Weintraub / Jaros | Die Versöhnung mit dem Bösen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 292 Seiten

Weintraub / Jaros Die Versöhnung mit dem Bösen

Geschichte eines Weiterlebens
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8353-4964-3
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Geschichte eines Weiterlebens

E-Book, Deutsch, 292 Seiten

ISBN: 978-3-8353-4964-3
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Leben in Lódz - ein Leben nach Lódz: Leon Weintraub erzählt von Schicksal, Leid und Versöhnung. Leon Weintraub (geb. 1926) wurde ab 1940 von den Nazis gezwungen, mit seiner Familie im Getto Litzmannstadt zu leben und Zwangsarbeit zu leisten. Die dabei erlernten Fertigkeiten bewahrten ihn vermutlich vor dem Tod: Bei der Auflösung des Gettos 1944 wurden die Inhaftierten in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert und dort umgebracht. Weintraub jedoch gelang es, sich als Arbeitshäftling auszugeben und so der Ermordung zu entgehen. In den Wirren der letzten Kriegsmonate überlebte er mehrere der brutalen Verlegungsaktionen der Nazis, bis ihm schließlich auf einem der Transporte die Flucht gelang. Ein Großteil seiner Familie überlebte den Holocaust nicht. In den Gesprächen mit der Journalistin Magda Jaros erzählt Leon Weintraub von seiner Kindheit in Lódz und seinem Weiterleben nach dem Krieg: seinem Studium der Medizin in Göttingen, seiner Karriere in Polen und seiner Auswanderung nach Schweden aufgrund der antisemitischen März-Unruhen 1968. Es ist die Geschichte einer Versöhnung nach unsagbarem Leid - aber auch eine Mahnung. 'Die dramatischen Erlebnisse der Vergangenheit konnte ich in meinem Archiv der Erinnerung unterbringen. Sie sind nicht ausgelöscht, aber sie bilden auch keine dunkle Wolke über meinem Kopf, die mir die Sonne verdeckt.' Leon Weintraub

Leon Weintraub, geb. am 1. Januar 1926 im jüdischen Armenviertel in ?ódz, war Häftling im Getto Litzmannstadt sowie in den Konzentrationslagern Auschwitz-Birkenau, Groß-Rosen, Flossenbürg und Offenburg / Außenkommando des Lagers Natzweiler. Nach dem Krieg studierte er Medizin in Göttingen und wurde Facharzt der Geburtshilfe und Frauenheilkunde in einer Warschauer Klinik, 1966 Oberarzt im Kreiskrankenhaus in Otwock bei Warschau, bis er 1969 aufgrund des steigenden Antisemitismus nach Schweden emigrieren musste. Als Zeitzeuge setzt er sich seit Jahren mit Vorträgen in Schulen und Gedenkstätten für die Erinnerung an den Holocaust ein. Magda Jaros studierte Philologie an der Universität ?ódz und arbeitet als freie Journalistin, unter anderem für Twój STYL [Dein STIL], das renommierteste Lifestyle-Magazin in Polen. Ihren Fragen stellten sich u. a. der ehemalige Staatspräsident Aleksander Kwa?niewski, der Komponist Krzysztof Penderecki, der Boxer Dariusz Tiger Michalczewski sowie der Schauspieler George Clooney.
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Das Czulent-Gässchen und andere Adressen


Eine Welt, die nicht nur physisch, sondern auch mental auf einige wenige Straßen im armen jüdischen Lodz begrenzt war: die Kamienna-Straße, Wschodnia-Straße, Poludniowa-Straße und Kilinski-Straße. Ich fühlte eine unerklärliche, lähmende Angst davor, mein Viertel zu verlassen.

Lodz steht auch mir nahe. Ich kam im Stadtteil Górna auf die Welt. Bis zu meinem Studienabschluss wohnte ich in der Plattenbausiedlung Retkinia. Das Stadtzentrum und das Netz der Einbahnstraßen kenne ich ausgezeichnet. Einige Menschen vergleichen das Stadtzentrum mit Manhattan, was ich etwas übertrieben finde. Und obwohl ich in Lodz ein renommiertes Lyzeum und dann die dortige Universität besucht habe, lasteten auf meinem Wissen über das jüdische Lodz der Roman Gelobtes Land (Ziemia obiecana)[1] und der gleichnamige Film von Andrzej Wajda. Im Schulunterricht oder in den Vorlesungen sprach man manchmal über jüdische Blutsauger, wie etwa Hausbesitzer, Fabrikanten oder kapitalistische Ausbeuter. Aber man erfuhr nichts über diejenigen Menschen in Lodz, die Theater, Kinos oder Konzertsäle schufen und dadurch zugleich die prächtigsten Paläste und Gebäude der Stadt errichteten. Man wusste nichts über Krankenhäuser, Kinderheime oder Gymnasien. Nichts über das riesige Erbe, ohne das Lodz nicht die Stadt wäre, die es heute ist.

Ich habe mich oft gefragt, warum das so war. Natürlich kann man alles auf die Politik der Nachkriegszeit schieben, auf die lügenhafte Verfälschung der Geschichte. Aber das wäre zu einfach. Warum ist das jüdische Lodz den Einwohnern dieser Stadt so schwach in Erinnerung geblieben? Warum hat meine Oma – auch eine Lodzer Bürgerin, die in diese Stadt verliebt war – nie darüber gesprochen? Die Antwort fand ich im Buch von Waldemar Wolanski, Slepy Maks. Historia prawdziwa [Der blinde Max. Eine wahre Geschichte]. Der Held dieses Buches ist eine weitere facettenreiche jüdische Gestalt, von der ich lediglich eine sehr vage Vorstellung hatte. Warum redet niemand über den berüchtigten Räuber, den Al Capone von Lodz? Warum kann sich niemand an ihn erinnern? Die Antwort überraschte mich durch ihre Schlichtheit und vortreffliche Logik: »Das ist doch ganz klar: Es gibt niemanden mehr, dem er in Erinnerung gerufen werden könnte.«[2] Ich denke, dass das auf das ganze jüdische Lodz zutrifft – es gibt niemanden mehr, dem es in Erinnerung gerufen werden könnte. Vielleicht wäre es also angebracht, an dessen Anfänge zu erinnern?

Alles begann am Alten Markt. Dort kaufte Daniel Lejzerowicz – der erste jüdische Hausbesitzer – im Jahre 1794 ein Grundstück und errichtete dort ein Holzhaus. 1810 lebten am Markt bereits 14 jüdische Familien. Anfang des 19. Jahrhunderts durften sich die Juden in Lodz noch ansiedeln, wo sie wollten. Sie wählten zumeist den Alten Markt und dessen Umgebung: die Wolborska-Straße (dort entstand die berühmte, wunderschön verzierte Synagoge), die Drewnowska-Straße, den nördlichen Teil der Piotrkowska-Straße (heutige Nowomiejska-Straße) und die Podrzeczna-Straße. Die Situation änderte sich erst 1821, als die Kleinstadt Lodz durch Beschluss des Königreiches Polen ein Fabrikort wurde. In der Folgezeit entwickelte sich dort die Textilindustrie, die Lodz für immer veränderte. Dieser Industriezweig bildete sich durch die nach Lodz eingeladenen Weber aus Deutschland heraus. Diese legten mit dem Wojewoden von Masowien vertraglich fest, dass es fortan keinem Juden erlaubt war, in der neuen Siedlung – also in der Neustadt – zu wohnen oder dort Grund und Boden zu erwerben. Diese Vereinbarung wurde durch einen Erlass von Józef Zajaczek, dem russischen Statthalters des Königreichs Polens, im Jahre 1825 bekräftigt. Der Erlass legte fest, dass Juden sich nur innerhalb der Altstadt ansiedeln durften, wo man ihnen ein spezielles Viertel zuteilte. Sie durften hingegen nicht in bessere Stadtteile umziehen – es sei denn, dass sie ein von Schulden unbelastetes Vermögen in Höhe von mindestens 20.000 Zloty besaßen, darüber hinaus Polnisch, Russisch oder Französisch sprachen und sich in ihrer Bekleidung von anderen Bürgern nicht unterschieden. Eine Ansiedlung außerhalb ihres Viertels ermöglichte man den Juden auch dann, wenn sie eine Fabrik errichteten oder ihre Kinder auf eine öffentliche Schule schickten.[3]

Um das Jahr 1820 siedelte eine für diese Geschichte wichtige Gestalt, Samuel Saltzman, aus dem nahegelegenen Ort Brzeziny nach Lodz über. Saltzman kam hier rasch zu beträchtlichem Vermögen und wurde Eigentümer mehrerer Wohnhäuser, Plätze und Garnlager. Obwohl er ein reicher Mann war, durfte er sein Viertel nicht verlassen. Saltzman trug einen Vollbart sowie einen Kaftan und war ein frommer chassidischer Jude. Die Errichtung der Synagoge an der Wolborska-Straße wurde größtenteils von Saltzman finanziert. Nach über 40 Jahren gelang ihm der Auszug aus dem jüdischen Viertel. Im Jahre 1862 bat er die Stadtväter von Lodz um die Gründung einer neuen Straße, die die Srednia-Straße (heutige Pomorska-Straße) mit der Pólnocna-Straße verband. Diese Straße erhielt zunächst den Namen »Saltzman-Straße« und wurde im Laufe der Zeit in »Solna-Straße« umbenannt. In der Solna-Straße 5 gründete Saltzman eine chassidische[4] Schule.[5]

In der Solna-Straße 12 kam am 1. Januar 1926 Leon Weintraub auf die Welt. Zu seinen Erinnerungen an die früheste Kindheit gehört der Unterricht in der Chederschule,[6] wohin ihn seine Mutter, eine fromme Jüdin, sandte.

Zu Beginn der 1930er Jahre zog die Familie Weintraub in die Kamienna-Straße (heutige Wlókiennicza-Straße) um. Diese befand sich am Rande der Neustadt mit ihrem zentral gelegenen Neuen Markt, dem Wolnosci-Platz. Die Kamienna-Straße hieß auf Jiddisch Czulentgesl – Czulent-Gässchen. In einem der Wohnhäuser befand sich eine Bäckerei. Jeden Freitag vor dem Sabbat brachten Leon und seine Schwester einen Topf mit Czulent, also Grütze mit Fleisch und Gemüse, sowie einen süßen Leckerbissen dorthin. Der Bäcker stellte den Topf in den erloschenen, aber noch glühend heißen Ofen. Das waren festliche Speisen für den Samstag, da an diesem Tag traditionsgemäß nicht gekocht werden durfte.

Vor dem Krieg war diese Straße recht arm, sie besaß keine Kanalisation. Aber dort befanden sich mehrere jüdische Gotteshäuser.[7] Die Geschichte der Straße ist interessant: Im 19. Jahrhundert errichtete ein gewisser Hilary Majewski ein Wohnhaus im Czulent-Gässchen 11 und zog dort ein. Zwei Jahrzehnte lang fungierte er als Architekt der Stadt und gilt bis heute als Baumeister von Lodz. Er entwarf u. a. den Poznanski-Palast,[8] das Grand Hotel und den Heinzl-Palast.[9]

Um die Jahrhundertwende entwickelte sich Lodz zu einer Stadt atemberaubender Karrieren und spektakulärer Pleiten. Die dortigen Fabrikantenfamilien wurden immer mächtiger, und Baumwolle aus Lodz war bald in ganz Europa bekannt und begehrt – vor allem in Russland. 1915 wurde das Stadtgebiet von Lodz durch die Ortschaft Baluty erweitert, eine seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer größer werdende dörfliche Siedlung. Interessanterweise zählte Baluty zu diesem Zeitpunkt bereits 100.000 Einwohner und bildete damit das größte Dorf Europas. Die Lodzer Bürger bezeichneten den neuen Stadtteil als »Abwasser«. Nicht nur aufgrund der fehlenden Kanalisation, sondern auch wegen des dort lebenden lichtscheuen Gesindels.

In der Zwischenkriegszeit war das jüdische Lodz eine arme und hungrige Stadt. Dort lebten vorwiegend Händler, Ladenbesitzer und Handwerker, die in den hinteren Hofgebäuden der Wohnhäuser wohnten. Sie versuchten gottesfürchtig und fromm zu leben, ihre Kinder ordentlich zu erziehen und einfach durchzuhalten. Lodz war auch eine Stadt der Intelligenz: Ärzte, Juristen und Lehrer bildeten die lokale Elite. Sie besuchten die jüdischen Theater und Kinos und sandten ihre Kinder auf renommierte Schulen. Die Stadt entwickelte sich auch auf künstlerischem Gebiet weiter. Es entstand zum Beispiel das Avantgarde-Theater »Ararat«. Und die aus Lodz stammenden jüdischen Künstler Julian Tuwim, Artur Rubinstein und Artur Szyk erzielten größte Erfolge.[10]

Im September 1939 lebten in Lodz bereits über 600.000 Menschen, ein Drittel davon waren Juden. Aber obwohl nach dem Krieg zahlreiche Wohngebäude derart unverändert weiterexistierten, dass Andrzej Wajda an der ehemaligen Kamienna-Straße die Szenen für seinen letzten Film Nachbilder [Powidoki, 2016] drehen konnte, gibt es die Stadt, über die Weintraub so liebevoll erzählt, heute nicht mehr.

*

Herr Leon …

Sagen wir »du« zueinander. In Schweden sprechen sich alle so an. Sogar mit dem König ist man per »du«.

Leon, welche Erinnerungen hast du an deine frühe Kindheit?

Das sind für mich frühe Bilder aus meiner Vergangenheit. Darin sehe ich meine Wohnung an der Solna-Straße 12: das Eingangstor, rechts ein paar Treppen, man kommt in eine kleine Diele, wo ein flauschiger Vorhang hängt. Dann kommt man ins Zimmer. Dort stehen ein Tisch und eine grüne, korallenverzierte Schirmlampe. Ich erinnere mich an die Stimme von Mama, die ein Gedicht [auf Russisch] aufsagt: »Odin, dwa, tri, czetyrie, piat’, wyszel malczik pagulat’…« [dt. »Eins, zwei, drei, vier, fünf – ein kleiner Junge ging spazieren«]. Lodz stand unter...


Obermeier, Jan
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Weintraub, Leon
Leon Weintraub, geb. am 1. Januar 1926 im ju¨dischen Armenviertel in Lódz, war Häftling im Getto Litzmannstadt sowie in den Konzentrationslagern Auschwitz-Birkenau, Groß-Rosen, Flossenbu¨rg und Offenburg / Außenkommando des Lagers Natzweiler. Nach dem Krieg studierte er Medizin in Göttingen und wurde Facharzt der Geburtshilfe und Frauenheilkunde in einer Warschauer Klinik, 1966 Oberarzt im Kreiskrankenhaus in Otwock bei Warschau, bis er 1969 aufgrund des steigenden Antisemitismus nach Schweden emigrieren musste. Als Zeitzeuge setzt er sich seit Jahren mit Vorträgen in Schulen und Gedenkstätten für die Erinnerung an den Holocaust ein.

Jaros, Magda
Magda Jaros studierte Philologie an der Universität Lódz und arbeitet als freie
Journalistin, unter anderem fu¨r Twój STYL [Dein STIL], das renommierteste Lifestyle-Magazin in Polen. Ihren Fragen stellten sich u. a. der ehemalige Staatspräsident Aleksander Kwasniewski, der Komponist Krzysztof Penderecki, der Boxer Dariusz Tiger Michalczewski sowie der Schauspieler George Clooney.

Feuchert, Sascha
Sascha Feuchert ist Professor für Neuere Deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Holocaust- und Lagerliteratur sowie ihre Didaktik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er leitet dort die Arbeitsstelle Holocaustliteratur.



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