E-Book, Deutsch, 544 Seiten
Wen Himmlischer Frieden
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8437-3565-0
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman | Ein Roman über die erste Liebe, unverbrüchliche Freundschaften und den Preis der Freiheit - erzählt mit der Hingabe einer Elena Ferrante
E-Book, Deutsch, 544 Seiten
ISBN: 978-3-8437-3565-0
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lai Wen wurde 1970 in Peking geboren. Sie lebt heute mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in England, nachdem sie China 1989 nach den Protesten am Platz des Himmlischen Friedens verlassen musste.
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EINS
Meine früheste Erinnerung ist die an meine Großmutter. Ich weiß noch, wie sie roch. Eine Mischung aus Jasmin und dem erdigeren Geruch des Lederöls, das sie benutzte, wenn sie aus Tierhaut Pantoffeln für die Nachbarn auf unserem Flur nähte. Auch ihr Atem war so: ein warmer und süßer Hauch an meinem Gesicht, mit einer winzigen säuerlichen Note. Vor allem jedoch sind mir ihre Hände im Gedächtnis geblieben. Die knotigen Finger, die geschickt mit dem Leder umgingen oder blitzschnell Reis ins kochende Wasser streuten, ohne sich an der Dampfwolke zu verbrennen.
Außerdem erinnere ich mich – damals kann ich nicht älter als zwei oder drei Jahre gewesen sein –, wie mich die dicken dunkelroten und grünlichen Venen faszinierten, die wie Weinreben auf jenen fleckigen, abgearbeiteten Handrücken wuchsen. Manchmal griff meine Großmutter dann nach meiner kleinen Hand – die viel leichter und glatter war – und legte sie in die ihre, zog mich damit in ihren Bann. Doch vor allem spürte ich die Wärme, die ihre ledrige Haut verströmte und auf meine Hand ausstrahlte. Und ich fühlte mich sicher und beschützt.
Die Falten auf ihrer Stirn, die schlaffen Wangen – diese unschönen Einzelheiten stießen mich nie ab, obwohl die Boten des Alters Kinder manchmal erschrecken können. Vielmehr waren das Gesicht meiner Großmutter, ihr Körper, ihr wie eine alte Landkarte, vertraut und fremd zugleich, die ich immer wieder mit meinen Augen und Fingern erkunden konnte. Denn ich berührte oft ihr Gesicht, fuhr mit meinen kleinen Fingern über ihre schmalen grauen Augenbrauen, strich sanft über die dicken Haarstoppeln, die aus ihrem Kinn wuchsen und die mich aus irgendeinem Grund immer in gute Laune versetzten. Manchmal zupfte ich daran und brachte meine Großmutter zum Niesen. Das trug noch mehr zu meiner guten Laune bei, und ich kicherte, das fröhliche, endlose Glucksen eines kleinen Mädchens. Meine Großmutter – die hingegen eine feierliche und gefasste Miene zur Schau trug – sah mich an, wie ich mich vor Lachen ausschüttete, und nur das winzige Zucken ihrer Mundwinkel und das Funkeln ihrer graublauen Augen ließen erahnen, dass sie gleich lächeln würde.
Bei meinen Eltern lagen die Dinge anders. Sie waren mir verbunden, so wie eine chinesische Familie in den Siebzigerjahren ihrer Tochter eben verbunden war: eine freundliche Zuneigung, gepaart mit einer gewissen Zurückhaltung (mein Bruder war damals noch nicht auf der Welt). Vor allem jedoch waren sie … vielleicht sollte ich es distanziert nennen. Mein Vater war ein freundlicher Mann, stets auf Moral bedacht. Doch meine ganze Kindheit hindurch blieb er mir fremd, obwohl ich ihm jeden Tag begegnete: am Morgen, wenn ich zum Frühstück geweckt wurde, und am Abend, wenn er von der Arbeit nach Hause kam.
Manchmal stapfte ich durch den Flur unserer kleinen, hellhörigen Wohnung, in Gedanken verloren, in Gespräche mit einer erfundenen Freundin oder in Streitigkeiten mit eingebildeten Widersachern verstrickt, und wurde urplötzlich in die Wirklichkeit zurückgeholt, weil ich ihm in die Arme gelaufen war. Meinem Vater. Heute weiß ich, dass er eher klein war, hager und doch von kompakter Statur, als Kind aber lebt man in einer Welt von Riesen, und mein Vater war der größte Riese von allen. Vielleicht war er das in meinen Augen deshalb, weil seine Strenge so riesig war; wenn wir uns auf dem Flur trafen, blickte er ernst auf mich herab, als wäre er statt seinem eigenen Fleisch und Blut einem wildfremden Menschen in Miniaturform begegnet.
Mein Vater spähte mich blinzelnd an, als wäre er sich nicht ganz sicher, wer ich war; um mir dann, während das Schweigen größer und größer wurde, murmelnd eine Frage zu stellen: »Hast du … hast du … deine Hausaufgaben schon gemacht?« Oder: »Bist du mit deiner Arbeit fertig?« Als Fünfjährige waren meine Hausaufgaben mehr als überschaubar, doch ich nickte trotzdem eifrig, denn ich war mir in jenen Momenten sicher, man würde mich noch am selben Abend des Hauses verweisen, wenn ich mich nicht gefügig zeigte. Natürlich hatten meine Eltern in keiner Weise so etwas angedeutet, doch irgendwie hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, dass genau diese Gefahr drohte. Es war eine der vielen Ängste, die ich hatte.
Im Rückblick denke ich, dass mein Vater genauso panische Angst davor hatte, mir zu begegnen, wie umgekehrt. Deshalb sagte er auch das, was ihm als Erstes in den Sinn kam. Er war Wissenschaftler, genauer gesagt Kartograf – er beschäftigte sich mit Landkarten und Geologie. Eine eher nichtssagende Tätigkeit, die allerdings gut zum ebenso präzisen wie harmlosen Wesen meines Vaters passte. Trotzdem hatten Leute wie er während Maos Kulturrevolution unter Verfolgung gelitten. Eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Lehrern, Technikern und Intellektuellen hatte damals ihr Leben verloren, weil man sie für entartete, bourgeoise Spießer hielt, und meiner Vermutung nach hatte mein Vater die Angst und Ungewissheit jener Zeit niemals ganz abgelegt. Sie prägte ihn, hielt Einzug in jeden Aspekt seines Lebens. Selbst in die Beziehung zu seiner Tochter.
Ich wuchs in den Nachwehen des Maoismus auf – nach dem Tod des Großen Steuermanns –, weshalb jene Angst für mich nicht real war, zumindest nicht bis zu den Ereignissen etwa fünfzehn Jahre später. Doch meinem Vater war es nie gelungen, aus dem Schatten der Furcht herauszutreten.
Vielleicht linderte mein Vater seine Angst, indem er es zuließ, dass er an Kontur verlor und sich in die unbestimmte und abstrakte Welt der Tabellen und Diagramme zurückzog, von denen sein Arbeitszimmer voll war. Zu diesem Ort hatte das umtriebige Chaos des Familienlebens keinen Zutritt: die schmutzigen Windeln und das auf dem Teppich verstreute Spielzeug; das Gequengel eines Krabbelkindes; die trotzig zu ihm aufblickenden kleinen Gesichter, erwartungsvoll und empört zugleich, mit Rotz und Tränen verschmiert.
Meine Mutter ging mit ihren Ängsten anders um. Sie war eine zupackende Person, die versuchte, jeden Aspekt und jede Wendung im Leben ihrer Familie zu überwachen. Sie sorgte dafür, dass wir uns alle um Punkt sechs Uhr abends um den Tisch versammelten und dass die Servietten, die wir benutzten, akkurat auf unserem Schoß ausgebreitet waren. Während der Mahlzeit wurden wir davon in Kenntnis gesetzt, was den Nachbarn, die auf unserem Flur lebten, widerfahren war, wir erfuhren von den Leistungen, derer sie sich brüsteten, und den Skandalen, die sich hinter verschlossenen Türen abspielten. Insbesondere von den Skandalen. Meine Mutter war erfasst von einer überbordenden Energie; einer Lebenskraft, die wie ein Tsunami jede Hürde, die sich ihr in den Weg stellte, niederreißen und überwinden konnte. Sie speiste sich aus Klatsch und Tratsch, eine Antriebskraft, die sie einsetzte, um uns alle abzufüttern und dafür zu sorgen, dass unsere Kleidung sauber war und uns niemand auf unserem Lebensweg in die Quere kam. Das wurde mir allerdings erst viel später klar. Damals empfand ich meine Mutter einfach nur als übergriffig und lästig.
Am Ende der Kulturrevolution war mein Vater degradiert worden, doch es war ihm gelungen zu überleben. Kurze Zeit war er inhaftiert gewesen, schaffte es aber, wieder eine Anstellung zu bekommen. Ich vermute, er gehörte einfach zu denen, die Glück hatten. Bis zum heutigen Tage weiß ich nicht, welche Demütigungen – oder Schlimmeres – er hatte erdulden müssen. Das war etwas, das seiner Familie zu offenbaren er niemals auch nur in Erwägung gezogen hatte, vermutlich auch, weil zu dieser Familie damals nur weibliche Wesen gehörten. Meine Mutter war jedoch davon überzeugt, dass die Ursache seiner Leiden – die Ursache unserer aller Leiden – schlicht und ergreifend ein zufälliger Fehler in der ansonsten unfehlbaren Maschinerie der Bürokratie war. In ihren Augen griff die Regierung manchmal allzu hart durch, doch sie war gerecht, und ihre Autorität und Macht waren stets auf das Beste der Menschen ausgerichtet. Als Kind teilte ich die Meinung meiner Mutter, dass die chinesische Regierung die beste von allen sei, in jeder Hinsicht den Mächten des westlichen Imperialismus überlegen, die danach strebten, ihr Ende herbeizuführen. In jeder Radiosendung wurde verkündet, dass wir, das chinesische Volk, die Fahne der Menschlichkeit schwenkten, wenn wir für eine vom Klassenjoch befreite Gesellschaft kämpften. Derlei sogen wir in jungen Jahren auf wie die Muttermilch, so wie die amerikanischen Kinder jeden Morgen in der Schule strammstanden, um ihrer Flagge die Treue zu schwören.
Dennoch frage ich mich im Rückblick, wie sehr die gutgläubige und begeisterte Ergebenheit, die meine Mutter dem Staat entgegenbrachte, zur Schwächung meines von Erschöpfung gezeichneten Vaters beitrug, dem das Leben und der Staat, dem er dienen wollte, schwer zugesetzt hatten. Gewiss blieb die bedingungslose Begeisterung für den Status quo vonseiten meiner Mutter nicht ohne Wirkung. Vielleicht hatte mein Vater sogar gelegentlich mit Verärgerung darauf reagiert. Ein kurzes Aufblitzen von Gefühlen, die zu unterdrücken er sein Lebtag lang gelernt hatte. Doch grob war er nie geworden.
Auf unserem...