E-Book, Deutsch, 310 Seiten
Wermescher Schatten über Kreta
21001. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95819-302-4
Verlag: Ullstein Midnight
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 310 Seiten
ISBN: 978-3-95819-302-4
Verlag: Ullstein Midnight
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nach ihrem Studium zur Diplom-Kauffrau entdeckte Christina durch ein Auslandspraktikum ihre Liebe zu England, wo sie später auch promovierte. Bevor sie Schriftstellerin wurde, arbeitete sie bei verschiedenen Unternehmen in den Bereichen Einkauf und Qualitätsmanagement. Christina reist nicht nur gerne mittels Geschichten, sondern auch in der Realität und fühlt sich auf der ganzen Welt zu Hause, solange ihr Mann und ihr Sohn dabei sind. Wer mehr über sie erfahren möchte, ist herzlich eingeladen, sie bei Facebook oder Instagram zu besuchen.
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Kapitel 2
Skeptisch musterte Anne ihr Spiegelbild. Natürlich sah sie nicht mehr aus wie zwanzig, doch sie war durchaus zufrieden mit dem, was sie sah. Ihr Körper war drahtig und durchtrainiert, ohne maskulin zu wirken. Das obligatorische blaue Shirt, das hier alle in der Animation trugen, harmonierte gut mit ihren blonden Haaren, die sie sich zu einem hohen Pferdeschwanz zurückgebunden hatte. Zwar hatte sich bereits die eine oder andere graue Strähne eingeschlichen, doch bei ihrem hellen Haar musste man schon sehr genau hinschauen, um den Unterschied zu erkennen. So nah würde sie heute wohl niemandem kommen. Weiße Shorts rundeten das sportliche Erscheinungsbild ab. Kämpferisch klatschte sie in die Hände und wandte sich vom Spiegel ab, um in ihre Turnschuhe zu schlüpfen.
Nach dem zweiten Cocktail hatte sie am Vorabend beschlossen, dass Angriff die beste Verteidigung war. Sie würde Marcel schon zeigen, dass sie noch längst nicht zu seinen Silver Agern gehörte. Und hatte er nicht selbst gesagt, sie könne gerne weitere Aktivitäten anbieten, solange sie das vorgegebene Grundprogramm absolvierte? Gesagt – getan!
Im Fitnessstudio ihres Bruders hatte sie zwei Kurse gegeben. Damit sie nicht unnötig Zeit mit Vorbereitungen verschwendete, würde sie mit genau diesen beiden Kursen anfangen und sie den Gästen zusätzlich anbieten: Selbstverteidigung und Body Drill – beides hip, beides herausfordernd und beides nicht fürs Silver-Ager-Programm.
Die alten Stundenpläne an den Infotafeln hatte sie bereits aktualisiert. Und im Animations-Rumpelkeller war sie auf eine Tafel gestoßen, die sie mit der Ankündigung »Heute 10 Uhr Body Drill – Treffpunkt hier« unübersehbar neben der Poolbar platziert hatte.
Voller Energie machte Anne sich kurz vor zehn auf den Weg und drehte eine Runde durch den Hotelgarten. Als sie den Feigenbaum passierte, musste sie wieder an ihren Bruder und ihre vermeintliche Beziehungsunfähigkeit denken. Der Baum schien die einzige Pflanze in Sichtweite zu sein, die nicht in voller Blüte stand. Doch das täuschte. Anne hatte sich ein bisschen informiert. Schließlich wollte sie Benni nicht den Gefallen tun und ihr Bäumchen aus Unwissenheit falsch behandeln und töten.
Der chinesische Name der Feige hieß übersetzt sogar so etwas wie »Frucht ohne Blüte«. Dabei bildeten sie durchaus Blüten, die jedoch nach außen hin nicht ohne Weiteres als solche erkennbar waren. Sie saßen in den kugeligen Trieben, die später zu den Feigenfrüchten heranwuchsen. Anne hatte ihrem Bruder dieses unnütze Wissen nur zu gerne an den Kopf geworfen, als dieser den Mangel an Blüten gleich als erstes Zeichen eines qualvollen Feigenbaumsterbens interpretiert hatte.
Als Anne den Pool erreichte, sah sie sich suchend um. Doch keine Menschenseele stand an der Tafel. Einige Gäste hatten sich jedoch bereits am Pool niedergelassen, die würde sie mit Vergnügen wieder aufscheuchen. Sie alle sahen aus, als könnten sie ein bisschen Sport gut vertragen. Energisch blies Anne in ihre Trillerpfeife, bis sie die Aufmerksamkeit aller Gäste hatte. Zumindest schauten sämtliche Augenpaare in einer Mischung aus Angst und Überraschung zu ihr. Sie kannte diesen Gesichtsausdruck aus dem Fitnessstudio. Manche Menschen musste man antreiben wie störrisches Vieh. Doch nachdem sie ihren inneren Schweinehund überwunden hatten, würden sie sich großartig fühlen.
»Boooodyyyy Driiiillll!!!«, brüllte sie quer über die Liegewiese und ließ erneut ihre Trillerpfeife aufkreischen. »Alle knackigen Ärsche und solche, die es werden wollen, folgen mir!« Keiner bewegte sich. Der Anblick hatte etwas von verschüchterten Kaninchen, die im Angesicht der Speikobra in Angststarre verfallen waren. »Hopp, hopp, hopp!«, schrie Anne und ging auf den nächstbesten Liegestuhl zu. »Los, der Herr, das Mittagsbüfett will sich heute verdient werden!«
Der angesprochene Mann starrte sie an, dann folgte er ihrem Blick zu seinem stattlichen Bauch. Ein resignierter Seufzer schlich über seine halb geöffneten Lippen, und da wusste Anne, dass sie ihren ersten Teilnehmer gefunden hatte. Sie streckte ihm die Hand entgegen, die er etwas zögerlich ergriff, und zerrte ihn mit einem Ruck auf die Beine.
Gemeinsam gingen sie zum nächsten Liegestuhl. Die ältere Dame, die dort saß, hob ihre Illustrierte etwas an, als wolle sie sich dahinter verstecken – netter Versuch. Anne stellte sich vor sie und blies in ihre Trillerpfeife, bis auch sie aufstand und ihr folgte. Dabei lachte sie, was Anne beruhigte.
Ein paar Gäste flohen von der Liegewiese, bevor Anne sie einsammeln konnte, doch trotzdem hatte sie durch ihren Rundgang ein gutes Grüppchen zusammenbekommen. Sie klopften sich gegenseitig aufmunternd auf die Schultern. Der unerwartete Stress schweißte sie anscheinend zusammen.
»So, es kann losgehen!«, rief Anne und klatschte in die Hände. »Ihr folgt mir und macht bitte einfach alles nach!« Die meisten Teilnehmer murmelten zustimmend, einer kratzte sich ratlos am Kopf, und eine rothaarige Frau schien sich etwas unwohl nach einem Fluchtweg umzusehen. Nun gut, ein bisschen Schwund gab es immer.
Anne blies die Trillerpfeife und joggte los. Auf dem Pflaster hörte sie das Tappen ihrer Teilnehmer hinter sich. Da sie alle barfuß oder in Badelatschen waren, konnte sie sie nicht lange laufen lassen. So steuerte sie auf direktem Wege eine kurz getrimmte Grünfläche an. Als sie sich umdrehte, stellte sie erfreut fest, dass keiner sich hinter ihrem Rücken heimlich aus dem Staub gemacht hatte. Sogar die Rothaarige mit dem skeptischen Blick war noch da.
Glücklich begann Anne mit Kniebeugen, während die Urlauber sich auf der Rasenfläche verteilten und nach und nach mitmachten. Es folgten ein paar Hampelmannsprünge, die die Herrschaften bereits erstaunlich zum Keuchen brachten.
»Keine Müdigkeit vortäuschen!«, rief sie und ließ die Pfeife unerbittlich trillern. Dann warf sie sich in den Liegestütz. Nach zwanzig Wiederholungen sprang sie wieder auf und stellte fest, dass die Gesichtsfarbe der meisten Teilnehmer sich rötlich verfärbt hatte. Zwei blieben liegen. Erst mehrmaliges Ermahnen mit der Trillerpfeife half ihnen auf. Zwar hatte sie in ihrem Enthusiasmus vergessen, für Gewichte zu sorgen, doch die Urlauber waren mit dem Russian Twist auch so völlig ausgelastet. Ein paar Sit-ups noch und einen Seitstütz, dann setzte Anne an, die Abfolge der Übungen zu wiederholen. Trotz geröteter, leidender Mienen hielten ihre Teilnehmer sich wacker. Eine weitere Wiederholung verkniff sie sich, da sie sie augenscheinlich bereits weit über ihre Grenzen hinausgebracht hatte.
»Das habt ihr toll gemacht, ihr habt es geschafft!«, rief sie. Die leidenden Mienen verwandelten sich in Lächeln. Und sie schienen so stolz auf sich zu sein. Anne konnte es an ihren Gesichtern ablesen. Selbst die beiden, bei denen sie ernsthafte Bedenken hatte, ob sie es allein wieder zu ihrem Liegestuhl zurückschaffen würden, sahen glücklich aus. Sie klatschte sie alle ab und lobte sie noch ein bisschen. Das Zurückjoggen zum Pool war eher ein erschöpftes Gehumpel, zwei Urlauber hielten sich sogar aneinander fest, doch Anne war zufrieden – mit ihren Teilnehmern und vor allem mit sich selbst.
Sie klappte die Tafel ein und trug sie die Stufen in die Zentrale im Keller hinunter. Marcel saß dort am Schreibtisch, doch schien er nicht zu arbeiten, denn er war der Tür zugewandt. Vielmehr schien es so, als hätte er auf sie gewartet. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und sein Blick war eisig. Ein unwohles Gefühl krabbelte Anne den Rücken hinauf, doch sie gab sich unbedarft. Sie begrüßte ihn freundlich, wischte die Tafel ab und verstaute sie da, wo sie sie am Morgen gefunden hatte. Dabei spürte sie unangenehm, dass Marcel sie nicht aus den Augen ließ. Es war nur zu offensichtlich, dass er sauer war. Wahrscheinlich fand er ihre neuen Kurse nicht so toll wie sie selbst. Hatte sie es etwa schon an ihrem ersten Arbeitstag geschafft, zu weit zu gehen?
»Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Was sollte das?!«, schnauzte er sie an.
»Wieso bist du so aufgebracht? Du sagtest doch, ich dürfte mir zusätzliche Angebote überlegen.« Sie biss sich auf die Lippe, da sie merkte, dass ihre Antwort trotziger geraten war, als sie es beabsichtigt hatte.
»Ja, du kannst dir überlegen, was du willst! Aber du musst das mit mir absprechen. Ich dachte, in deinem Alter würde man wissen, wie man sich gegenüber seinem Chef benimmt!«
Nun war es an ihr, die Arme vor der Brust zu verschränken.
»Bringst du schon wieder mein Alter aufs Tablett? Hast du nen Sprung in der Schallplatte, oder was?«
Marcels linkes Auge zuckte gefährlich. »Pass auf, wie du mit mir sprichst!«, knurrte er. »Außerdem geht es hier gerade gar nicht um dein Alter, sondern darum, wie du dich aufführst. Ich habe dein Schreien und Pfeifen bis hierher gehört – wir sind doch kein verdammtes Bootcamp!«
»Der Name ›Body Drill‹ klingt auch nicht nach Kuscheleinheit. Man sollte liefern, was das Etikett verspricht. Marketinganfängerwissen.« Sie musste...