E-Book, Deutsch, 528 Seiten
Wells Die Formel
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-492-99078-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 528 Seiten
ISBN: 978-3-492-99078-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dan Wells studierte Englisch an der Brigham Young University in Provo, Utah, und war Redakteur beim Science-Fiction-Magazin »The Leading Edge«. Mit »Ich bin kein Serienkiller« erschuf er das kontroverseste und ungewöhnlichste Thrillerdebüt der letzten Jahre. Ihm folgten weitere John-Cleaver-Romane, Thriller um die »Partials«, die »Mirador«-Saga und ein weiterer Science-Fiction-Roman.
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Kapitel 1
Donnerstag, 22. März
9:01 Uhr
Hauptsitz von NewYew, Manhattan
267 Tage bis zum Weltuntergang
»Die Eibe ist ein majestätischer Baum«, verkündete Carl Montgomery. Das Sprechen strengte ihn an, er hielt inne und nahm einen gedehnten, tiefen Atemzug aus dem Sauerstofftank. »Yggdrasil war eine Eibe«, fuhr er fort. »Der Weltenbaum, der alles stützt.«
Sie hatten sich in einem luxuriösen Konferenzsaal versammelt: Carl, der CEO von NewYew Inc., und alle leitenden Mitarbeiter. Lyle Fontanelle, der Chefwissenschaftler, staunte immer wieder über die protzige Ausstattung dieses Gebäudeflügels. Die Büros waren in der Anfangszeit der Firma gebaut und eingerichtet worden. Damals blühten die Geschäfte, und die Bestellungen rissen nicht ab. »Die Leute bringen sich fast um, damit sie uns ihr Geld geben dürfen«, hatte Carl damals immer gesagt. Genau genommen traf das sogar zu, denn das einzige Produkt der Firma war Paclitaxel gewesen, ein Mittel für die Chemotherapie, und die Kunden waren ausschließlich Krebspatienten gewesen. Das galt für die Zeit, bevor Lyle eingestellt worden war. Carl hatte ihm oft erklärt, das Geheimnis des Erfolgs liege in der Fähigkeit, Krebs zu behandeln, ohne ihn zu heilen. »Verkauf ein Heilmittel, und du zerstörst dir selbst den Markt. Verkauf ein Mittel zur Behandlung, und du hast einen Kunden auf Lebenszeit.« Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das Leben der Patienten tatsächlich von seinem Mittel abhing, konnte Carls Philosophie nur bemerkenswert zutreffend genannt werden.
Lyle sagte sich, dass er damals sicher nicht für NewYew gearbeitet hätte. Nicht einmal die Aussicht auf sagenhaften Reichtum hätte ihn zum Verrat seiner Prinzipien verleiten können. Schließlich war er kein Söldner, sondern Wissenschaftler.
Als die Forschung um 1990 eine Methode zur Synthetisierung von Paclitaxel fand und das Mittel nicht mehr mühsam aus der Pazifischen Eibe gewinnen musste, riss die Glückssträhne der Firma ab. Ein einfacher, für jeden Konkurrenten nachvollziehbarer Produktionsprozess hatte zur Folge, dass nun auch viele andere Unternehmen das Mittel herstellen konnten. Aufgrund einer Vielzahl von Produzenten stieg die Verfügbarkeit, und die Preise sanken. Guter Zugang und niedrige Preise bedeuteten, dass immer mehr Patienten die Substanz nutzen konnten. Die Patienten waren glücklich, die Ärzte waren glücklich, und sogar die Umweltschützer freuten sich, weil die Pazifische Eibe nicht mehr gefährdet war.
Nur Carl Montgomery war überhaupt nicht glücklich.
Nach dem Verlust des lukrativen Monopols erlitt NewYew erhebliche finanzielle Einbußen und war gezwungen, sich neu auszurichten. Da man die nötige Ausrüstung und die Infrastruktur besaß, um Chemikalien für Menschen herzustellen, verlegte man sich von der Chemotherapie auf die Kosmetik. Die Firma warb Lyle, einen erfolgreichen Chemiker, von Avon ab und machte sich an die Arbeit. Soweit es Carl betraf, bestand der einzige spürbare Unterschied darin, dass in den Firmenräumen nun die Fotos von Supermodels statt von kahlköpfigen kleinen Kindern hingen. Wenn überhaupt, dann wirkten die Büroräume tatsächlich attraktiver als früher.
Wie bei den meisten Evolutionen schleppte das Unternehmen auch in diesem Fall einige Wurmfortsätze aus der Vergangenheit mit sich herum – Überbleibsel der alten Inkarnation, die keinen Sinn mehr hatten, wie etwa der Name der Firma und der Slogan Carl ging sogar so weit, darauf zu bestehen, die Pazifische Eibe müsse auch in die Kosmetikprodukte Eingang finden. Die Manager sprachen sich allerdings stets dagegen aus. Am Morgen des 22. März verdrehte Lyle Fontanelle nicht zum ersten Mal die Augen und bereitete sich innerlich darauf vor, abermals die alten Argumente vorbringen zu müssen.
»Yggdrasil war eine Esche«, wandte er ein. »Ich habe es nachgeschlagen.«
»Und bei einer Handcreme können wir Eibe nicht gebrauchen«, ergänzte der Firmenanwalt Sunny Frye. In Wirklichkeit hieß er Sun-He und kam aus Korea. Lyle arbeitete schon so lange mit Make-up, dass er mit geradezu unheimlicher Treffsicherheit sagen konnte, woher jemand kam. »Die Eibe hat absolut nicht die Fähigkeit, die Haut zu befeuchten oder Alterungsprozessen entgegenzuwirken«, fuhr Sunny geduldig fort. »Das sind wir doch schon einmal durchgegangen. Der Baum trägt nichts zu dem Produkt bei.«
»Dann benutzen Sie eben nicht viel davon«, verlangte Carl, der völlig reglos auf dem Stuhl saß. Es war ein wuchtiger Chefsessel aus weichem schwarzem Leder, der vorzüglich zum warmen Mahagoniton des Konferenztischs passte. Carl verließ den bequemen Sessel nur höchst selten. Mit seinen neunundsiebzig Jahren hatte er die Altersgrenze weit überschritten und sollte nach Lyles Ansicht eigentlich nicht länger mit der Firmenleitung betraut sein. Andererseits musste Lyle zugeben, dass die Alternative wahrscheinlich noch schlimmer war. Der Nachfolger für die Position des CEO war der Präsident Jeffrey Montgomery. Er war Carls Sohn und ebenso verschroben wie unnütz.
»Wir müssen nicht viel Eibe einsetzen«, sagte Carl ohne sichtbare äußere Bewegung. »Nur gerade so viel, dass man es aufs Etikett schreiben kann.«
Die anwesenden Manager seufzten so leise und so höflich wie möglich. Es waren vier (Jeffrey zählte nicht, er saß in der Ecke und spielte auf dem Handy): die Vizepräsidentin für Finanzen, der Vizepräsident für Marketing, der Syndikus und natürlich der Chefwissenschaftler. Lyle träumte schon lange davon, seine Visitenkarten zu ändern und sich als zu bezeichnen, schreckte aber seit mehr als zehn Jahren vor der tatsächlichen Umsetzung zurück. Er war sich selbst nicht sicher, was er beängstigender fand – dass man ihn wegen der Anspielung auf auslachen könnte oder dass es niemanden ernsthaft interessierte, was auf seinen Visitenkarten stand.
Carl sprach weiter und wedelte schwach mit einer runzeligen Hand, um seine Worte zu unterstreichen. »Die Eibe ist ein wundervoller Baum, den unsere Kunden mit Gesundheit in Verbindung bringen. Wir haben fünfunddreißig Jahre lang mit der Eibe Krebs bekämpft. Lässt sich das nicht irgendwie zu unserem Vorteil einsetzen?«
»In der Tat wäre das eine brillante Marketingstrategie.« Eifrig beugte sich Kerry White vor. Er war erst vor wenigen Monaten als Vizepräsident für Marketing eingestellt worden, und deshalb war ihm dieser Streit noch relativ neu. »Man stelle sich nur die Werbung vor:
»Diese Kampagne haben wir schon vor vier Jahren gefahren«, wehrte die Vizepräsidentin für Finanzen ab. Sie war eine klapperdürre Frau namens Cynthia Mummer. »Es hat nicht funktioniert.«
»Es hat nicht funktioniert, weil wir keine Eibe in den Produkten hatten«, beharrte Carl.
»Nun gut«, schaltete sich Lyle ein. »Könnten wir …« Er wollte seine neueste Idee vorstellen, wusste aber nicht so recht, wie er anknüpfen sollte. »Können wir ein Wortspiel daraus machen?«
»Ein Wortspiel?«, fragte Kerry. »Ist das Ihr Beitrag?«
»Der ganze Firmenname ist bereits ein Wortspiel«, warf Cynthia ein.
»Ich meinte ein Wortspiel vor dem Hintergrund dessen, was Carl gerade gesagt hat«, fuhr Lyle fort. »Wir reichern die Produkte mit Eibe an. Das Wort spricht man genauso aus wie und …«
»Wir wissen, was ein Wortspiel ist«, erwiderte Cynthia. »Lassen Sie es ihn doch erklären!«, verlangte Sunny. Lyle war zugleich dankbar und empört. Er brauchte bei jeder dieser Sitzungen Sunnys Unterstützung, und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Warum konnte er nicht für sich selbst sprechen?
»Ich habe verschiedene biomimetische Technologien untersucht«, erklärte Lyle. »Es gibt da etwas, das ich …«
»Was ist Biomimetik?«, fragte Kerry.
»Eine Methode, die biologische Vorgänge nachahmen kann«, erläuterte Lyle. »Ein intelligentes Produkt, das sich dem Körper anpasst.«
Cynthia nickte. »In der Hautpflegelinie für Jugendliche haben wir biomimetische Lipide. Diese Produkte zählen zu den bestverkäuflichen.«
»Richtig«, bestätigte Kerry. »Meine Frau liebt diese Lotion.«
»Benutzt Ihre Frau tatsächlich Pflegeprodukte für Jugendliche?«, fragte Cynthia.
»Was ist herausgekommen, als Sie biomimetische Stoffe erforscht haben?«, grollte Carl. »Wir bezahlen Sie nicht dafür, dass Sie den ganzen Tag untätig auf dem Hintern sitzen. Dazu haben wir schon Jeffrey. Sie werden hier für Forschung und Entwicklung bezahlt. Also – haben Sie irgendetwas entwickelt?«
»Ja, ich habe tatsächlich etwas, und das würde ich Ihnen gern zeigen«, antwortete Lyle. Er legte die Aktentasche auf den Tisch. »Es ist die Creme gegen Verbrennungen, über die wir schon gesprochen haben. Die Lotion erweist sich … äh … als recht vielversprechend im Bereich des Anti-Aging. Marktreif ist sie zwar noch nicht, aber die ersten Resultate sind ermutigend. Für die weitere Erforschung möchte ich mehr Mittel zur Verfügung stellen.«
»Wozu brauchen wir eine Creme gegen Verbrennungen?«, fragte Cynthia mit eisiger Stimme. Als CFO hatte ihre Einschätzung im Hinblick auf die Mittelvergabe das größte Gewicht. Lyle schluckte nervös und öffnete die Aktentasche.
»Eigentlich ist es gar keine Verbrennungscreme.« Er zog eine Mappe und einen Stapel Hochglanzfotos heraus. »Die Technologie stammt von einer Verbrennungscreme und beruht auf medizinischen Forschungen,...