Waterdrinker | Tschaikowskistraße 40 | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 392 Seiten

Waterdrinker Tschaikowskistraße 40


1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-95757-904-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 392 Seiten

ISBN: 978-3-95757-904-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



"Gott unser Vater, der Schöpfer, der seinen einzigen Sohn auf die Erde entsandt hat, um uns zu erretten, ist in großer Not." So spricht ein Mann, der im Oktober 1988 plötzlich auf der Türschwelle des jungen Juristen Pieter Waterdrinker auftaucht und diesem sogleich ein höchst fragwürdiges Jobangebot unterbreitet: 7 000 Bibeln sollen ins sowjetische Leningrad geschmuggelt werden. Was sich anhört wie der Beginn eines absurden Spionageromans, ist in Wirklichkeit Auftakt zu einem abenteuerlichen Leben zwischen Ost und West. Waterdrinker nimmt den Auftrag an – und ist plötzlich mittendrin in der dubiosen Geschäftswelt der späten Sowjetunion. Nach deren Zusammenbruch und seiner persönlichen Pleite wird er in der Russischen Föderation Korrespondent der größten niederländischen Tageszeitung.
Wie passend, ist doch die Tschaikowskistraße, wo Waterdrinker noch immer mit seiner Frau Julia und seinen Katzen wohnt, ein Epizentrum der russischen Geschichte. Dort lebten nicht nur der Wunderheiler Rasputin und die Geliebte des Zaren Nikolaus II., die Straße war auch einer der bedeutendsten Schauplätze der Oktoberrevolution. Mühelos verwebt Waterdrinker die Geschichte Russlands mit seiner eigenen, lässt Vergangenes und Gegenwärtiges ineinanderfließen, denn er weiß: Die Geschichte wiederholt sich nicht, sie reimt sich.

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Erstes Kapitel
An einem späten Oktobermorgen des Jahres 1988 fragte mich ein Typ aus Leiden, ob ich mich in der Lage sähe, knapp siebentausend Bibeln in die Sowjetunion zu liefern. Ich weiß bis heute nicht, wie er auf mich gekommen ist. Damals sprach in den Niederlanden kaum jemand Russisch, außer den wenigen, die die UdSSR tatsächlich besucht hatten. Ich war zum damaligen Zeitpunkt einmal dort gewesen, und das war jetzt mehr als sieben Jahre her. Vielleicht war es auch nur alles reiner Zufall, denn das ist es, was mich das Leben gelehrt hat: Diese Welt wird von Willkür regiert. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt und vor Kurzem, nachdem ich mehr als anderthalb Jahre auf den Kanarischen Inseln und in einem Bergdorf auf dem spanischen Festland gelebt hatte, wieder bei meinen Eltern eingezogen. Ich war wieder in meinem grässlichen Jungszimmer gelandet, zweimal dreieinhalb Meter groß. »Darf ich auf einen Sprung hereinkommen?« Der Mann hatte nasse, schwarze Haare, die sorgfältig in eine Richtung gekämmt waren. Der Scheitel wirkte wie mit einer Brennschere gezogen. Er trug einen braunen Regenmantel mit braunen Knöpfen. »Meine Eltern sind nicht zu Hause«, antwortete ich. »Sie sind nach Haarlem ins Krankenhaus.« Er sei nicht ihretwegen gekommen, sondern wegen mir. »Siderius«, sagte diese Vorkriegsgestalt dann. Ein paar Sekunden später saß er auf der Couch, machte sich in seinem Regenmantel breit wie ein Raubvogel im Horst; er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch durch seine Adlernase. »Meine Zeit ist begrenzt«, begann Siderius. »Und die Frage, weshalb ich gekommen bin, ist eigentlich ganz einfach zu beantworten. Können Sie sich in – sagen wir – ungefähr drei Wochen um die Lieferung einer Ladung russischer Bibeln in den Hafen von Leningrad kümmern?« Die Frage war absurd, totaler Blödsinn. Ich nickte einigermaßen entgeistert; der Zigarettenrauch hing wie eine blaue Gardine zwischen mir und dem Mann. »Gott unser Vater, der Schöpfer, der seinen einzigen Sohn auf die Erde entsandt hat, um uns zu erretten, ist in großer Not. Der Osten ist in Bewegung gekommen. Ich nehme an, dass Sie das alles verfolgen. Doch es ist wie im Krieg: Der Sieg ist erst dann perfekt, wenn man triumphieren kann. Alles, was ich Ihnen jetzt sagen werde, ist geheim, oder um es in der Terminologie unserer Feinde von KGB und Stasi auszudrücken: qualifizierte Information! Hätten Sie vielleicht ein Glas Wasser? Ich muss meine Tabletten einnehmen … Gicht, höllische Gelenkschmerzen, bei so einem Anfall würde ich manchmal am liebsten sterben …« Als ich aus der Küche zurück war, leerte der Mann das Glas mit schmerzverzerrtem Gesicht und sprach dann über ein Phänomen, von dem ich noch nie etwas gehört hatte: den groß angelegten illegalen Transport hauptsächlich russischer Bibeln in den Ostblock. An der Grenze von Finnland zur Sowjetunion ließ man manchmal Ballons mit Bibeln aufsteigen in der Hoffnung, dass sie irgendwo im Imperium des Antichristen, im von Lenin begründeten Roten Reich, niedergehen würden. Doch der eigentliche religiöse Schmuggel war zentral auf der Straße organisiert, in speziell umgebauten Limousinen, Kleinbussen, einem Motorrad mit Beiwagen, in dem Gläubige überwiegend protestantischer Richtung mit Feuereifer Länder wie die DDR, Ungarn und Rumänien aufsuchten. Es war ziemlich riskant – Verhaftung und Gefängnisstrafe drohten. Am gefürchtetsten waren die DDR-Grenzsoldaten mit ihren Schäferhunden. Sie standen bereit, um mit Spiegeln unter die Autos zu spähen, mit Hämmerchen die Karosserie und den Rest der Fahrzeuge abzuklopfen, um doppelte Böden aufzuspüren, in denen aufrührerische antisozialistische Lektüre, Pornografie und Bibeln versteckt sein könnten. Die perfekte Tarnung bildete die Familie; die glückliche, kinderreiche Familie, die während des Urlaubs im gelobten Land unterwegs zu Feldern, Wäldern und Stränden war. Auch Siderius war häufig in den Osten gereist, hatte aber aufgrund der Erkrankung seiner Frau die Missionsarbeit aufgegeben. Der Annäherung an die Grenze sei immer ein Gebet in Gottes freier Natur vorausgegangen. Nie sei auch nur eine einzige der versteckten Bibeln hinter der Küchenwand und unter den Klappbetten seines VW-Busses entdeckt worden. »Sie machen es also?« Siderius, dessen rechte Hand mit pfingstrosenfarbenen Knötchen übersät war, drehte jetzt so kräftig an seinem Ehering, als wollte er ihn abziehen. »Was genau?« »Sich um die Lieferung von siebentausend Bibeln nach Leningrad kümmern. Sie sprechen doch Russisch? Sie sind doch schon in der Sowjetunion gewesen?« Mit einem himmlischen Leuchten in seinen hellblauen Augen sah Siderius mich beinahe flehentlich an. Am nächsten Tag wartete Siderius vor dem Rotterdamer Hauptbahnhof auf mich. Mit einem kleinen Auto waren wir durch den Sturzregen nach Pernis gefahren, damit ich die Organisation kennenlernte. Er dozierte: »Die Politik im Osten ist ins Rutschen gekommen wie Getreide an Bord eines Schiffs. Aber wissen Sie, in welcher Gefahr sich ein Schiff auf hoher See befindet, wenn sich die Ladung im Frachtraum verschiebt? Dann kann es nur noch abwärts gehen!« Laut Siderius hatte sich beim Bibelschmuggel im Laufe der Jahre eine Art Konkurrenz zwischen den Kirchen entwickelt. Er selbst war niederländisch-reformiert, doch auch andere Strömungen der Reformierten und sogar die Mormonen und Mennoniten hatten sich inzwischen auf den Schmuggel verlegt. Es war fast ein Wettbewerb daraus entstanden. »Der Kirchenrat sieht die aktuelle Situation als Krieg: jetzt oder nie. Der Kampf, die Bewaffnung an der Front, muss verstärkt werden. Die Zahl der Bibeln in Kleinbussen wächst nicht schnell genug. Wir müssen unsere von Marx geknechteten Brüder und Schwestern großzügig mit geistiger Nahrung, Hoffnung und Licht versorgen. Was Sie gleich sehen werden, ist eine Probesendung: siebentausend russische Bibeln, hübsch versteckt zwischen ein paar Tonnen zeeländischer Kartoffeln. Wenn diese Mission gelingt, liegen weitere achtzigtausend für uns in einem Lagerhaus in Gouda bereit. Um über Leningrad ihren Weg nach Moskau, in den Ural und bis in die Dörfer im tiefsten Sibirien zu finden. Die Reformierten planen auch etwas mit einem Schiff, doch sie schweigen sich darüber aus, diese ewigen Geheimniskrämer!« In einem Schuppen, in dem Kartoffeln wie Berge von Steinkohle aufgeschüttet lagen, wurde ich drei Männern mittleren Alters in langen Herrenmänteln vorgestellt. Schweigend und mit misstrauisch-scheuen Blicken drückten sie mir die Hand und begannen dann in einer Ecke miteinander wie die Tauben zu gurren, bis der Mittlere der drei schließlich sagte: »Gut, Siderius, wenn du sagst, dass dieser Bruder in Ordnung ist, dann vertrauen wir darauf.« Danach versank er ins Gebet. Für den Erfolg meiner Mission. Ich hatte seit meiner Kindheit nicht mehr gebetet; ich hielt die Augen für ein paar Sekunden geschlossen. Mit gefalteten Händen musterte ich die Gläubigen: gute, kräftige, gediegene holländische Köpfe, wie in Stein gemeißelt. Flugreise, Aufenthaltsvisum sowie Hotelkosten sollten erstattet werden. Ich machte es des Abenteuers wegen; was den Rest anging, musste ich auf Gottes Lohn vertrauen. Anderthalb Wochen später schnüffelte ich in den Gängen eines Altersheims in einem Außenbezirk von Leningrad menschlichen Dunst, den Geruch von Krankheit, Not, Verwesung. Ich hatte sechs Pakete mit kyrillischen Bibeln zu zwölf Stück, die mit Angelsehne in tabakbraunes Papier verschnürt waren, an einem Pförtner vorbei in den Flur des zweiten Stocks geschleppt, in dieses Universum von Zimmeraralien und unerträglichem Gestank. Die Direktorin, eine Russin mittleren Alters mit violetter, glockenförmiger Frisur, stand neben einem Servierwagen mit Gummirädern. »Lina, mach das Ding hier mal sauber! Überall noch Brei- und Suppenflecke! Was sind denn das für Zustände? Schnell, ein feuchtes Tuch! Was soll unser Gast von uns denken?« Mit einem Holzlineal schlug die Direktorin auf den Schiebegriff des Servierwagens. »Ich zähle jetzt langsam bis drei! Lass mich nicht wütend werden … Eins! Zwei! Und das ist …« Ein schmächtiges Mädchen um die fünfundzwanzig, das den letzten Knopf ihrer seegrünen Schürze zumachte, kam zappelig wie ein Wiesel durch eine Tür geflitzt. Es sagte: »Ich habe Sie schon gehört! Aber ich habe eine saubere Windel in der Waschküche gesucht. Wir haben überhaupt keine Windeln mehr … In Zimmer 7 liegen drei Frauen …« »Was plapperst du da? Komm, dawai, einen feuchten Lappen!«, befahl die Direktorin, die Frau Lentowa hieß. »Dieser ausländische Herr hier hat uns Bibeln...


Pieter Waterdrinker, 1961 in den Niederlanden geboren, wuchs in dem Ferienort Zandvoort

auf, studierte Russisch, Französisch und Jura an der VU Amsterdam und lebte eine Weile auf

den Kanarischen Inseln, bevor er sich 1996 dauerhaft in St. Petersburg niederließ, wo er als

Korrespondent für De Telegraaf, VPRO und Vrij Nederland arbeitet. Seine Bücher wurden in

viele Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet.

Ulrich Faure, 1954 in Halle (Saale) geboren, ist Publizist, Lektor, Übersetzer und Herausgeber. Er war Online-Chefredakteur beim Branchenmagazin BuchMarkt. Aus dem Niederländischen übersetzte er u. a. Werke von Thomas Heerma van Voss und Simon Carmiggelt. Faure lebt in Düsseldorf.



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