E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Weidenholzer Weshalb die Herren Seesterne tragen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95757-360-5
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-95757-360-5
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Longlist des Deutschen Buchpreis 2016
Karl, ein pensionierter Lehrer, macht sich eines Tages auf, herauszufinden, was das Glück sei. Einen nur leicht veränderten Fragebogen im Gepäck, mithilfe dessen seit 1979 das ?Bruttonationalglück? in Bhutan ermittelt wird, lässt sich der Glücksforscher in einem schneelosen Skiort nieder, dessen Bewohner er nun in unbekanntem Auftrag nach ihrer Lebenszufriedenheit befragen will. Das Hotel Post, in dem Karl als einziger Gast unterkommt, wird bewirtschaftet von einer namenlosen Frau und ihrer Hündin Annemarie. Von hier aus beginnt er seine Forschungen, unterbrochen von konfliktgeladenen Telefongesprächen mit seiner Frau Margit. Bald erhält seine Reise Züge einer Flucht, und der Fragende wird unmerklich zum Objekt der Befragung anderer.
Anna Weidenholzer, geboren 1984 in Linz, lebt in Wien. Mit ihrem ersten Buch, Der Platz des Hundes (2010), war sie 2011 für das Europäische Festival des Debutromans in Kiel nominiert. Ihr zweiter Roman Der Winter tut den Fischen gut war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. 2013 wurde sie mit dem Reinhard-Priessnitz-Preis ausgezeichnet.
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Vierhundertneunundsechzig Kilometer
Und alle Fenster finster und hier draußen ich. Bei Hirsch brennt kein Licht, die Wirtin ist ohnehin nicht zu Hause. Karl sieht hoch zu seinem Zimmer, das Fenster ist gekippt, man bemerkt es kaum. Auf Wiedersehen, flüstert er, und die Lichter des Autos blinken, als er auf den Schlüssel drückt. Auf Wiedersehen, Hotel Post, es war sehr schön mit dir. Bis zur Autobahn wird es eine Stunde sein, Karl fährt vorbei am Altstoffsammelzentrum, am Gasthaus Rust, dem Supermarkt, an der Tankstelle, die keine mehr ist und die jetzt Imbiss heißt, er sieht sie sitzen, sie bemerken ihn nicht. Er beschleunigt und lässt das Ortsgebiet hinter sich. Achtzig Stundenkilometer sind genug, Karl bremst ab, es ist Wildwechselzeit. An der ersten Raststation, bei den Lastkraftfahrern werde ich schlafen, im Autobahnhotel, sie haben bestimmt ein Zimmer frei. Ich werde morgen zeitig aufbrechen, ich werde Blumen kaufen. Eine Orchidee, Margit kann nicht gut mit Zimmerpflanzen. Und niemals Schnittblumen, auch wenn sie sich freuen würde, aber ich weiß, was nach ein paar Tagen kommt: Karl, würde sie sagen, es riecht wie in einer Aufbahrungshalle, schaff die Blumen weg. Ich wechsle das Wasser, würde ich sagen, es ist nur das Wasser, die Blumen können nichts dafür, siehst du, sie welken noch nicht, nicht eine einzige Blüte, die hängt. Ich würde das Wasser ins Waschbecken leeren und durch frisches ersetzen, lauwarmes, bei kaltem erschrecken sie. Vielleicht wären sie ein wenig müder als am ersten Tag, aber manche würden gerade erst jetzt ihre Knospen öffnen, worauf ich Margit allerdings nicht hinweisen würde. Am besten, man vermeidet es, in solch einer Situation über die Blumen zu sprechen, es würde die Aufmerksamkeit nur in die falsche Richtung lenken. Andererseits, mit Schnittblumen im Haus käme es so oder so zu einem Konflikt. Friedhofsgeruch, würde sie jedes Mal sagen, wenn sie an dem Strauß vorbeigeht, wie hältst du das nur aus? Ich rieche nichts. Es ist unmöglich, diesen Geruch nicht wahrzunehmen, Karl, ich mache mir Sorgen, deine Nebenhöhlen, ständig sind sie entzündet, und jetzt riechst du auch die Blumen nicht. Trotz Sperrlinie überholen. Karl schüttelt den Kopf und betätigt die Lichthupe, er fährt noch eine Weile mit Fernlicht, dann blendet er ab. Ich möchte ihr eine Freude bereiten, ich möchte meine Margit glücklich machen. Ich werde ihr eine Orchidee mitbringen, ohne Übertopf, wir haben noch genug im Keller, von den Vorgängerpflanzen, die ihre Pflege nicht überlebten. Zu viel Wasser ist nicht gut, ich sage es immer wieder, wieder und wieder. Sie meint es gut mit ihnen. Eine Orchidee ist anspruchslos, am Sonntag für ein paar Minuten ein Wasserbad, nicht zu kalt, nicht zu warm. Was früher der Kaktus war, ist heute die Orchidee. Karl, verlier dich nicht, würde Margit jetzt sagen. Ich werde sie in die Arme nehmen, ich werde flüstern: Margit, mein Mädchen, ich bin zurück. Schön, wird sie sagen, vielleicht auch: Ich habe mich auf dich gefreut. Ich werde nach Hause kommen, mit einer Orchidee unter dem Arm, einer weißen, eingeschlagen in buntes Papier von Blumen Haberkuk. Wie sagte Margit? Fürchte dich nicht, wie du an eine Sache herangehst, so tritt sie ein. Was Margit sagte: An Regentagen mag ich das Spazierengehen nicht und dir klebt Blaukraut am Bart. Sie sagte: Karl, du bist verschwunden, ohne Bescheid zu geben. Ich rufe doch an. Du bist einfach weg gewesen. Ich werde bald wieder bei dir sein, wie bitte, Margit, der Empfang ist schlecht, es muss an den Bergen liegen, sie halten die Strahlen ab. Karl stand in seinem Zimmer vor dem Heizkörper, er legte die Hände darauf und klemmte das Telefon zwischen Schulter und Kopf. Draußen ging eine Frau vorbei, sie winkte, als ein Auto vorüberfuhr. Karl zog die Hände zurück und wischte über die Fensterbank. Ja, das mache, ja, das werde ich, ich weiß, dass du dir in solch einer Situation Sorgen machst. Margit war nicht mehr zu hören, er ließ das Telefon noch eine Weile eingeklemmt. Eine Sperrlinie ist eine Sperrlinie, flucht Karl und bremst ab, als ihn ein weiteres Auto überholt. Rechts von ihm fließt ein Fluss die Straße entlang. Ich werde sicher nach Hause kommen, bald wird die Autobahn ausgeschildert sein, bald werde ich auf der Raststation, morgen wird mein Aufbruch eine Ankunft sein. Hör, wie der Regen fällt. Margit, werde ich sagen, weißt du, wir sind dieses Jahr noch kein einziges Mal über Schnee gegangen, und ich dachte bei meiner Abreise schon, dass der Winter kommt. Kennwort O1 Regen und Sturm, es wird ein früher Winter werden. Karl lässt den Zettel auf dem Wohnzimmertisch liegen, den Satz hat er mit schwarzem Filzstift umrandet, er geht hinüber in die Küche und trinkt ein Glas Wasser. So, flüstert er, und deshalb. Er sieht aus dem Fenster, in der Garageneinfahrt des Nachbarhauses steht ein ausgehöhlter Kürbis auf der Mülltonne. Karl, das kannst du nicht schon wieder machen, weißt du noch, als das Hochwasser war, als du aufgebrochen bist, um zu helfen. Du warst schnell wieder zurück. Karl schüttelt den Kopf. Ich werde Margit einen Brief hinterlassen, ich werde ihr sagen, dass es keinen Aufschub geben soll. Meine liebe Margit, schreibt er und zerknüllt den Zettel, weil er ihren Namen nicht so geschrieben hat, wie er aussehen sollte. Nein, kein Brief. Ich werde sie anrufen, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommt. Ich werde sagen: Wer eine gesellschaftliche Situation verstehen will, muss die Erfahrungen der Menschen zum Sprechen bringen. Margit, mein Mädchen, es war so weit, ich musste weg von hier. Test, spricht Karl, das Diktiergerät leuchtet rot: Eins, zwei, eins. Auf seinem Schoß liegt der Autoatlas, er lässt den Finger auf dem Register, das er aufgeschlagen hat, und überlegt, ob er von dem Ort schon jemals etwas gehört hat. Draußen kommt Zobl zur Garageneinfahrt, sie starrt abwechselnd auf ein Blumenbeet und den Kürbis und hält eine Zigarette in der Hand. Karl drückt die Wiedergabetaste. Test, eins, zwei, eins, hört er sich sagen. Danach legt er seinen Finger auf die Aufnahmetaste: Aufbruch heute, zwanzigster Oktober, elf Uhr zehn. Der Ort wurde durch Zufallsprinzip ermittelt, Kennwort. Kennwort, wiederholt Karl und unterbricht. Er hat zuvor über die Verschlüsselung von Namen nachgedacht, wie wichtig es sei, vollkommen unvoreingenommen an einem unbekannten Ort zu beginnen. Zobl drückt die Zigarette auf dem Boden aus und hebt sie auf, um sie in die Mülltonne zu werfen, sie nimmt den Kürbis dazu herunter. Eine ordentliche Frau, denkt Karl. Kennwort O1, sagt er und hält das Gerät dicht vor sein Gesicht. Margit wird sich wundern, Margit wird nicht gedacht haben, dass ich so sorgfältig vorgehe. Karl Hellmann, das hätte ich dir nicht zugetraut. Ich werde sie später anrufen, ich werde sagen: Alles drehte, alles bewegte sich, ich war sehr aufgeregt. Wenn ich wir sage Hätten Sie ein Zimmer frei?, fragt Karl im Hotel Post, die Gaststube ist leer. Die Gäste werden wohl erst abends kommen, überlegt er und streichelt den Hund, der hinter der Bar hervorgekommen ist. Ein unfassbar dicker Hund, denkt er, er sagt: Schön ist der. Die, antwortet die Wirtin, das ist unsere Annemarie. Warum Annemarie? Eine Gästin hat sie hiergelassen, sie hieß Annemarie, also haben wir den Hund nach ihr benannt. Wie man einen Hund vergessen kann, möchte Karl fragen, aber die Wirtin ist schneller: Wie lange bleiben Sie? Ich weiß es nicht, zwei Wochen bestimmt, vielleicht auch drei. Zwei Wochen?, die Wirtin sieht ihn lange an. Zu lange, denkt Karl, das ist ein unangemessener Blick. Wie kann man, beginnt er, aber die Wirtin kommt ihm wieder zuvor: Wenn Sie möchten, Sie können gern so lange bleiben, vielleicht wird es besser als voriges Jahr, vielleicht schneit es bald. Dass er das nicht hoffe, sagt Karl, und die Wirtin runzelt die Stirn. Möchten Sie das Zimmer sehen, es ist gleich im ersten Stock. Das ist eine schnelle Frau, denkt Karl und nickt. Solche Fliesen hatten wir in unserer alten Wohnung auch, sagt er, als er hinter der Wirtin in den Vorraum tritt: Wenn ich wir sage, meine ich meine Frau Margit und mich. Die Wirtin schaut auf den Boden, sie fragt nicht, wo Margit ist: Die Fliesen hat mein Vater verlegt, sie halten länger als ein Leben, das ist ein Boden für die Ewigkeit. Karl möchte auf eine besonders schön gemusterte Fliese hinweisen, aber da hat die Wirtin bereits nach der Türklinke gegriffen. Zimmer Nummer drei, das wäre Ihres. Dass kein Zimmer im Hotel Post bewohnt war, dass die Wirtin wegen ihm einheizen musste und ihm in der Hoffnung, er möge es sich anders überlegen, das schlechteste Zimmer zeigte, davon weiß Karl zu diesem Zeitpunkt nichts. Ein Bett, ein Schrank, ein Bad, alles da, sagt er, als sie im kalten Zimmer stehen und die Wirtin die Vorhänge aufzieht, um besser an die Heizung dahinter zu kommen. Karl bedankt sich und stellt die Tasche ab. Zur Reinigung, sagt die Wirtin, das erledige ich, wenn Sie dieses Schild an die Tür hängen, mit der Aufschrift nach vorn, so. Sie brauchen nicht zu putzen, antwortet Karl, ich mache das gern. Die Wirtin sieht ihn wieder ein bisschen zu lange an: Dann geben Sie Bescheid, wenn Sie den Staubsauger benötigen, einen Putzfetzen lasse ich hier, den Fernseher finden Sie im Schrank. Das ist gut zu wissen, daran hätte ich nicht gedacht. Karl folgt der Wirtin zurück in die Gaststube, wo Annemarie in der Ecke liegt und kurz den Kopf hebt. Hier ist Ihr Schlüssel, sagt die Wirtin, bringen Sie das ausgefüllte Gästeblatt zum Frühstück mit, Frühstück ist von acht bis zehn. Wenn...