Weidenholzer | Hier treibt mein Kartoffelherz | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 155 Seiten

Weidenholzer Hier treibt mein Kartoffelherz

Erzählungen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7518-1024-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 155 Seiten

ISBN: 978-3-7518-1024-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie in einem Panoramabild, wie auf der geplanten detailgetreuen Nachbildung des Ortszentrums stehen sie aufgereiht: der Nachbar, der den Arbeitsmantel trägt, der Flachländer, der jeden 21. Oktober nach dem Zimmer Nummer sechs verlangt, Isabelle, die den Hasen das Fell abzieht, Cervicek, Marianne, Herr Adam und all die Einsamen, die sich mit ihren leuchtenden Multifunktionsjacken irgendwann in die Landschaft eingefügt haben. Sie stehen dort im Winter, wenn die Bären ruhen, im Frühling, wenn der Winter überblättert wird, im Sommer mit nur wenig Kleidung und im Herbst, wenn die Sonne tief steht, gleich Figuren eines Wimmelbilds: vereinzelt, scheinbar unverbunden, wie Sonnen ihrer eigenen Welt – und doch vereint im großen Ganzen. Mit meisterhaft gesetzten Strichen zeichnet Anna Weidenholzer eine illustre Gesellschaft, der die Gewissheiten des Alltags allmählich zu entgleiten drohen und die sich einzurichten beginnt in den kleinen absurden Momenten voller Witz und Poesie.
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Wo du die Zwiebeln finden wirst
Das sind Zähne, mit denen ich leben kann, sagte Rosa an dem Tag, als der Flachländer zu uns kam. Es regnete, es stürmte, die Blätter der Palme im Garten bewegten sich, als würde der Herbst nun endgültig zum Abschied winken. Am Brenner soll es schneien, sagte Rosa und fuhr mit der Zunge über ihr neues Gebiss. Tut es weh?, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. Du bist jung, sagte sie und drückte mit dem Zeigefinger gegen ihren Schneidezahn, du musst erst lernen, dass eine Frau ganz anderes aushalten muss. Als Harald und ich beschlossen, die Pension zu übernehmen, erwähnte er nicht, dass sie mit Rosa kommen würde. Er sagte: Es ist gut, neben dem Obstbau ein zweites Standbein zu haben, es ist besser, sich nicht nur auf Äpfel zu verlassen. Rosa hatte die Pension ein halbes Jahrhundert lang geführt, und sie sah auch danach, mit Anfang neunzig, keinen Grund, nicht jeden Tag im Frühstücksraum zu sitzen. Am Vormittag trank sie ein Glas Grappa, zur Belebung der Geister, wie sie meinte, am späteren Nachmittag ein Glas Rotwein, das sei gut fürs Herz. Schau, sagte sie jedes Mal, wenn Harald die Stirn runzelte, bis jetzt hat es gewirkt. Kamen Urlauber an, war Rosa noch vor mir bei der Tür, um sie zu begrüßen. So auch an jenem regnerischen Herbsttag, als der Flachländer zum ersten Mal auftauchte. Flachländer waren Rosas Ansicht nach alle, die in Gegenden mit Bergen niedriger als zweitausend Meter wohnten, und das traf auf die meisten Gäste zu. Warum ausgerechnet ihm dieser Name geblieben ist, ich weiß es nicht. Rosa schenkte dem Flachländer von Anfang an mehr Beachtung als allen anderen. Wie er die Schuhe abstreifte, bevor er den Frühstücksraum betrat, wie er den Stift hielt, während er das Gästeblatt ausfüllte. Als er mir den Kugelschreiber zurückgab, begann Rosa zu nicken, langsam und lange, ich wusste nicht, warum, es war eine Geste, die ich noch nie zuvor an ihr beobachtet hatte. Er sei auf Durchreise, sagte er: Ich hoffe auf einen ruhigen Schlaf, bitte geben Sie mir ein Zimmer von der Straße abgewandt. Die Straße ist auf beiden Seiten, antwortete Rosa, Sie haben die Wahl zwischen Pest oder Cholera. Es fahren wenig Autos, unterbrach ich sie rasch, auf beiden Seiten können Sie die Berge sehen, das ist der Vorteil, wenn man sich in einem Tal befindet. Vorausgesetzt, Sie mögen Berge. Manchen fällt es schwer, mit ihrem Anblick umzugehen. Cholera, bitte, sagte der Flachländer und schaute dabei Rosa an, die wieder zu nicken begann. Ich reichte ihm den Schlüssel zu Zimmer Nummer sechs. Ein unauffällig gekleideter Mann, der sich gut an die Umgebung anpasst, dachte ich, vielleicht ist ihm Rosa deshalb zugeneigt. Sportschuhe, eine beige Hose, wie sie manche bei Wanderungen tragen, andere wiederum generell im Urlaub, ein kariertes Hemd. Vielleicht weil ich mir vorstellte, der Flachländer sei ein sportlicher Mann, erzählte ich, dass wir im Frühjahr ein Schwimmbecken bauen würden. Wir haben die Pension gerade erst übernommen, bald wird alles schöner sein. Sie haben geheiratet? Wie bitte? Das Foto dort, das sind doch Sie. Am späten Nachmittag brachte der Flachländer Blumen und eine Karte. Rosa saß schon bei ihrem Glas Rotwein. Nur wer sich blamieren will, trägt einen Blumenstrauß wie eine Fahne vor sich her, flüsterte sie, als sie ihn zur Tür hereinkommen sah. Rosa, bitte. Ich stellte die Karte in die Vitrine, neben das Billett, das sie uns zur Hochzeit geschickt hatte. Herzlichen Glückwünsch zur Vermählung. Schaut, dass ihr niemandem das Herz brecht, es wäre schade drum. Ich holte eine Vase. Als ich wieder zurück in den Frühstücksraum kam, hielt Rosa den Strauß mit beiden Händen und roch an den Blumen, Rosen und Schleierkraut, der Flachländer war ein traditioneller Mann. Über die Jahre wurde die Regelmäßigkeit zu seinem auffälligsten Merkmal. Immer am 21. Oktober tauchte der Flachländer auf und verlangte nach Zimmer Nummer sechs. Angemeldet hatte er sich kein einziges Mal, es wäre auch nicht nötig gewesen. Er kam, streifte seine Schuhe ab, nahm im Frühstücksraum Platz, um das Gästeblatt auszufüllen, danach ging er stets zügig die Stiege hinauf in sein Zimmer, in dem er selbst die kleinste Veränderung bemerkte. Der Tisch war verschoben, die Gästemappe lag auf dem linken Nachtkästchen statt auf dem rechten, der Sessel war zum Fenster statt zum Fernseher hin ausgerichtet, was auch immer. Sobald er sein Zimmer betreten hatte, ordnete er alles wieder so, wie er es bei seinem ersten Aufenthalt vorgefunden hatte. Doch als Harald begann, die Zimmer neu zu dekorieren, kleine, aus Holz geschnitzte Äpfel aufzustellen, die alten Bilder, die noch aus Rosas Zeiten stammten, durch neue von Apfelhainen zu ersetzen, dachte ich nicht daran, was das für den Flachländer bedeuten könnte. Schön, sagte ich, und Harald lächelte. Wenig später, am 21. Oktober, stellte der Flachländer sofort wieder alles auf den Gang und verlangte nach Rosas Bild. Umso mehr wunderte es uns daher, dass er den Kater akzeptierte, obwohl der erst vier Jahre nach dem Flachländer eingezogen war. Ein roter Kater, dem die Hälfte des Schwanzes fehlte und der zum dicksten Kater des Tals werden sollte. Beim Frühstück gab es niemanden, der ihn nicht fütterte. Harald war sich sicher, die Gäste taten das nicht aus Zuneigung, sondern aus Angst, denn das Tier wusste, wie es seinen Willen durchsetzte. Es schrie in einer Lautstärke, die durch Mark und Bein ging, was es unmöglich machte, ihm den Zutritt zum Frühstücksraum zu verwehren. Also überließen wir die Gäste dem Kater und kalkulierten beim Buffet mehr Wurst und Käse ein. Die Menschen interessierten ihn nicht, nur ihr Futter. Einzig dem Flachländer war er zugeneigt. Sobald dieser sein Zimmer bezogen hatte, lief der Kater hinauf und verlangte Einlass. Beim Frühstück wiederum lag er auf dessen Schoß und gönnte dem Flachländer einen Großteil der Wurst. Wenn ich die beiden so sitzen sah, während ich dem Flachländer wie jedes Jahr zwei Eier auf den Tisch stellte, nicht zu hart und nicht zu weich, bitte, und der Kater seinen Kopf hob und schnupperte – ein langes Nicken, ähnlich Rosas Nicken damals, als der Flachländer zum ersten Mal den Frühstücksraum betreten hatte –, da überlegte ich manchmal, was wir machen sollten, würde der Kater verschwinden. Den Schwanz einer anderen roten Katze abhacken, hätte Rosa gesagt, du überschätzt die Erinnerung unserer Urlaubsgäste. Meiner Urlaubsgäste, und du hast ihn nicht gekannt, hast ihn nie miauen gehört, so einen Schrei vergisst man nicht, die ganze Nachbarschaft merkt, wenn unser Kater unzufrieden ist. Dein Mann würde das bestimmt gut können, er schneidet Obstbäume mit einer Präzision, die ihresgleichen sucht. Harald würde das nicht tun, da war ich mir sicher, selbst wenn er auf Rosas Seite wäre, würde er sagen, der Aufwand sei viel zu groß. Und tatsächlich kam der Tag, an dem sich zeigte, wie wenig er vom Flachländer hielt. Von den meisten Tagen kann ich mit großer Sicherheit behaupten, ich hätte ihren Ausgang geahnt. Es ist wie im Supermarkt. Du gehst hinein und weißt genau, wo du die Zwiebeln finden wirst, weil du seit Jahren dort einkaufst. Und dann haben sie plötzlich umgestellt, und vor dir liegen Knoblauchknollen statt Zwiebeln. Ich könnte sagen, so verhielt es sich an jenem Tag, der als der verlässlichste des Jahres galt. Ein paar Wochen zuvor war Harald mit einem Dackel nach Hause gekommen, er hatte schon länger von Hunden gesprochen, davon, dass es gut wäre, einen zum Jagen zu haben, nicht allein im Wald zu sein. Am 21. Oktober hatte ich im Zimmer Nummer sechs den Originalzustand wiederhergestellt, alles war für den Flachländer vorbereitet. Nur an das Eichhörnchen hatte ich nicht gedacht. Die Wand mit den Trophäen befindet sich im Eingangsbereich, wir gehen so oft daran vorbei, dass wir sie nicht mehr wahrnehmen. In der Mitte der Wand der Wildschweinkopf, darüber die Geweihe, darunter die Stockente, der Marder und bodennah, den Blick zu den anderen Tieren, das Eichhörnchen. Zumindest, bis der Dackel eingezogen war und Harald das Eichhörnchen anderthalb Meter weiter oben zwischen Stockente und Marder angebracht hatte. Es sei zu gefährlich, gerade wenn der Hund das Jagen lernen sollte, ein präpariertes Eichhörnchen bekomme ihm bestimmt nicht gut. Der Flachländer dürfte die Änderung sofort bemerkt haben, er dürfte das Eichhörnchen abgenommen und nahe seinem früheren Platz am Boden abgestellt haben. Wahrscheinlich wäre er ein paar Stunden später mit Werkzeug aus dem Ort gekommen und hätte es wieder an der Wand montiert. Aber keine Minute, nachdem er seine Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, war Harald in den Garten gegangen und hatte den Dackel dabei ertappt, wie er versuchte, das Eichhörnchen zu vergraben. Um genauer zu verstehen, was daraufhin passierte, muss man wissen, dass Harald eigentlich ein ruhiger, friedliebender Mann ist, der sich lieber um Äpfel als um Worte kümmert. Du wirst sehen, irgendwann bricht alles aus ihm heraus, gleich einem Vulkan, der nach Jahrzehnten zum ersten Mal wieder Feuer spuckt, hatte Rosa einmal gesagt. An diesem Tag wird es von Vorteil sein, Abstand zu wahren, danach wirst du für längere Zeit wieder Ruhe haben, möglicherweise sogar ein Leben lang. Harald war also hinauf zu Zimmer Nummer sechs gegangen, und vielleicht, dachte ich, würde dieser...


Weidenholzer, Anna
Anna Weidenholzer, geboren 1984 in Linz, lebt in Wien. Mit ihrem ersten Buch, Der Platz des Hundes (2010), war sie 2011 für das Europäische Festival des Debütromans in Kiel nominiert. Ihr zweiter Roman Der Winter tut den Fischen gut war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. 2013 wurde sie mit dem Reinhard-Priessnitz-Preis ausgezeichnet. Ihr Roman Weshalb die Herren Seesterne tragen wurde 2016 für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2017 erhielt sie den Outstanding Artist Award für Literatur der Republik Österreich.

Anna Weidenholzer, geboren 1984 in Linz, lebt in Wien. Mit ihrem ersten Buch, Der Platz des Hundes (2010), war sie 2011 für das Europäische Festival des Debütromans in Kiel nominiert. Ihr zweiter Roman Der Winter tut den Fischen gut war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. 2013 wurde sie mit dem Reinhard-Priessnitz-Preis ausgezeichnet. Ihr Roman Weshalb die Herren Seesterne tragen wurde 2016 für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2017 erhielt sie den Outstanding Artist Award für Literatur der Republik Österreich.



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