E-Book, Deutsch, Band 396, 320 Seiten
Reihe: KBV-Krimi
Weller Totenwind
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95441-399-7
Verlag: KBV
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der vierte Fall für Kommissar ›Worschtfett‹
E-Book, Deutsch, Band 396, 320 Seiten
Reihe: KBV-Krimi
ISBN: 978-3-95441-399-7
Verlag: KBV
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kalt weht der Wind im Vogelsberg …
Ein Auto im Graben einer abgelegenen Landstraße im Vogelsberg. Im Kofferraum die Leichen eines Ehepaars mit aufgeschlitzten Pulsadern. Selbstmord oder Verbrechen?
Und was hat es mit der abgetrennten Fingerkuppe auf sich, die am Vorabend auf der Polizeiwache abgegeben wurde?
Diesen und einer Reihe weiterer Fragen müssen Kommissar Roman Worstedt und seine Kollegin Regina Maritz nachgehen, um mit ihren Ermittlungen schließlich in Namibia zu landen. Denn die Hintergründe des Falls reichen zurück bis in die Kolonialzeit.
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ABBENE KUPPE
Einen Finger?«, fragte der Polizist. Und der Mann ihm gegenüber antwortete: »Keinen ganzen. Nur das vordere Glied von einem. Gewissermaßen eine Finger-Kuppe.« Dann begann er, das Taschentuch auseinanderzufalten, das er zuvor auf den Tresen der Wachstube gelegt hatte. Es war der Tag, an dem in der Zeitung stand, dass für die kommende Nacht ein seltenes Himmelsschauspiel zu erwarten sei. Weil der Mond der Erde so nah komme wie seit siebzig Jahren nicht mehr. Am späten Nachmittag wurden im Radio Leute zu der bevorstehenden Nacht befragt. Ein Taxifahrer meinte, er hasse Vollmondnächte, weil es da zigmal mehr Zahlungsstreitigkeiten gebe als sonst. Ein Polizist trug vor, in solchen Nächten seien unverhältnismäßig mehr Körperverletzungen und Gewalttaten zu verzeichnen. Und nur eine Frau, die als Sexarbeiterin aus dem Frankfurter Bahnhofsviertel vorgestellt wurde, erklärte, solche Nächte zu lieben. Und zwar aus dem Grund, weil ihre Kunden da weitaus eher vorzeitige Samenergüsse hätten. Was für ihre harte, aufreibende Tätigkeit ausgesprochen erleichternd sei. Günter Grabowski hörte diese Stimmen, als sein Radiowecker ihn aus einem Traum rettete, den er in letzter Zeit oft hatte. Es war immer das Gleiche: Er lag schlafend in seinem Bett, während jemand versuchte, zum Fenster des Raums einzusteigen. Das Gesicht des Eindringlings war nicht zu erkennen. Er trug eine Motorradmaske und schwarze Lederhandschuhe. So sehr Günter sich in seinem Traum auch bemühte, aufzuwachen und dem Eindringling entgegenzutreten, es wollte ihm nicht gelingen. Immer und immer wieder konnte er trotz aller Anstrengung seine Augen gerade mal einen winzigen Spalt weit öffnen, um sogleich wieder wegzudämmern. Er war der Situation hilflos ausgeliefert und ihm blieb nichts anderes übrig, als tatenlos zuzusehen, wie der Fremde das Zimmer betrat und sich an seinen Sachen zu schaffen machte. Das Ganze schien endlos lange zu dauern und endete erst, als aus der Ferne Stimmen zu vernehmen waren, die die bevorstehende Vollmondnacht kommentierten. Am ganzen Körper schwitzend fuhr Günter stumm empor und musste sich erst einmal vergegenwärtigen, dass es lediglich ein Traum gewesen war, in dem bei ihm eingestiegen wurde. Er hatte an dem Tag Frühschicht gehabt und sich nach dem Mittagessen schlafen gelegt. Das war sein über Jahre hinweg bewährtes Ritual, sich auf die bevorstehende Nachtschicht einzustimmen. Nach dem Hinlegen sah es mit Einschlafen allerdings nicht gut aus. Er bekam den Kopf nicht frei. Weshalb es nur für ein gedankenverlorenes Dösen reichen musste. Dass er dann schließlich doch eingeschlafen war und auch noch aus einem Traum erwachte, verwunderte ihn im Nachhinein sehr. Im Wachwerden dachte er für einen Moment, Marion liege neben ihm. Er griff vorsichtig zum anderen Teil des Bettes. Aber da war niemand. Nur abgelegte Kleidung, die längst hätte gewaschen werden müssen. Marion war weg. Seit acht Wochen schon. Dazu war es gekommen, als seine Schwester mit ihrem Mann zu Besuch gewesen war. Da hatte sie eine Bemerkung über das Tuch gemacht, das Marion um den Hals getragen hatte. Als die beiden wieder weg waren, wollte Günter wissen, was seine Schwester damit gemeint haben könnte, dass es bei ihnen ja wohl noch recht leidenschaftlich zugehen müsse. So nahmen die Dinge ihren Lauf, an deren Ende offenbar wurde, dass sich unter dem Halstuch ein Knutschfleck befand. Weil selbiger nicht von Günter stammte, wollte er um alles in der Welt erfahren, wer ihr den verpasst habe. »Sag mir den Namen von dem Typen!«, hatte er so laut geschrien, dass die Nachbarschaft jedes Wort mithören konnte, »Ich will sofort wissen, wer das war!« Nachdem eine Weile hin und her gebrüllt worden war und er knapp an ihrem Kopf vorbei ein Loch in das Türblatt zur Speisekammer geschlagen hatte, rückte sie endlich kleinlaut raus mit der Sprache. Sie sagte: »Kein Er, Günter, das war kein Er.« »Was?«, hatte er entgegnet, nachdem er einen Moment gebraucht hatte, bis er verstand, was gemeint war. Er setzte sich danach an den Küchentisch, regungslos vor sich hin auf die Tischdecke stierend, während sie im Schlafzimmer Sachen in einen Koffer packte, mit dem sie dann das Haus verließ. Hätte der Knutschfleck von einem Mann gestammt, hätte er sich fragen können, was der habe und er nicht. Dass er besser aussehe, mehr verdiene, ein leidenschaftlicherer Liebhaber sei, was auch immer. Aber bei einer Frau gab es nichts. Da war null, was er hätte vergleichen können. Er hatte keine Ahnung, was daraus werden sollte. Seitdem kam Marion einmal die Woche vorbei, wenn er auf Schicht war, und holte sich weitere Sachen aus der Wohnung. An manchen Tagen hat er schon gedacht, ob er sie nicht abfangen sollte. Dann könnte er ihr vorschlagen, dass sie ihre Beziehung zu der Frau, die – wie er mittlerweile erfahren hatte – Chrissi hieß, hinter seinem Rücken würde ausleben können, wenn sie nur zu ihm zurückkäme. An anderen Tagen aber fand er solche Gedanken schlichtweg absurd. Unterm Strich kam es aber immer häufiger vor, dass er meinte, Leute würden über ihn tuscheln, wenn er ihnen auf der Straße begegnete oder er einen Raum betrat. Manchmal meinte er sogar, schon gehört zu haben, dass es hieß, es sei doch nie so weit gekommen, wenn er gewissenhaft seinen ehelichen Pflichten nachgekommen wäre. Er wusste nicht, wie lange er die Fassade würde aufrechterhalten können. Und im Prinzip konnte er froh sein, dass man auf der Dienststelle noch nicht Wind davon bekommen hatte. In den letzten Wochen war ihm mehr und mehr klar geworden, dass Marion nicht zu ihm zurückkehren würde und er über kurz oder lang sein Leben neu ausrichten müsste. Wahrscheinlich wäre es sowieso am besten, wenn er wegzog und sich eine ganz andere Arbeit suchte. Schichtdienst, so hieß es immer wieder, sei auf Dauer der sichere Tod jeder Beziehung. Schon zu oft hatte er Kollegen erlebt, die meinten, dass sie mit dieser Arbeit ihr Leben verpfuscht hätten. Deshalb seien Polizisten auch gerne darauf aus, möglichst früh in den Ruhestand versetzt zu werden. Jede noch so kleine körperliche Einschränkung werde dann zum Anlass genommen, um die Diensttauglichkeit zu hinterfragen. Wer als Polizist über fünfzig noch im Dienst sei – so hieß es oft – brauche schlichtweg das Geld, weil er ansonsten nicht mit seiner Pension über die Runden komme. Als Günter Grabowski lange genug über das alles nachgedacht hatte, blickte er zu seinem Radiowecker. Das Display zeigte 16:04. Die 16 erinnerte ihn an seinen Geburtstag, der in sechs Tagen, am Sonntag, anstand. Es war der Tag, an dem auch sein Namensvetter Günter Grass Geburtstag hatte. Über den bekannten deutschen Schriftsteller wusste er gerade mal, dass sein berühmtestes Werk Die Blechtrommel war, dass er den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte und einen Bart trug wie ein Walross. In Anspielung auf seinen Geburtstag am Sechzehnten hatte Günter in der Vergangenheit manchmal spaßeshalber gemeint, mit Joseph Ratzinger den Namenstag zu teilen, weil der ja als Papst schließlich Benedikt, der Sechzehnte heiße. Die 04 auf dem Display erinnerte ihn an die Blauweißen aus seiner Heimat. Acht Jahre zuvor war er von Gelsenkirchen nach Grünberg gekommen. Dafür hatte er die ganze Tortur auf sich genommen, die Länderwechsler hinter sich bringen mussten, wenn sie als Polizeibeamte von einem Bundesland in ein anderes versetzt werden wollten. Von dem Moment an, da er seine Vorgesetzten im Pott über sein Versetzungsbegehren in Kenntnis gesetzt hatte, war er bei seinen Kollegen abgestempelt gewesen. Sie behandelten ihn dann nur noch wie einen Abtrünnigen. Aber ihm war das egal. Marion war seine große Liebe. Sie hatten sich im Urlaub auf Teneriffa kennengelernt und sich hinterher ein halbes Jahr lang geschrieben, besucht und miteinander telefoniert. Und jedes Mal, wenn er bei ihr in Grünberg auf Besuch war, hat er sich gefühlt wie im Urlaub. Alles war ihm so überaus friedfertig vorgekommen. Die Stadt so puppenstubenhaft, die Landschaft so beruhigend, alles so herzerwärmend. Aber das ist lange her, dachte er. Jetzt kam ihm alles nur noch bedrohlich vor. Die Anzeige im Display sprang auf 16:05. Er stand auf und ging ins Bad. Zunächst duschte er warm, dann kalt. Dann zog er sich eine frische Unterhose an, ging in die Küche und aß zwei Scheiben Eiweißbrot mit wenig Butter und Radieschen, die er zuvor in schmale Scheiben geschnitten und mit Salz bestreut hatte. Dabei blickte er aus dem Küchenfenster hinaus auf eine Straße mit Fachwerkhäusern: Grünberg. Mit Schaudern dachte er daran, was ihm am kommenden Donnerstag bevorstand. Bis dahin waren es noch drei Tage. Nur noch drei Tage. Dann würde er im Rahmen des diesjährigen...