Werner | Die kalte Schulter | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Werner Die kalte Schulter

Roman
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-10-401265-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-10-401265-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Werner hat für sein Thema einen Stil gefunden, der in der deutschsprachigen Literatur seinesgleichen sucht.« Peter Urban-Halle, Der Tagesspiegel Es ist eine Geschichte von Liebe und Tod. Von späten, aber fetten Sommertagen und von der Ahnungslosigkeit des Malers Moritz Wank, der nicht mehr malt und nur noch zögernd lebt, weil alles sich entzieht. Die eigene Bangigkeit ist ihm so unverständlich wie die Welt, und seine Zehennägel sind ihm fremd. Nur Judith, die Gefährtin, gibt immer wieder Halt, und im Zusammensein mit ihr entsteht - Momente lang - Gewissheit, entsteht Beruhigung, ja Zukunftslust: Auf diese Liebe ist Verlass. Aber worauf verlässt sich die Liebe? Markus Werner berichtet vom Lachhaften unserer Existenz in einer Weise, dass wir tatsächlich lachen müssen. Und mit genauem Gefühl, behutsam und klug, erzählt er auch dort, wo uns das Lachen vergeht.

Markus Werner wurde 1944 in der Schweiz, in Eschlikon im Kanton Thurgau, geboren und starb 2016 in Schaffhausen. Er studierte in Zürich Germanistik, arbeitete bis 1990 als Lehrer und dann als freier Schriftsteller. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Er veröffentlichte die Romane ?Zündels Abgang?, ?Froschnacht?, ?Die kalte Schulter?, ?Bis bald?, ?Festland?, ?Der ägyptische Heinrich? und ?Am Hang?. Zu seinem Werk erschien der von Martin Ebel herausgegebene Band ?»Allein das Zögern ist human«?. Literaturpreise: Joseph-Breitbach-Preis (2000) Johann-Peter-Hebel-Preis (2002) Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung (2005) Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen (2006) ProLitteris Preis 2016
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1


Während Wank feststellte, wie lang und fremdartig seine Zehennägel waren, blähten manche Frauen im Freibad die Brüste. Laut Judith war das nicht möglich, aber wenn es möglich wäre, sagte Wank, so würden sie es tun.

Überall schrien Katzen. Abends, kaum hatte Wank Licht gemacht, umkreisten ihn Falter. Wie kann ein Rasen plötzlich das selige Grün junger Reisfelder annehmen? Ich stutze, sagte Wank und schaute auf das Gewölk, das steif im Westhimmel lag.

Später nahm er Judiths Kopf und drehte ihn wie ein Teleskop, bis sie den Mond vor Augen hatte. Sie verstand falsch, sie schmiegte ihr Gesäß an Wank. Da er den Druck nicht erwiderte, setzte sie sich und blätterte weiter in einer Broschüre mit dem Titel »Leckeres vom Grill«. Der Mond sah zwar aus wie ein Mumienschädel, aber der Grillrausch schlug alle mit Blindheit.

Nächtelang lärmte dieselbe Nachbarschaft, die sonst mit Besenstielen klopfte, wenn Wank nach zehn Uhr noch Musik hörte. Nun sangen die Herrschaften selbst, und wer singt, der hängt mich auf, sobald er darf. Statt dessen war Wank – mit Fräulein – zu einer solchen Party eingeladen worden, vielleicht hatte man doch ein schlechtes Gewissen und wollte ihn auf bequeme Art gewinnen. Wank hatte zugesagt, hatte Judith, die sich sträubte, überredet; der Anlaß fand statt. Von der ersten Minute an hatte Wank so getrunken, daß er für Verbrüderungen nicht nur empfänglich wurde, sondern sie nach kurzer Zeit selbst anregte und vollzog. Nichts war am Morgen ungeschehen zu machen, am wenigsten die Gegeneinladung, die Wank, wie Judith gern bezeugte, beim Abschied mehrfach ausgesprochen hatte.

Ich hab’s, Lammkotelett auf Burgfrauenart, hörst du? – Ja, sagte Wank, sehr knusprig. – Manchmal gefällt es mir, wenn du so bist, jetzt stört es mich, du schwebst, ich plane. – Ich kann auch selber planen, sagte Wank und gähnte taktlos. – Und Müllers und Schnorfs: wie fütterst du die nächsten Samstag? – Mit vergifteten Mandarinen, sagte er. Auf Burgfrauenart? fragte Judith. Er küßte sie dankbar.

Ob er bedrückt sei? Einerseits, antwortete Wank, lähme ihn der fette Sommer, andrerseits sei er so wachsam wie noch nie, er traue keinem Grashalm mehr, und die Tatsache, daß er seit Wochen nicht mehr male, habe nicht das geringste mit dem Schweißdrüsenabszeß in seiner Achselhöhle zu tun, auf den er sich immer berufen habe. Eigentlich bedrückt bin ich nicht, das Gefühl ist tierischer, aber du denkst sicher, daß ich mich aufspiele, vielleicht hast du recht. – Was ich denke, sagte Judith, ist selten das, was du glaubst. – Was denkst du denn? – Daß du halt leidest. – So, ich leide! rief Wank höhnisch. Judith stand sofort auf, und sofort versuchte er zu erklären, daß sein Hohn sich nicht auf ihre Aussage bezogen habe, sondern.

Sondern? – Judith ging. Wank hustete lange.

Streitereien, die nach Stunden einen erkünstelten Ausklang im Bett fanden und dann in flackrigen Träumen sich doch als nicht beigelegt erwiesen, waren selten. Besser, man ging rasch auseinander und versöhnte sich telefonisch. Aber heute erschien ihm dieser Brauch plötzlich schal. Obwohl er sich gerade heute besonders schämte und die Schroffheit, mit der er auf Judiths Einfühlungsversuch reagiert hatte, unvertretbar fand, stand er jetzt störrisch vor dem Telefonapparat. Wie um den Automatismus in Gang zu bringen und ihn gleichzeitig zu durchkreuzen, hob er den Hörer ab und wählte Mayas Nummer.

Sie sei nun, sagte Maya, als sie eine halbe Stunde später auf Wanks Sofa saß, bei Schutzfaktor zwei angelangt und an die Hautkrebsgeschichten glaube sie nicht so recht, ob Wank nicht auch finde, daß neuerdings alles für schädlich erklärt werde, sogar der Randensalat? – Fest steht, sagte Wank, daß Sonnenbaden scharf macht. – Maya gab ihm ein Böxlein auf den Oberschenkel, er zündete eine Kerze an und schenkte nach. Sie hielt das Glas mit abgespreiztem kleinem Finger. War das Vorschrift? Stand es in einem Buch über Körpersprache? Wank fragte nach ihren Musikwünschen. Hast du den Bolero? – Logisch, sagte Wank vergnügt. Aber beim Finale erst, obwohl sie ihre Brille schon vorher abgelegt hatte, berührte er Maya. Sie sagte nein, und Wank war gekränkt und erleichtert. Er hatte doch nur einer sommernächtlichen Mechanik gehorcht, deren Ticktack er haßte. Daß Maya tick gemacht hatte, hätte er schwören können, umso verwirrender war ihr Verzicht auf sein Tack. Aber deswegen war er noch lange nicht trostbedürftig, wurde es erst, als sie sagte: Du, ich finde dich interessant. – Wirklich? sagte er und betonte das Wort so falsch, daß Maya, in der Annahme, er fühle sich geschmeichelt, den Satz wiederholte, den Wank, seit er gegen die Vierzig ging, häufiger zu hören bekam und immer als Todesurteil empfand. Ja wirklich, sagte sie, aber weißt du, bei mir ist das nicht gekoppelt mit Bett und so, eigentlich eher im Gegenteil. – Wank schaute sie an. Er hatte sie vor Jahren einmal gezeichnet und seither, obwohl er sie ab und zu traf, nicht mehr wahrgenommen. Ein Huhn mit bösen roten Augen möchte ich jetzt sehen, dachte er, aber Mayas Gesicht war gut. Was hast du? fragte sie. Nichts, sagte Wank, ich verstehe nichts. – Sie streichelte seinen Arm. Verstehst du das? – Nein, sagte er. Und das? fragte sie und drückte seine Hände an ihre Seidenbluse. Das noch weniger, sagte er und stand auf. Spinner, sagte sie weich. Katzenzeug! rief Wank.

Triebhaft aß er, als sie gegangen war, eine Büchse Sardinen. Er drehte das Radio auf, drehte es ab und rief Judith an. Ich habe ein paar Sardinen verzehrt, hast du mich lieb? – Traurig bin ich, sagte Judith. Warum denn? fragte er munter und schuldbewußt. Ich möchte nicht unbedingt eine allzeitbereite Frau sein, ich habe lange auf deinen Anruf gewartet und mich dafür geschämt. – Maya war da, sagte Wank. So? Einfach so? – Einfach so, aber sie ist mir zu braun. – Tröstlich, sagte Judith. – Und sie sieht immer mehr wie ein Huhn aus, ergänzte Wank. Gackert sie? fragte Judith. Nicht unbedingt, sagte er, aber sie hat ein ziemliches Überbein. – Moritz, ich höre durchs Telefon, daß du lügst, hast du mit ihr geschlafen? – Es wäre möglich gewesen. – Und jetzt bist du wahnsinnig stolz, weil du es nicht getan hast? – So also, dachte er, belohnt sie meine Treue. Ich habe gelogen, log Wank nach einer Pause, es ist leider passiert. – Ich hab es gespürt, sagte Judith.

Begrüßenswert schien ihm alles, was die Selbstverständlichkeit einer Zuneigung vorübergehend aufhob; andrerseits empfand er die Verrenkungen, die man von einem modernen Paar zwar nicht erwartete, aber gewohnt war, als närrisch. Schon das Wort »Beziehungsprobleme« bewog ihn dazu, keine zu haben, und wichtig war jetzt der Falter, der um die Glühbirne kreiste, trudelnd stürzte und vibrierend auf der Tischplatte liegen blieb. Gern hätte Wank gewußt, ob in diesem Wesen – es schimmerte – etwas vorging, etwas Nachvollziehbares, oder ob er sich abzufinden hatte mit einer sinnlos zuckenden Andersartigkeit. Nur sekundenlang dauerte Wanks Wunsch, den Falter zu malen: Was wäre der rotgoldene Seidenglanz auf der Leinwand mehr als die Verdoppelung des Unzugänglichen?

Das Leben sei ein Würfelspiel, summte der Balkon nebenan, und bevor Wank sich gestört fühlte, hatte er das Bedürfnis zu reklamieren. Er schloß nur das Fenster, nahm eine Zeitung und schlug zwei Fliegen tot. Ihre Aufgabe im Schöpfungsplan bestand so offenkundig darin, die Menschen zu belästigen, daß Wank eine Schonung immer nur für Augenblicke in Betracht zog. Ob die Pause zwischen Impuls und Tat durch eine Kindheitserinnerung erzwungen wurde oder diese erst ermöglichte, war ungewiß, jedenfalls hatte er sich als Kind oft mit der Hölle beschäftigt und dabei eine Zweigstelle für Fliegentöter nicht ausgeschlossen. Eine der Fliegen klebte an der Zeitung, und wo sich früher Schuldgefühle geregt hatten, war jetzt ein Ekel. Mit einem Zahnstocher schabte Wank die Fliege in den Aschenbecher, mit einem zweiten versuchte er, die Fleischfaser, die sich seit dem Mittagessen aufgedrängt hatte, aus dem Zwischenraum zweier Backenzähne zu entfernen. Die Spitze brach ab und blieb stecken. Am liebsten hätte er Judith unverzüglich über die wahre Qualität der sogenannten Medizinalzahnhölzer unterrichtet. Als Dentalhygienikerin mußte sie wissen, was sie ihren Patienten verkaufte. Aber erstens war Judith mit Sicherheit schon im Bett, zweitens bezog er die Hölzer gratis. Überhaupt war es im Moment nicht sinnvoll, die von Judith empfohlenen Zahnstocher zu beanstanden.

Er trank die Flasche leer, dann bereute er, Maya verjagt zu haben. Ob erst im Altersheim Ruhe einkehren würde? Wenn es nur Männer gäbe, überlegte Wank, hätten sie wahrscheinlich keinen Schwanz. Und was trügen sie? Hosen oder Röcke?

Im Bett legte er sich auf die Seite und zog die Knie so stark an, daß sie fast die Stirn berührten. Er war jetzt winzig. Seinen gekrümmten Körper empfand er als etwas Hasenhaftes. Daß er lebte, schien ihm belanglos und wunderbar.

Gegen fünf spülte Schnorf. Die Spülung weckte Wank. Er suchte die Toilette auf, spülte und wußte: auch Egloff im unteren Stock würde nun erwachen und das Nötige tun. Man hält vieles aus, man erträgt auch das andere Rauschen: eines Tages hatte sich die Randlage der städtischen Liegenschaft, in den dreißiger Jahren auf der Kuppe eines mageren Hügels erbaut, als Nachteil erwiesen, eines Tages floß am Fuß der ostwärts...


Werner, Markus
Markus Werner wurde 1944 in der Schweiz, in Eschlikon im Kanton Thurgau, geboren und starb 2016 in Schaffhausen. Er studierte in Zürich Germanistik, arbeitete bis 1990 als Lehrer und dann als freier Schriftsteller. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Er veröffentlichte die Romane ›Zündels Abgang‹, ›Froschnacht‹, ›Die kalte Schulter‹, ›Bis bald‹, ›Festland‹, ›Der ägyptische Heinrich‹ und ›Am Hang‹. Zu seinem Werk erschien der von Martin Ebel herausgegebene Band ›'Allein das Zögern ist human'‹.

Literaturpreise:

Joseph-Breitbach-Preis (2000)
Johann-Peter-Hebel-Preis (2002)
Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung (2005)
Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen (2006)
ProLitteris Preis 2016

Markus WernerMarkus Werner wurde 1944 in der Schweiz, in Eschlikon im Kanton Thurgau, geboren und starb 2016 in Schaffhausen. Er studierte in Zürich Germanistik, arbeitete bis 1990 als Lehrer und dann als freier Schriftsteller. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Er veröffentlichte die Romane ›Zündels Abgang‹, ›Froschnacht‹, ›Die kalte Schulter‹, ›Bis bald‹, ›Festland‹, ›Der ägyptische Heinrich‹ und ›Am Hang‹. Zu seinem Werk erschien der von Martin Ebel herausgegebene Band ›'Allein das Zögern ist human'‹.

Literaturpreise:

Joseph-Breitbach-Preis (2000)
Johann-Peter-Hebel-Preis (2002)
Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung (2005)
Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen (2006)
ProLitteris Preis 2016



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