Weil / Richardsen | Der Weg zur Grenze | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Weil / Richardsen Der Weg zur Grenze

Roman
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-406-79107-9
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-406-79107-9
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



«Der Weg zur Grenze», 1944/45 im Amsterdamer Versteck der verfolgten deutschen Schriftstellerin Grete Weil entstanden, ist nicht nur der erste Roman der jüdischen Autorin. Er ist bisher nie erschienen und seine Veröffentlichung jetzt eine echte Entdeckung. Im Kern erzählt der Roman, fiktionalisiert und aus dem Autobiographischen ins Exemplarische gehoben, die Liebesgeschichte von Grete Weil und ihrem 1941 im KZ Mauthausen ermordeten Mann Edgar Weil. Er ist außerdem eine Fluchtgeschichte und die Geschichte der Politisierung in einem gebildeten, bürgerlich und kulturell politikfernen Milieu und eine einzigartige Beschreibung der Veränderungen im Alltag, in den Familien und Institutionen seit der Machtergreifung der Nazis 1933.
Die Haupterzählung, zugleich Rahmengeschichte, spielt 1936 und handelt von der Flucht der jungen, jüdischen Münchnerin Monika Merton, deren Mann bereits im KZ Dachau getötet worden ist. Da inzwischen auch sie von der Gestapo gesucht wird, macht sie sich, zuletzt zu Fuß und auf Skiern, auf den Weg über die Grenze nach Österreich. Durch Zufall begleitet sie ein junger Bekannter, der Lyriker Andreas von Cornides. Ihm erzählt sie ihre Geschichte: Szenen ihres Lebens in München und im aufgewühlten, rasanten und aufgeheizten Berlin Anfang der Dreißigerjahre, von ihrer Liebe zu ihrem Cousin Klaus, der Ehe, von Reisen und Krisen und der Arbeit an einer alternativen, ländlichen Schule in Bayern, bis die Machtergreifung der Nazis und der wachsende Antisemitismus allem ein Ende bereiten. Ein bedeutendes, zum ersten Mal zugänglich gemachtes Werk der deutschen Literatur, eindrücklich und bewegend, klug und hellsichtig.

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MONIKA.
I.
«In der Heimat, in der Heimat, da gibts ein Wiedersehn», sangen die Burschen und Mädchen zur Begleitung von zwei Mundharmonikas und einer Laute. Es war in einem Skizug, der im späten Februar des Jahres 1936 von München aus ins bayerische Oberland fuhr. Die Instrumente hatten sich zufällig zusammengefunden; ein großer, sommersprossiger Junge in SA-Uniform gab die Texte an, und fast alle stimmten mit ein und sangen sich die Müdigkeit der verkürzten oder durchtanzten Faschingsnacht vom Leibe. Schmetternd und fröhlich verkündeten die jungen Sänger, dass sie Frankreich siegreich schlagen wollten, dass das Morgenrot zum frühen Tode leuchte und dass ihnen heute Deutschland, morgen jedoch die ganze Welt gehöre. Schweigend, völlig unbeteiligt am Treiben der anderen saßen sich Monika Merton und Andreas von Cornides gegenüber. Sie hatten sich zu diesem Sonntagsausflug nicht verabredet; erst auf dem Bahnsteig, als Andreas am Zuge entlang irrend, langsam einsah, dass er die Freunde, von denen er zu der kleinen Bergtour aufgefordert war, nicht finden würde – wahrscheinlich hatte er Zeit und Ort verwirrt, er konnte so etwas nie behalten –, traf er auf Monika, die auch jemanden zu suchen schien, denn sie blickte nervös und hastiger, als es sonst ihre Art war, den Menschen ins Gesicht. Er kannte sie nur ganz flüchtig, zwei oder dreimal war er ihr im Hause von Baron Freiberg, einem melancholischen und etwas närrischen Mäcen, begegnet, und wenn er sie jetzt erfreut anrief, dann geschah es, weil er sich verlassen vorkam und die sportliche Unternehmung, zu der ihn nichts drängte als unbestimmte Neugier, schon längst verwünschte. Warum nur war er auf die unglückselige Idee verfallen, sich in der Morgendämmerung eines kalten Wintertages hier auf dem Bahnhof herumzutreiben, anstatt, ausgeschlafen nach Bad und Frühstück, die stillen Stunden des Vormittags zur Arbeit zu nutzen? Monika zuckte zusammen, als sie ihren Namen hörte, und wollte mit schnellem Gruß vorübergehen; aber Andreas ließ nicht locker, mit ungewöhnlicher Hartnäckigkeit, die wenig zu seiner knabenhaften Scheu passte, fragte er, neben ihr herlaufend, ob sie gleich ihm allein sei und ob sie sich nicht zusammentun wollten. Sie sah ihn, nach kurzem Zögern, mit einem merkwürdig spottenden Blick aus grauen, zusammengekniffenen Augen an, murmelte, als spräche sie eine Zauberformel «Andreas von Cornides» vor sich hin, nickte ein paarmal wie zur Bestätigung mit dem Kopf und sagte endlich, dass sie ein Stück des Weges gemeinsam machen könnten, wobei es freilich ganz unklar blieb, ob sie seine Gesellschaft auch noch nach der Bahnfahrt wünschte. Vorerst saßen sie sich jedenfalls gegenüber, wenn Andreas auch mit leichtem Ärger feststellen musste, dass von Geselligkeit nicht viel die Rede war. Starr, wie unter einer Maske des Schmerzes, blickte die Frau zum Fenster hinaus, und nur wenn sie ihn in seltenen Momenten ansah, ging ein Lächeln über ihr schmales Gesicht, so als wollte sie ihn für ihre Schweigsamkeit um Verzeihung bitten. Andreas schälte mit langen, spinnendünnen Fingern eine Orange und schob Monika die sorgfältig zerlegte Frucht hin. Zerstreut nahm sie zwei Scheiben und steckte sie gierig in den Mund. Was ist mit ihr los, überlegte der Junge, warum schweigt sie mich an, als könnte sie nicht bis drei zählen? Dabei hat sie ein verteufelt gescheites Gesicht, nur schrecklich hochmütig, aber das wird wohl Schüchternheit sein. Eigentlich sieht sie aus wie eine ägyptische Königin. Ob ich ihr das sagen soll? Vielleicht freut sie sich darüber und ist nicht mehr so traurig. Sie muss ein gutes Stück älter sein als ich, so um die dreißig herum. Sieben Jahre, das ist nicht einmal viel, aber möglicherweise sind es auch mehr, sie ist ja schon grau an den Schläfen. Die Schatten unter den Augen können nicht vom Alter kommen, eher von schlechtem Schlaf. Und sie hat nichts getan, um das zu verwischen, ist kein bisschen zurechtgemacht und sieht überhaupt etwas vernachlässigt aus, die Nägel könnten gepflegter sein, man läuft doch nicht am Sonntagmorgen mit schwarzen Rändern herum. Noch dazu, wenn man einen so auffallenden Ring trägt, ein antikes Siegel, wenn mich nicht alles täuscht; das eingeritzte Bild ist in dem dunkelroten Stein schlecht zu erkennen, scheint aber eine geflügelte Göttin oder so etwas Ähnliches zu sein. Übrigens sind Zeige- und Mittelfinger braun von Nikotin. Das ist hässlich, sie sollte Geschmack genug haben, um das selbst zu wissen. Trotzdem gefällt sie mir gut, sehr gut sogar, und ihre Augen zum Beispiel sind außerordentlich schön. So weit war Andreas in seiner Betrachtung gekommen, als Monika ihm eine Zigarette anbot und dabei ohne allzuviel Interesse fragte: «Erscheint bald Neues von Ihnen?» Er schüttelte den Kopf. «Manches entsteht. Aber es ist eine schlechte Zeit. Meine Doktorarbeit muss fertig werden. Das frisst mich auf.» Voll Angst, das Gespräch könne wieder abreißen, überwand er seine Schüchternheit. «Haben Sie meine Gedichte gelesen?» «Ja.» Nichts weiter. Keine Ablehnung und keine Zustimmung. Man hatte Andreas verwöhnt, umschmeichelt, ihn zum Hätschelkind eines sehr kultivierten Kreises gemacht, es gab enthusiastische Jünger, die seine Begabung in die Höhe Rilkes, Georges und Hofmannsthals hoben, nach dem ersten schmalen Band Gedichte, der von ihm erschienen war. Seitdem er in München lebte, schlürfte der in der kompromisslosen, harten Atmosphäre einer preußischen Offiziersfamilie Aufgewachsene wie ein Betrunkener die größere Freiheit, das Zärtlichsein des südlichen Menschen. Kühle Gleichgültigkeit konnte er nicht mehr ertragen. Er wünschte sich ungeduldig und verlangend die Bestätigung durch diese Frau. Es war doch nicht möglich, so auszusehen und weiter nichts zu sagen zu haben als dies dumme Ja, wie ein Kind in der Schule, ein Rekrut auf dem Exerzierplatz. Gut, sie kannte seine Gedichte – nahm man diese denn hin wie eine Selbstverständlichkeit und nicht wie eine Gabe, die ihn ja genug Tränen und Qualen und Stürme der Freude gekostet hatte? Oder besaß sie kein Empfangsorgan für Gedichte, war sie unlyrisch, wie manche Menschen unmusikalisch sind, oder unbegabt dafür, Farbe und Form zu sehen? Mit zusammengezogenen Brauen grübelte er diesem Problem nach. Sonderbar, dass Menschen bestehen konnten, denen sich Worte niemals zum Rhythmus fügten, und sonderbarer noch, dass sie den Rhythmus der anderen nicht begriffen. Er wäre erstaunt, gerührt und erschüttert gewesen, hätte er gewusst, dass Monika sich zu dem stoßenden Takt der Räder seine Verse sprach. Sie tat das nicht allein darum, weil sie seine Gedichte liebte und durch manches seiner Worte, die Leben und Tod als das große Ganze gemeinsam verherrlichten, im letzten Jahr Tröstung gefunden hatte; sie wollte nicht denken, sich nicht ins Bewusstsein kommen lassen, dass diese Fahrt wieder ein Abschied war, ein endgültiger, bei dem sie alles, was sie noch liebte, auf immer von sich warf. Auch fühlte sie, von dem Augenblick, in dem sie, Andreas’ Namen murmelnd, beschlossen hatte, seine Begleitung zuzulassen, einen wilden Triumph darüber, dass ihr dies Land Deutschland, Fluch und Gnade, noch einmal, zum letztenmal, einen seiner Besten als Kameraden gab, und während ihr Blick müde über die weiten beschneiten Wiesen ging, hier und da einen Baum, ein Haus grüßend, vertraut und gekannt, während die Sonne an einem dunkelblauen, föhnverheißenden Himmel aufging und der Schnee von den Tannen taute, beschloss Monika, dass, bevor sie sich trennten, Andreas ihre Geschichte erfahren sollte, denn auf Wissen kam es an, jetzt mehr als jemals zuvor. Sie hatte ihn nicht gesucht, aber es war gut so, dass sie diesen letzten Weg in die Einsamkeit nicht ganz allein zu gehen brauchte. Vielleicht – es war nicht mehr als der Schimmer einer Hoffnung – würde Andreas es verstehen und weitertragen. Er war noch fast ein Kind, aber schon zeichnete sich in seinem hageren Gesicht mit der weißen, dünnen Haut, durch welche die Adern schimmerten, das Vergehen an. Um den geschlängelten Mund, unter den dunklen, tiefliegenden Augen zogen sich reichverzweigt Falten und Fältchen; jung und versöhnend wölbte sich darüber der goldne Helm des feingesponnenen Haares. Ich werde dich aus deiner Ruhe reißen, dachte Monika, dass dir Hören und Sehen vergeht. Du bildest dir ein, die Welt zu kennen, weil du sie mit deinen Künstlernerven fühlst, aber, mein Lieber, das reicht nicht aus, das ist zu wenig, das ist ein tödlicher Luxus, dem auch ich früher ergeben war. Hast du vielleicht einmal über das unentrinnbare Schicksal...


Grete Weil, 1906-1999, machte nach ihrem Studium der Germanistik in München eine Lehre als Fotografin. 1935 folgte sie ihrem Mann Edgar Weil ins Exil nach Amsterdam, wo sie ein Fotostudio übernahm, nach der Besetzung der Niederlande durch die Deutschen einerseits für den Judenrat arbeitete, andererseits die antifaschistische "Hollandgruppe Freies Deutschland" mit aufbaute. Nach dem Ende der NS-Herrschaft lebte sie in der Bundesrepublik und widmete ihr literarisches Werk vor allem der Erinnerung an die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden und ihrer Vorgeschichte. Sie veröffentlichte u.a. "Tramhalte Beethovenstraat" (1963/2021), "Meine Schwester Antigone" (1980), "Ans Ende der Welt" (1989/2022) und "Leb denn ich, wenn andere leben" (1998). Sie wurde u.a. mit dem Tukan-Preis der Stadt München, dem Geschwister-Scholl-Preis, der Carl-Zuckmayer-Medaille und dem Bayerischen Verdienstordnen ausgezeichnet. Ihr veröffentlichtes Werk wird derzeit im Verlag "Das Kulturelle Gedächtnis" neu aufgelegt.

Ingvild Richardsen ist Literaturwissenschaftlerin und forscht über die Frauenbewegungen und vergessenen Autorinnen des 19. und 20. Jahrhunderts, jüdisches Erbe und NS-Zeit. Sie lehrt und forscht an der Universität Augsburg und veröffentlichte zuletzt den Band "Leidenschaftliche Herzen, feurige Seelen. Wie Frauen die Welt veränderten" (2019).



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