E-Book, Deutsch, 204 Seiten
Welzbacher Mauern, Lager, Slums
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7518-3040-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Grundzüge eines neoliberalen Raumregimes
E-Book, Deutsch, 204 Seiten
ISBN: 978-3-7518-3040-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wo immer man hinblickt – kein anderes Thema hat die politischen Auseinandersetzungen des globalen Nordens in den letzten Jahrzehnten so beherrscht wie Flucht und Migration. Doch anstatt schlüssige Gesetze und Verordnungen zu erlassen und umzusetzen, anstatt sich auf die Würde des Menschen auch über Staatsgrenzen hinweg zu besinnen, werden radikale Forderungen nach Verschärfung des Asylrechts, nach Abschiebung und Abschottung laut, werden stark normierte Strategien der Exklusion, Selektion und »Lagerung« implementiert. Welchen Kalkülen aber folgen Camps, Mauern, Flüchtlingsunterkünfte und Grenzsicherungsanlagen? Wer schlägt Profit daraus? Und vor allem: Wer schafft die Strukturen und Rahmenbedingungen, die den Profit aus dem Umgang mit Geflüchteten ermöglichen? Christian Welzbacher nähert sich mit detektivischem Gespür den Infrastrukturen der Abschreckung, die mit nüchterner Kosten-Nutzen-Rechnung noch die letzten Werte einer kritischen demokratischen Gesellschaft untergraben.
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Politik statt Moral
Bis weit in die 1960er-Jahre hinein waren die Vororte großer europäischer Städte von sozialem Elend geprägt. Die Bidonvilles und Borgate, die Nissenhütten und Slums standen in eigenartigem Kontrast zum wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit.1 Sie hielten sich hartnäckig, wurden stets umgemodelt, erneuert und erweitert, und während manch ein Bewohner mit seiner Familie aus den Armenquartieren wegzog, weil er durch Fleiß, Geschick und gute Kontakte Aussicht auf kleinbürgerliches Glück mit festem Einkommen und dauerhafter Bleibe bekam, rückten neue Menschen nach, einstige Landarbeiter, Kriegsheimkehrer, Vertriebene. Mittlerweile lief der Siedlungsbau auf Hochtouren. Überall Newtowns, Banlieues und Trabantenstädte, in gigantischem Ausmaß wuchsen die Blocks, Punkt- und Scheibenhochhäuser des sozialen Wohnungsbaus in die Höhe.2
Hoffnung, Enttäuschung und Betrug sind die großen Themen rund um den erhofften sozialen Aufstieg der Slumbewohner. Der italienische Regisseur Federico Fellini griff sie in seinem 1955 entstandenen Film noir Il bidone (Die Schwindler) auf. Die titelgebenden Kriminellen suchen eine Gruppe von Bewohnern improvisierter Notunterkünfte am Rand von Rom auf und verkünden ihnen großspurig, im Auftrag der städtischen Wohnungsbehörde Vorverträge für bald fertiggestellte Neubauwohnungen mitgebracht zu haben: Diese müssten nur unterschrieben werden, freilich verbunden mit der sofortigen Anzahlung einer ersten Monatsmiete.3 Statt den Betrügern auf den Zahn zu fühlen, überschlagen sich die Subproletarier regelrecht, das Geld einzuhändigen. Einige müssen erst improvisieren, bitten die Nachbarn um Vorschuss, um bald aus dem Elend herauszukommen, in das sie sich verstoßen fühlen. Die Sequenz endet damit, dass die Hasardeure nach ihrem Beutezug in die Dancehall fahren, um das erbeutete Geld in Schaumwein umzusetzen.
Zurückblickend auf meine Kindheit in den westdeutschen 1970er-Jahren kann ich mich erinnern, dass nicht alle Menschen darauf erpicht waren, das wilde Leben am Rande der wellblechernen Illegalität aufzugeben. Offiziell war dauerhaftes Residieren in einem Schrebergarten verboten. Doch während wir gut behüteten Kinder in einer biederen Reihenhaussiedlung in Offenbach aufwuchsen, lernten wir einen Mann kennen, der unweit unserer Wohnstraße genau dies tat. Warum es eigentlich dazu gekommen war, haben wir uns nie zu fragen getraut. Aber dass es so war, wussten wir von seinem mit uns etwa gleichaltrigen Enkel, der uns den Zugang in das improvisierte Refugium aus Paletten, Eisenrosten, Ytongsteinen und Bauabfällen eröffnete und uns an kläffenden Schäferhunden vorbei ins Innere der verrauchten Hütte lotste. Der Mann selbst zog regelmäßig durch die Offenbacher Vororte. Er sammelte Treibgut vom Straßenrand auf, kaufte und verkaufte Wertstoffe, Altmetall, Mobiliar und konnte als »Schrottler« wohl einigermaßen leben. Ein kleinbürgerliches Dasein mit festen Arbeitszeiten, Ratenkredit und Neckermann-Urlaub konnten wir Kinder uns bei dieser Type von Mensch unmöglich vorstellen: Mit seinem tabakgelben Schnurrbart, dem schmutzig weißen Cowboyhut und dem immer verwegenen Grinsen in seinem von feinen Falten zerfurchten Gesicht war er für uns der Inbegriff eines freien, unabhängigen Mannes, der sich nicht von allzu wohlfeilen Verlockungen des Konsums irritieren ließ. Er war so etwas wie ein Aussteiger. Freilich ohne je eingestiegen zu sein.
Während all der Jahre, die der Mann dank routinierter Unauffälligkeit von den Behörden unbehelligt blieb, spielte sich ein paar Kilometer weiter ein soziales Drama ab. Abseits des Bieberer Berges, auf dem der Offenbacher Fußballclub »Kickers« legendäre Erfolge feiern sollte, um bald darauf wieder vergessen zu werden, hatte um 1900 ein lokaler Kaufmann Land erworben, auf dem er Kleinstwohnungen nach dem Modell der Gartenstadtbewegung errichten wollte: winzige Häuschen für die unterste Mittelschicht, deren Gärten der Selbstversorgung dienen sollten.4 Nachdem er das Projekt aufgegeben und das Terrain mit dem merkwürdigen Namen »Marioth Gelände« an die Stadt verkauft hatte, siedelten auf dem aufgelassenen Baugrund obdachlose Familien. Straßen gab es keine, Wasseranschluss und Strom fehlten. Aber es gelang den Menschen, ausrangierte Waggons vom nahegelegenen Güterbahnhof hierherzubringen, darin sie ihre Wohnungen einrichteten.
»Waggonhausen« überlebte die Weimarer Republik, das Dritte Reich, den Zweiten Weltkrieg und das Wirtschaftswunder – und wuchs stetig. In den 1960er-Jahren galt der nunmehr in »Lohwald« umbenannte Bereich irgendwo zwischen Gleisanlagen, Stadtwalddickicht und Schnellstraße als No-go-Area mit hoher Kriminalitätsrate. Das Problem verschärfte sich, als die Stadt Offenbach Ende des Jahrzehnts die zentrale Obdachlosenunterkunft dorthin verlegte. Zwar wurden in den 1970er-Jahren die Waggons fortgeschafft, Straßen angelegt und feste Behausungen errichtet, die zumindest Minimalstandard aufwiesen. Aber das soziale Problem blieb, da man die Menschen weiterhin perspektivlos zurückließ.
Fast vier Generationen lang existierte der Offenbacher Slum, zuletzt aufgrund regelmäßiger Brandstiftungen, Schießereien und Prostitution permanent bewacht durch eine eigene Außenstelle der Polizei. Ende der 1990er-Jahre beschloss der Magistrat, das Gelände räumen zu lassen. Aber noch 2002, ein Jahr vor dem Abriss, lebten hier rund 1500 Siedler. Danach rückten die Bagger an. Ich kann mich gut erinnern, welch verstörenden Eindruck das bereinigte Terrain hinterließ: Die Straßen, ja selbst Verkehrsschilder waren noch vorhanden, aber wo die Häuser gestanden hatten, regierte das Nichts. Aus den Ritzen krauchte Unkraut. Die Luft stand, die Stille war, als würde jeden Moment eine Horde Wilder aus dem Dickicht ringsum hervorbrechen, um den Ort in Piratenmanier neu zu besetzen. Lohwald sah jetzt aus wie Pompeji. Nur dass die Touristen fehlten, um sich dieses Monument des Scheiterns europäischer Sozial- und Wohnungspolitik anzusehen. Der Geist des Ortes jedenfalls war lebendig und suchte neue Betätigungsfelder. So kam es mir zumindest vor.
Den vorliegenden Essay habe ich nicht aus Sentimentalität geschrieben. Während meiner Recherchen über Mauern, Lager und Slums aber erinnerte ich mich an meine merkwürdigen Kindheitsbegegnungen mit »informellen Strukturen« – Strukturen, die es in einem juristisch durchregulierten und engmaschig verwalteten System wie dem unseren offiziell gar nicht geben kann, nicht geben darf. Wahrscheinlich war es dieses »Jenseitige«, das uns Heranwachsende magisch anzog: das Verwegene des Unerklärlichen, das Fantomhafte. Und natürlich der Reiz des Verbotenen. So war bald einem meiner Kumpel von seinen Eltern untersagt worden, die Hütte des Schrottlers aufzusuchen, was die Attraktivität noch weiter steigerte. »Marioth«, von uns aus jenseits einer gefährlichen Hauptverkehrsstraße gelegen, war ohnehin tabu. Offiziell zumindest. Denn es bestand natürlich keinerlei Zwang, den Eltern jeden unserer Ausflüge minutiös zu rapportieren.
Mauern, Lager, Slums ist aus einem anderen Impuls entstanden, der seinen Ursprung in der Berichterstattung über den Krieg in Syrien und die sich anschließenden Flüchtlingsbewegungen hat. Mich interessierten weniger die gelenkten Narrative von Politik und politischer Berichterstattung, die systematische Instrumentalisierung von Fotografien und Videos, die fliehende, ertrunkene, wandernde, ankommende Menschen zeigten. Die Medien legten den Fokus auf die Flucht, als handele es sich um eine moderne Neuauflage mittelalterlicher Aventure oder um ein Wirklichkeit gewordenes Roadmovie; die Schwundstufe dieser Perspektive trieben dann Filme wie Io Capitano von Matteo Garrone ins Extrem. Natürlich hat mich diese Form der unterhaltsamen Ausbeutung von Migration befremdet. Aber weit relevanter war es für mich, zu erfahren, was mit den Flüchtlingen passiert, wenn sie in die bürokratische Maschinerie der Ankunftsstaaten eingespannt werden. Auf was für einen »Apparat« treffen sie bei uns? Wie werden sie von diesem Apparat »verarbeitet«? Was sagt dieser angesichts globaler Flüchtlingsbewegungen immer weiter angepasste Apparat über die »Ankunftsgesellschaft« des sogenannten Globalen Nordens aus?
In Ergänzung zu den gleichzeitig geführten soziologischen, planerischen und ethischen Debatten wollte ich versuchen, aus einem veränderten Blickwinkel auf Phänomene wie Flucht, Illegalität, Migration, Obdachlosigkeit zu schauen, indem ich exemplarisch deren »Verwaltung« in den Blick nehme. Das brachte mich zur Sozial- und Raumplanung, denn offensichtlich reagieren westliche Staaten auf Massenzuwanderung – wie schon nach dem Zweiten Weltkrieg – restriktiv, angstgetrieben und abweisend, implementieren stark normierte Strategien der Exklusion, Selektion und »Lagerung«. Dies wiederum erfordert Infrastrukturen, deren einprägsamste Form selbstverständlich die Flüchtlingsunterkunft darstellt. Eine dieser Einrichtungen, für die frühere Generationen durchaus das Wort »Konzentrationslager« verwendet hätten, ist 2016/17 unweit meiner eigenen Wohnung entstanden. Neben aller Irritation über die Zustände, in denen Menschen dort leben müssen, weil ihnen die wirtschaftliche, soziale und edukative Teilhabe an der Mehrheitsgesellschaft verwehrt wird, drängte sich mir eine weitere Frage nach dem bewährten Prinzip »Follow the Money« auf: Wer profitiert von der Art und Weise, wie...