Weidenholzer | Der Winter tut den Fischen gut | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 250 Seiten

Weidenholzer Der Winter tut den Fischen gut


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-7017-4291-2
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 250 Seiten

ISBN: 978-3-7017-4291-2
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Was haben Miranda July, Markus Werner und Wilhelm Genazino gemeinsam? Lesen Sie dieses Buch und Sie wissen es. Maria hat Zeit. So sitzt sie tagsüber oft auf einer Bank am Platz vor der Kirche, beobachtet das Treiben dort, ein Kommen und Gehen, Leute, die Ziele haben und wenig Zeit. Die arbeitslose Textilfachverkäuferin kennt sich mit Stoffen aus, weiß, was zueinander passt, was Schwächen kaschiert und Vorzüge betont. In ihrem Fall ist das schwieriger: Welcher Vorzug macht ihr Alter vergessen für einen Markt, der sie nicht braucht? Alt ist sie nicht, aber ihr Leben läuft trotzdem rückwärts, an seinen Möglichkeiten, Träumen und Unfällen vorbei: Otto, den sie im Gemüsefach vergisst, Walter, den Elvis-Imitator von der traurigen Gestalt, der sie zur Witwe macht, Eduard, der mit einer anderen aus der Stadt zurückkehrt, ihre kleinere Schwester, die sosehr Mutter ist, dass sie Maria wie ein Kind behandelt. In solchen Geschichten um solche Menschen, liebenswert in ihrer skurrilen Versponnenheit, entwirft Anna Weidenholzer ein Bild von einer Frau am Rande der Gesellschaft. Und das ist immer noch mitten im Leben.

Anna Weidenholzer geboren 1984 in Linz, lebt in Wien. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Wien und WrocBaw, Polen. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien, zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Alfred-Gesswein-Preis 2009, Aufenthaltsstipendium Schloss Wiepersdorf 2011, Staatsstipendium für Literatur 2011/2012. Mit ihrem ersten Buch, 'Der Platz des Hundes' (2010), war sie 2011 für das Europäische Festival des Debütromans in Kiel nominiert.

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54 Der Spiegel
Die Küchenuhr hängt links über dem Herd zwischen den Küchenkästen, der Zeiger gleitet die Zahlen entlang. Acht Uhr fünfundfünfzig, liest Maria, als sie an diesem Dienstagmorgen der Uhr gegenüber am Küchentisch sitzt. Maria trägt den hellblauen Frotteebademantel, den sie jeden Morgen trägt, außer im Sommer, wenn sie im Nachthemd frühstückt, weil es im Bademantel zu warm wäre, selbst an kalten Sommertagen. Am rechten Ellbogen ist der Stoff abgewetzt, auf die rechte Hand stützt Maria ihren Kopf, wenn sie nach dem Frühstücken Zeitung liest oder in die Luft schaut, Kaffee trinkt, frischem Kaffee beim Dampfen zusieht. Kaffee trinkt Maria mit Milch und ohne Zucker. Es ist einfacher, Kaffee ohne Milch zu trinken, sagte Herr Willert, wenn Maria in der Kaffeeküche Milch in ihre Tasse schüttete und beim Umrühren darauf achtete, ob die Milch zu Flocken wurde. Man braucht dann keine Milch zu kaufen, sagte er und verrührte die Milch langsam in seinem Kaffee, bevor er mit dem Daumen gegen den Süßstoffspender drückte und zwei Stück Süßstoff in die Tasse fielen. Maria denkt an Herrn Willert an diesem Dienstagmorgen in der Küche und trinkt einen kleinen Schluck, weil nicht mehr viel Kaffee in der Tasse ist und sie nicht möchte, dass die Tasse leer wird, dass sie aufstehen, dass sie neuen Kaffee holen muss, der immer drei Schlucke zu viel ist. Drei Schlucke, die Maria trotzdem trinkt, weil sie nicht möchte, dass etwas übrig bleibt. Das Fenster ist nicht weit vom Tisch entfernt, durch das Fenster sieht Maria in den Innenhof, der groß ist. Größer als ein Fußballfeld, sagte Walter und streckte dazu die Arme zur Seite. Im vorderen Teil haben wir unseren Gemüsegarten, im hinteren Teil spielen die Kinder; wir haben keine Kinder, wissen Sie das nicht. Die Sandkästen müssen abends abgedeckt werden, wegen der Katzen, die Fichte ist höher geworden, die Fichte hat das ganze Licht genommen und lässt es auch im Winter nicht durch. Unter ihrem Frotteebademantel trägt Maria ein Baumwollnachthemd. Baumwolle lässt die Haut gut atmen, etwas anderes würde Maria in der Nacht nicht tragen. An diesem Dienstagmorgen trinkt sie den letzten Schluck Kaffee, setzt die Tasse danach noch einmal an, bis ein kleiner Tropfen nachkommt. Dann geht sie ins Bad, das nur von der Küche aus zu erreichen ist, rosa Fliesen, eine Sitzbadewanne, das Waschbecken daneben. Das Badezimmer hat kein Fenster, Maria wechselt ab: Zuerst das Gesicht waschen, dann den Bademantel ausziehen. Sich kämmen, beim Scheitel die Haare auseinanderziehen, sich ärgern, dass sie schon wieder gefärbt werden müssen, das Nachthemd ausziehen, die Zähne putzen, die Unterhose ausziehen, das Gesicht eincremen, die Hausschuhe ausziehen, die Augen schminken, die Unterhose anziehen. Für weitere Kleidungsstücke fehlen die Zwischenschritte, und Maria zieht sich ohne Unterbrechung an. Machen Sie konsequent, systematisch, parallel, schnell und viel. Maria zieht an diesem Dienstagmorgen weiße Socken, weiße Unterwäsche, eine hellblaue Bluse und eine weiße Hose an. Der Spiegel hängt links neben der Eingangstür, rechts wäre kein Platz dafür. Rechts ist die Wand mit einem Schrank verbaut, darin die Jacken, die Taschen, die Wintermäntel. Der Schrank schließt bis oben hin zur Decke ab. Stauraum, sagten Maria und Walter, als sie den Schrank aussuchten, Stauraum ist wichtig. Darin hat alles seinen Platz, sagte der Verkäufer, und Maria schaute auf sein Hemd, der zweite Knopf von oben hatte sich geöffnet, oder war er schon die ganze Zeit über offen gestanden, und nickte. So kann man doch nicht verkaufen, sagte Maria später im Auto, als sie mit Walter nach Hause fuhr. Da hat sich einer zum Linksabbiegen rechts eingereiht, antwortete Walter. Beim Verkaufen muss man auf sein Auftreten achten, sagte Maria. Wie lange es noch dauern wird, bis er begriffen hat, dass er auf der falschen Seite steht, antwortete Walter und hupte. So kann man doch nicht verkaufen, sagte Maria. Doch, antwortete Walter, also doch. Der Rahmen des Spiegels ist golden, wie die Schlüssel, die in den Schranktüren stecken, nur dass bei den Schlüsseln das Gold an einigen Stellen abgegriffen ist. Maria schaut in den Spiegel, sie lächelt und ärgert sich über die Falten, die dabei entstehen, sie beschließt, nicht mehr zu lächeln, sie zieht die Bluse an den Oberarmen ein Stück hinunter. Kundinnen mit schlaffen Oberarmen ist von ärmelfreien Oberteilen abzuraten, sagte Herr Willert, die Kundinnen dürfen dabei nicht auf ihre Oberarme angesprochen werden. Drücken Sie Begeisterung aus, wenn Ihnen etwas an der Kundin gefällt. Weisen Sie auf andere Kleidungsstücke hin, sollte eines nicht geeignet sein. Sollte Ihnen an der Kundin etwas nicht gefallen, was der Kundin gefällt, schweigen Sie. Maria sieht im Spiegel ihre Augen, die an Vormittagen trüber sind als an Nachmittagen. Mit schwarzem Augenkonturenstift hat Maria sie umrandet, ihre grünen Augen, die nach dem Aufstehen eine Weile brauchen, bis sie klar werden, die Wimpern getuscht. Mit dem Zeigefinger wischt sie unter dem linken Auge eine Wimper weg, sie fährt mit der Hand durch ihre Haare, sie richtet sich auf. Der Rahmen des Spiegels ist breit, er bietet genügend Platz für die Zettel. Maria befestigt sie mit Klebebandstreifen, die sie zuvor gegen ihren Handrücken drückt, damit sie nicht so stark haften und die Goldfarbe ablösen. Die Sätze sind in Großbuchstaben geschrieben, sonst müsste Maria zu nahe an den Spiegel heran, wenn sie lesen möchte, was auf den Zetteln steht. An diesem Novemberdienstagmorgen betrachtet sich Maria kurzärmelig vor dem Spiegel und bemerkt, dass sich auf ihren Unterarmen die Haare aufstellen. So nicht, sagt sie und geht hinüber ins Schlafzimmer, um eine Strickjacke zu holen. Weiß passt zu Blau und Blau nicht zu Schwarz. Achten Sie auf die Farben, sagte Herr Willert. Herr Willert trug Grau und manchmal auch Dunkelblau; gedeckte Farben, wie er sagte, Männer und Frauen wirken in gedeckten Farben seriös, Frauen auch in Pastell. Im Schlafzimmer streift Maria mit der Hand über das Leintuch, schüttelt den Polster auf, legt die Bettdecke gerade hin. Auf Walters Seite zieht sie an den Enden der Decke, damit die Falten verschwinden. Auf Walters Seite wird die Bettwäsche nur alle vier Wochen gewechselt, auf Marias Seite alle zwei. In geraden Monaten holt Maria die grünen Überzüge aus dem Schrank hervor, in ungeraden die gelben. Weil bei Walter nur alle vier Wochen gewechselt wird, bleibt immer eine Reservegarnitur, für Notfälle und für Gäste, würde Maria sagen, würde sie mit jemandem über ihre Bettwäsche sprechen. An diesem Dienstagmorgen nimmt sie eine weiße Strickweste aus dem Kleiderschrank und versperrt ihn, nachdem sie ihn geschlossen hat. Den Schlüssel lässt sie stecken, sie zieht ihn niemals ab. Vom Schlafzimmer zum Spiegel sind es wenige Schritte, auf der Vorzimmerkommode liegen die Briefe, ungeöffnet, gesammelt von Dienstag bis Freitag, Montag ist keine Post gekommen. Der Tierschutzverein hat geschrieben, der Mobilfunkanbieter, der Vorteilsclub, das Arbeitsmarktservice, der Verein zur Hilfe für an Lepra erkrankte Kinder in Ostindien, eine Boutique, bei der sich Maria beworben hat. Maria hat die Briefe nach Themen geordnet: Tiere, Rechnungen, Werbungen, Möglichkeiten, Pflichten. Sie zerreißt die Rechnungen und versteckt den Brief vom Arbeitsmarktservice in der ersten Schublade unter dem Telefonbuch. Danach beißt sie auf ihre Unterlippe, atmet tief ein und aus. Sie geht hinüber zum Spiegel und setzt ein Lächeln auf. Sie liest von links nach rechts: Ich kenne mich mit der Materie aus. Ich habe ein schönes Foto, auf dem du Tauben fütterst. Zumindest habe ich das erreicht, was ich erreichen wollte. Als es klingelt, erschrickt sie, sie dreht sich zur Seite und greift zum Telefon, das auf der Vorzimmerkommode zwischen den Briefen liegt, sie hält es zum Ohr, sagt: Beerenberger. Eine Frau ist am anderen Ende der Leitung, sie nennt ihren Namen, den Maria gleich wieder vergessen haben wird, sie sagt: Ich rufe im Auftrag Ihrer Bankfiliale an. Es ist uns wichtig, mit unseren Kunden guten Kontakt zu halten, deshalb möchte ich Sie fragen, wie Sie mit unseren Dienstleistungen zufrieden sind, Frau Beerenberger. Ich bin zufrieden, sagt Maria, es fehlt mir an nichts, bitte entschuldigen Sie, ich habe keine Zeit, ich bin beschäftigt. Darf ich Sie zu einem späteren Zeitpunkt anrufen, fragt die Frau, Ihre Meinung ist uns wichtig, Frau Beerenberger. Und darf ich Sie noch kurz fragen, ob sich Ihre Adresse geändert hat. Maria wartet, bis die Anruferin eine Pause macht. Dann legt sie auf. Es hat sich ohnehin nichts geändert, denkt sie. Sollte sie noch einmal anrufen, werde ich nicht abheben, und sollte ich versehentlich abheben, werde ich sagen: Entschuldigen Sie, der Empfang war weg, ich lebe in einem Funkloch. Vor fünfundzwanzig Jahren ist Maria mit Walter in die Wohnung gezogen. Eine Genossenschaftswohnung, Halbparterre, mit Blick in den Hof und Blick auf die Straße. Walters Mutter sagte: Wir haben genug Platz, bleibt doch. Jetzt aber, sagt Maria und stellt sich aufrecht vor den Spiegel, sie zieht die Schulterblätter zurück und beginnt von vorn:...


Anna Weidenholzer
geboren 1984 in Linz, lebt in Wien. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Wien und WrocBaw, Polen. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien, zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Alfred-Gesswein-Preis 2009, Aufenthaltsstipendium Schloss Wiepersdorf 2011, Staatsstipendium für Literatur 2011/2012. Mit ihrem ersten Buch, "Der Platz des Hundes" (2010), war sie 2011 für das Europäische Festival des Debütromans in Kiel nominiert.



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