E-Book, Deutsch, 278 Seiten
Werner Marie Marne und das Tor zur Nacht
1. Auflage 2015
ISBN: 978-87-11-44860-1
Verlag: SAGA Egmont
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 278 Seiten
ISBN: 978-87-11-44860-1
Verlag: SAGA Egmont
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Schlafen Sie nicht, wenn Sie müde sind! Schlafen Sie, wenn Sie Lust dazu haben!'Mit diesem Slogan wirbt eine mysteriöse New Yorker Firma. Wer schlafen für vergeudete Zeit hält, kann in ihren Filialen eine patentierte Brille aufsetzen und einen besonderen Traum träumen - danach bleibt er wach! Drei Tage, fünf Tage, zwei Wochen. Doch der ewige Tag verwandelt die Menschen. Bei Maries Vater geht etwas schief. Er bleibt in seinem Traum gefangen. Die Dreizehnjährige setzt Himmel und Hölle in Bewegung, um ihn zurückzuholen. Als Marie begreift, dass sie damit die ganze Welt in eine globale Katastrophe stürzt, versucht sie zu retten, was zu retten ist. Ein Albtraum! Mit jeder verstreichenden Minute wächst das Chaos auf der Erde.-
Christoph Werner, Jahrgang 1964, hat als Theaterregisseur in allen Genres gearbeitet. Tourneen durch Europa, Amerika und Asien haben ihn und seine Compagnie international bekannt gemacht. Er war Intendant des Schauspielhauses in Halle und Intendant des internationalen Festivals 'Theater der Welt'. Seit 19 Jahren leitet er das Puppentheater in Halle (Saale). Er veröffentlichte die Erzählbände Josefs Geschichte und Glücklicher Tod eines Rebellen. Christoph Werner lebt in Halle, ist verheiratet und hat drei Kinder.
Autoren/Hrsg.
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7. Kapitel
Wenn nicht vorne an der Ecke, dort wo der kleine Bäckerladen war, eine Straßenbahn vorbeigedonnert wäre, hätte man sich kaum vorstellen können, in einer Großstadt zu sein. Einfamilienhaus reihte sich an Einfamilienhaus, Wintergärten, Garagen, saubere Auffahrten und etwas zu originelle Briefkästen. Dann plötzlich die vierspurige Straße, Ampeln, Läden, zugeparkte Gehwege und die Straßenbahnhaltestelle, von der Marie wochentags immer in die Schule fuhr. Sie stellte ihr Fahrrad ab und betrat den Laden. Es duftete herrlich nach frisch gebackenen Brötchen. Gerade als sie die gebrochen deutsch sprechende Verkäuferin gebeten hatte, ihr fünf Doppelte zu geben, sagte plötzlich jemand neben ihr: „Wenn du mit deinem Vater sprechen willst, komm heute allein in die Klinik.“ Marie ließ das Geld fallen und fuhr herum. Neben ihr stand ein dünner großer Mann in einem schwarzen Anzug mit einem schwarzen Cowboyhut auf dem Kopf. Er hatte lange weiße Haare, die unter dem Hut hervorschauten. „Was?“, fragte sie. „Was haben Sie gerade über meinen Vater gesagt?“ Sie merkte, dass diese Frage laut und fordernd aus ihrem Mund kam, ohne dass sie das beabsichtigt hatte. Der schwarz gekleidete Mann sah sie nur kurz an, nickte und ging dann, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Marie starrte ihm nach. „Ich will wissen, was Sie gerade über meinen Vater gesagt haben“, rief sie, aber der Mann drehte sich nicht einmal um. Die Verkäuferin tippte auf den Zettel, auf den sie den Preis für die Brötchen geschrieben hatte. Marie sammelte das Geld auf dem Fußboden zusammen, legte es auf den Teller an der Kasse, nahm ihre Brötchen und rannte hinaus. Neben ihrem Fahrrad blieb sie stehen und sah sich um. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, im Radio hatten sie 30 Grad vorausgesagt. Wo war der schwarz gekleidete Mann? Woher war er gekommen, und wieso hatte Marie ihn nicht bemerkt, als sie den Laden betreten hatte? Und wohin war er jetzt verschwunden? Noch einmal schaute sie links und rechts die Straße entlang, dann bestieg sie ihr Fahrrad und fuhr los. Schon nach hundert Metern sah die Stadt nicht mehr städtisch, sondern dörflich aus. Marie hielt nach dem Mann Ausschau. Er konnte sein Auto irgendwo geparkt haben und damit weggefahren sein. Oder? Sie bremste und stieg vom Fahrrad. Ihr war gerade eingefallen, dass die Verkäuferin gar nicht auf den Mann reagiert hatte. Was, ja was, wenn er gar nicht dagewesen war? Was, wenn die Krankheit ihres Vaters, die niemand kannte, erblich oder ansteckend war? Vielleicht hatte es bei ihm auch so angefangen? Vielleicht hatte er am Anfang auch Menschen oder Dinge gesehen und gehört, die außer ihm niemand wahrnehmen konnte. Im Weiterfahren probierte Marie ihr Gedächtnis aus und versuchte, sich an alles Mögliche zu erinnern: An ihre Geburtstage, an ihre Hausaufgaben, an die Ergebnisse ihrer letzten Punktspiele. All das fiel ihr nicht schwer, aber was bedeutete das schon? Als sie nach Hause kam, stand die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern offen, ihre Mutter war also schon aufgestanden. Marie ging in die Küche und sah, dass Regine mit geröteten Augen am Tisch saß. Im Radio wurde irgendeine Messe übertragen. „Wir bitten dich, erhöre uns“, sagte die Gemeinde gerade. Marie wusste, dass sie ihrer Mutter nichts von dem Vorfall im Bäckerladen erzählen durfte. Seit Hannes in der Klinik lag, weinte Regine oft, sie sprach wenig und schlich, wenn sie zu Hause war, herum wie eine kranke Katze. Manchmal kam sie plötzlich ins Zimmer, gab Marie einen Kuss und ging wieder, einfach so, ohne etwas zu sagen. Sie frühstückten stumm, während im Radio gesungen und gepredigt wurde. Nur einmal fragte ihre Mutter, ob Marie sich heute verabredet habe. Marie schüttelte den Kopf. Später räumte sie den Tisch ab und duschte im Bad unterm Dach, während ihre Mutter das im Parterre benutzte. In Jeans und einem weißen Leinenhemd kam Regine ins Wohnzimmer. Ihr langes braunes Haar war noch nass, sie hatte sich nicht geschminkt. „Komm“, sagte sie, mehr nicht, nur dieses eine Wort: „Komm.“ Sie gingen denselben Weg, den Marie eben mit dem Fahrrad gekommen war, bis zur Haltestelle und fuhren mit der Bahn in die Klinik. Die Fahrt dauerte eine halbe Stunde. Marie sah aus dem Fenster. Sie dachte an ihren Vater, obwohl sie das nicht wollte. Sie dachte daran, dass er sie abends vor dem Schlafen immer angemalt hatte. Mit dem Finger war er ihr übers Gesicht gefahren und hatte so getan, als ob er sie anmalen würde, und sie hatte raten müssen, in was seine ausgedachten Farben sie verwandelt hatten. In eine Katze oder in einen Pirat oder in eine Hexe oder sonst etwas. Wie lange war das her? Wann hatte ihr Vater das letzte Mal an ihrem Bett gesessen? Wenn sie die Augen schloss, sah sie ihn zwischen Instrumenten und Mikrofonständern in seinem Tonstudio sitzen, versunken, mit geschlossenen Augen Gitarre spielend oder Klavier, die großen Kopfhörer auf dem Kopf. Oder im Technikraum, wo Hunderte von Lämpchen und Zeiger zuckten und eine verwirrende Anzahl von Reglern in unterschiedlichen Farben zu bedienen war. Hier in seinem Reich verbrachte er die meiste Zeit des Tages und oft auch die Nacht. Hier durfte er nicht gestört werden. Wenn Marie ihn besuchen wollte, musste sie warten, bis die grüne Lampe über der Tür anging, und die grüne Lampe über der Tür ging immer seltener an, seit ihr Vater vor vier Jahren den großen Durchbruch geschafft hatte. Seitdem arbeitete er ununterbrochen. Nicht mehr nur für Filme, deren Premieren in kleinen Programmkinos liefen, sondern für große Produktionen, bei denen Fernsehkameras und dreißig Journalisten vor dem roten Teppich warteten. Anfangs fand Marie es toll, ihren Vater zu den Premieren zu begleiten, aber jetzt waren es so viele. Hannes komponierte ununterbrochen. ADI-Träume zu kaufen war für ihn zur Selbstverständlichkeit geworden. Regine hatte ihm verboten, zwei Träume hintereinander zu haben, sie hatte sogar mit der Scheidung gedroht, als er nicht auf sie hören wollte. Die beiden hatten sich oft gestritten in letzter Zeit. Und jetzt? Jetzt war Hannes noch weiter fort. Viel weiter, vielleicht unendlich weit. Marie wollte nicht darüber nachdenken, ob sie ihn jemals wieder in seinem Studio würde sitzen sehen. Sie wollte diesen Gedanken nicht in ihre Nähe lassen, obwohl er wie ein Nebel über allem hing, was sie dachte. Die Klinik lag direkt an der Straßenbahnhaltestelle inmitten eines sehr schönen Parks. Wenn es keine Klinik gewesen wäre, hätte Marie diesen Ort gemocht. Hinter einem etwa zwei Meter hohen schmiedeeisernen Zaun führte eine Auffahrt einen Hügel hinauf. Dort oben war ein großes weißes Gebäude. In einem Zimmer dieses weißen Gebäudes saß seit acht Tagen Maries Vater und niemand konnte sagen, was ihm fehlte. Er konnte gehen und essen und singen und komisch lächeln, aber er sprach nicht, erkannte niemanden, konnte sich an nichts erinnern. Marie lief lustlos die Stufen zum Haupteingang hinauf. Sie ließ die Arme baumeln und schaute zu Boden. Sie wollte die große Eingangshalle nicht sehen, nicht das blank gewienerte Parkett, nicht das kunstvoll gedrechselte Geländer an den breiten Stufen, die zu den Zimmern führten, nicht den großen Kronleuchter und nicht die freundlich nickenden Schwestern und Ärzte. Eigentlich wollte sie auch ihren Vater nicht sehen, nicht, solange er in dieser Klinik war. Als sie in sein Zimmer kamen, drehte er sich nicht einmal zu ihnen um. Er saß auf dem Bett und schaute aus dem Fenster. Maries Mutter ging zu ihm, streichelte und küsste ihn. Marie blieb an der Tür stehen. Es war wie jedes Mal, wenn sie herkamen: Sobald sie ihren Vater sah, fing ihr Herz heftiger zu schlagen an. Es war unbelehrbar, dieses Herz, es wollte sich nicht daran gewöhnen, dass Hannes sie nicht erkannte. Dass er seine eigene Tochter nicht erkannte, seine Frau nicht, niemanden. Dass er nicht sprach, dass er wie abwesend war. Jedes Mal, wenn ihr Herz den ersten Freudensprung getan hatte, kam die Traurigkeit. Sie wollte ihn umarmen und wegrennen, aber nichts von all dem tat sie. Sie blieb an der Tür stehen, bis ihre Mutter sie heranwinkte, dann ging sie zu ihm und sah ihn an und ihr Herz krampfte sich zusammen. Er war so anders, so weit weg, obwohl er doch hier auf dem Bett saß und sie ihn anfassen konnte. Ihre Mutter zog ihn sanft am Arm und er folgte ihr, ohne sie anzusehen. Marie lief hinterher. Sie gingen in den Garten. Es war kurz nach dem Mittagessen, die meisten Besucher kamen später. Der Garten fiel sanft ab und endete an einer Mauer, hinter der die nächste Straße lag. Zuerst setzten sie sich auf eine Bank und schauten auf die Stadt. Wie viele Väter holten jetzt gerade das Auto aus der Garage oder die Fahrräder aus dem Keller? Wie viele glückliche Familien waren jetzt irgendwo da draußen unterwegs? Marie sah die Häuser, die Straßen, die Sonne, ein herrlicher Tag. Hannes fing wieder an, leise zu summen. Es war, als ob er ein Lied mitsang, das er hörte. Aber wo hörte er es? In seinem Kopf, im Weltall, wo? Hier war nirgendwo Musik, hier sang niemand außer den Vögeln in den Bäumen. Wo nur hörte er dieses Lied? Maries Mutter stand auf und ging zu einem der Ärzte, einem Mann mit grauem Haar, der gerade in der Tür gestanden und ihr zugenickt hatte. Die Ärzte wussten nicht, was Hannes fehlte, sie hatten sein Gehirn fotografiert, sie hatten einen Haufen bunter Bilder gemacht und sie angeschaut, aber auf den Bildern war alles in Ordnung. Hannes’ Kopf war nicht kaputt. Es gab keine Erklärung. Das war vielleicht das Schlimmste, dass es keine Erklärung gab, dass niemand sagen konnte, was mit ihm los war. Wie lange würde er so bleiben? Für immer oder nur bis nächste Woche? Niemand wusste, ob er nicht vielleicht eines Morgens einfach aufstehen, sich...