Straub oder Michael Ende schreibt auch er vorzugsweise mystische Fantasy und Horrorgeschichten, die darüber hinaus mit zeitentsprechenden Problematiken gespickt sind. So entsteht Crossover-Literatur, die Jung und Alt begeistert. Seit 2018 ist Michael Wartini aktives Mitglied bei der Landsberger Schreibwerkstatt.
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Dalman’s Grange
Der Mercedes-Benz W111 glitt eher behäbig als elegant die schmale Küstenstraße von Kynance Cove in Richtung Dalman’s Grange entlang. Diese engen Straßen längs der englischen Südküste, die kaum mehr als einem Fahrzeug zur gleichen Zeit erlaubten, sie zu befahren, waren eindeutig nicht das Terrain einer solchen Limousine der oberen Mittelklasse. Sie war vielmehr auf weit ausladenden Autobahnen mit gepflegten Fahrbahnoberflächen zu Hause. Das Fahrzeug war eines der ersten Modelle der Heckflossen-Serie von Mercedes-Benz und war Anfang der Sechzigerjahre auf den Markt gekommen. Von seinen Bewunderern wurde es auch ›Große Flosse‹ genannt. Dieses Auto war eines von vielen Symbolen des deutschen Wirtschaftswunders, dem unvermutet rasanten und eindrucksvollen Industriewachstum in Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkrieges.
Dr. Michael Braun war stolz darauf, diesen Wagen seit nunmehr beinahe fünf Jahren sein Eigen nennen zu dürfen. Er verkörperte für ihn den Erfolg, welchen er nun endlich nach vielen Jahren harter Arbeit als selbstständiger Architekt für sich verbuchen konnte. Es war eine unglaublich schwierige Zeit für ihn gewesen und besonders für seine Familie. Deutsche Ingenieurskunst war zugegeben knapp fünfundzwanzig Jahre nach Ende des Krieges durchaus wieder gefragt, selbst bei den ehemaligen Besatzungsmächten. Aber dennoch war es ein hartes und kräfteraubendes Stück Arbeit gewesen, als Ein-Mann-Unternehmen erfolgreich zu sein, zudem noch als Ehemann und Vater einer kleinen Tochter. Aus diesem Grund machte es ihm auch nicht das Geringste aus, den Sechszylinder über das ungewohnte Gelände zu manövrieren, ganz im Gegenteil.
Nur wenige Yards trennten die Familie Braun noch von ihrem Ankunftsort, ihrem neuen Zuhause. Anna sah müde aus einem der hinteren Seitenfenster der Limousine. Sie kannte diese langen Autofahrten nur zu gut. Diese unzähligen Umzüge, die aufgrund der verschiedenen Projekte ihres Vaters stets notwendig waren, brachten diese Reisen einfach mit sich. Anna war diesen Zustand inzwischen gewohnt, sie hasste ihn aber trotzdem. Die Küstenlandschaft Cornwalls zog mit ihren rauen und steilen Felsklippen an ihren Augen vorbei. Es war ein beeindruckender Anblick, zumal das Wetter heute ungewohnt trocken und sonnig war und nicht dem entsprach, was man allgemein vom typisch englischen Wetter erwarten würde. Doch Anna hatte keinen Blick dafür. Sie dachte an ihre Freunde, die sie erneut wegen eines Umzuges hatte zurücklassen müssen. Früher hatte dies kein Problem dargestellt. Als sie noch kleiner gewesen war, hatte ihr die Anwesenheit und Gesellschaft ihrer Mutter vollkommen genügt. Doch jetzt, im Alter von zehn Jahren, waren Freunde gleichen Alters zunehmend wichtiger für sie. Jedoch wurde es immer schwieriger, neue Kontakte zu finden und sobald die Ketten einmal geknüpft waren, musste sie diese wieder durchtrennen. Das schmerzte Anna sehr, aber trotz allem war sie ein optimistischer Mensch. Und so hoffte sie wie die letzten Male das Beste für ihr neues zu Hause.
Auf dem Beifahrersitz saß Annas Mutter. Sarah Braun, Lehrerin ohne feste Anstellung, ein Zustand der ebenfalls durch die Projekte ihres Mannes begünstigt wurde, war in ein Buch vertieft. Auch sie war der ständigen Ortswechsel inzwischen überdrüssig. Die einzige Konstante in ihrem Leben war Anna. Anfangs war dies vertretbar und durchaus in Ordnung gewesen, da sie sich in der Mutterrolle wohlgefühlt und darin auch ihre Bestätigung gesehen hatte. Jedoch mit den Jahren und der stetig wachsenden Selbstständigkeit ihrer Tochter war dieses Gefühl einer gewissen Unzufriedenheit gewichen. Sie war unglücklich darüber gewesen, dass sie sich nie hatte selbst verwirklichen können. Diese Tatsache war mehr und mehr auch zum Problem zwischen ihr und Anna geworden, da das Kind auf eine bestimmte Art und Weise der Auslöser für ihre Krise gewesen war, ohne aktiv selbst etwas dazu beigetragen zu haben. Sie war einfach nur geboren worden, nichts weiter, aber das allein schien bereits zu genügen. Früher war sie eine Mutter gewesen, liebevoll und voller Aufopferung für ihre Aufgabe. Jetzt war sie nur mehr eine Frau mit einer Tochter, welche verantwortungsbewusst ihre Pflichten erledigte.
Frau Braun sah kurz von ihrem Buch auf und blickte aus dem Seitenfenster. ›Eine reizvolle Gegend, keine Frage. Schön für einen Urlaub‹, dachte sie bei sich. ›Menschenleer ist es, nicht schön um hier zu leben.‹ Sie wandte ihren Blick wieder von der Umgebung ab und vertiefte sich gedankenversunken zurück in ihr Buch.
Kurze Zeit später erreichten die Reisenden ihr Ziel Dalman’s Grange. Dalman’s Grange war ein landwirtschaftliches Anwesen an der südwestlichen Küste von England, welches am Rande einer Felsklippe gelegen war. Das Gehöft befand sich ungefähr eine Meile westlich von Kynance Cove. Kynance Cove wiederum war eine Bucht, die etwa zwei Meilen nördlich von Lizard Point, dem südlichsten Punkt Englands, lag. Dalman’s Grange befand sich demnach in der englischen Grafschaft Cornwall, wo einst diverse Geschichtsschreiber Camelot, den Hof des sagenumwobenen Königs Artus, vermutet hatten. Cornwall grenzte im Osten an Devon. Die natürliche Grenze bildete dort der Fluss Tamar. Meerwasser umspülte die Grafschaft von drei Seiten. Dafür sorgten der Atlantische Ozean, der Ärmelkanal und die Keltische See. Die unverwechselbare Küstenlandschaft Cornwalls war durch raue, steile Felsen geprägt, die sich dann und wann mit weiten, sandigen Stränden und geheimnisvollen Buchten abwechselten. Das Klima war trotz der reichlichen Niederschläge gemäßigt, was zum größten Teil dem warmen Nordatlantikstrom zu verdanken war. Da überdies auch die Winter äußerst mild verliefen, konnten an manchen Stellen sogar mediterrane Gewächse Wurzeln schlagen. Kynance Cove galt seit jeher unter den Einheimischen als eine der schönsten Buchten Englands, wenn nicht gar der ganzen Welt. Daher war es nicht verwunderlich, dass sich in dieser Gegend trotz der Abgeschiedenheit immer wieder Menschen niederließen. Das Gehöft Dalman’s Grange selbst wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts erbaut. Das Anwesen bestand aus einem Haupthaus, gewissermaßen dem Wohnhaus, und einem angrenzenden Stall. Zwischen dem Haus und dem Stallgebäude befand sich der Hof.
Der Wagen kam schwerfällig zum Stehen. Die Räder gruben tiefe Rinnen in den vom Regen der letzten Tage aufgeweichten Boden. Dr. Braun zeigte sich wenig erfreut, als er beim Aussteigen feststellen musste, dass sein gepflegter Sechszylinder einer landwirtschaftlichen Maschine glich. Spuren von hellbraunem Matsch zierten Radkästen und große Teile der Kotflügel. Er nahm sich fest vor ihn heute noch reinigen zu lassen.
Dr. Michael Braun war dreiundvierzig Jahre alt. Er war ein hochgewachsener und sportlicher Mann. Seine Figur musste sich allerdings mittlerweile einen kleinen Bauchansatz gefallen lassen, welcher seit seinem vierzigsten Geburtstag unbarmherzig Einzug hielt. Er hatte kurz geschnittenes, braunes, stets gut gepflegtes Haar und trug einen nicht minder gepflegten Oberlippenbart. Entgegen seiner ausgeprägten Eitelkeit musste er sich jedoch den altersbedingten Gebrechen beugen und eine Brille tragen. Nach einer langwierigen und aufwändigen Recherche war es ihm aber schließlich gelungen ein Modell ausfindig zu machen, welches seiner Attraktivität keinen Abbruch tat. Herr Braun war immer vorbildlich gekleidet, stets im Business Anzug, je nach Anlass mehr oder weniger vornehm. Selbst im privaten Umfeld, wenn er denn einmal zu Hause war, entschied er sich gegen bequeme Freizeitkleidung. Diesem Umstand hatte er es wahrscheinlich mitunter zu verdanken, dass er selten näheren Kontakt mit dem ländlichen Volk in seiner Nachbarschaft hatte, obwohl er jedes Mal bevorzugte, ländlich zu wohnen. Aber vor allen Dingen fehlte ihm für so etwas die Zeit.
Dr. Braun war sehr wissbegierig und intelligent. Sein Spezialgebiet war aber vornehmlich technischer Natur. Er war Diplomingenieur für Architektur und dementsprechend stand es auch mit seinem Fachwissen. Wenn er sich einmal in seiner Freizeit einem anderen Thema zuwandte, versuchte er sich als Börsenmakler. Er handelte mit Aktien, zu seinem Leidwesen meist mit mäßigem Erfolg. Wenn er einmal mit einer Anlage Glück hatte, hatte ein anderes Objekt diesen Erfolg gleichzeitig wieder zunichte gemacht. Aber genau genommen hatte er genauso wenig Zeit für Hobbys, wie für die Pflege von Bekanntschaften, da er die meiste Zeit des Tages, und das auch am Wochenende, seinen Bauprojekten nachging.
Zweifellos war Dr. Braun ein freundlicher und geduldiger Zeitgenosse. Was er hingegen überhaupt nicht ausstehen konnte, waren Faulheit oder eine durch Faulheit verursachte mangelhafte Bildung. Er war der festen Überzeugung, dass man mit Fleiß alles schaffen konnte, wenn man es nur wollte. Dementsprechend war sein Verhältnis zu Anna relativ kühl, rational und wenig herzlich. Er war hauptsächlich daran interessiert, dass seine Tochter so viel wie möglich lernte, um später im Leben berufliche Erfolge verzeichnen zu können. Ihre tatsächlichen Neigungen und...




