E-Book, Deutsch, 300 Seiten
Reihe: Piper Schicksalsvoll
Werrelmann Erzähl´ mir was Schönes
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-492-98627-4
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 300 Seiten
Reihe: Piper Schicksalsvoll
ISBN: 978-3-492-98627-4
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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FRÜHLING
Isabelle sitzt im Garten des großen Hauses und schaut Julia dabei zu, wie sie den Abendbrottisch abräumt. Sie tut das mit der ihr eigenen Umständlichkeit und braucht eine ganze Weile dafür. Isabelle kennt niemanden, der so umständlich ist wie Julia. Sie kennt aber auch niemanden, der so klug ist wie Julia. Und keinen, der ständig solche Angst hat.
Isabelle liebt Julia für ihre Umständlichkeit. Dieses Bemühen, alles richtig zu machen, und zugleich keine Ahnung zu haben, wie das gehen soll, hat sie von Anfang an gerührt. Sie liebt Julia auch für ihre Klugheit. Sie erinnert sie an ihren Vater. Und sie fürchtet sich vor ihrer Angst. Immer schon. Jetzt erst recht. Wo sie die Angst doch gerade abgeschafft hat.
Nur scheint es leider so, dass die ganze Angst, die Isabelle aus ihrem Leben verbannt hat, und das ist jede Menge, sich komplett bei Julia eingenistet hat. Sie sieht sie in ihren Augen, sie sieht sie in ihrem Gang, in jeder ihrer Bewegungen. Sie hört sie sogar aus ihr sprechen, obwohl Julia gar nicht über ihre Angst spricht. Das hat sie ihr nämlich verboten.
Nur dass die Angst trotzdem in fast jeder Silbe ist, die Julia sagt.
Jetzt zum Beispiel.
»Möchtest du eine Decke?«
Das ist so ein typischer Angst-Satz von Julia.
Tatsächlich wird es langsam kalt. Die Sonne ist schon eine Weile weg, von der Havel zieht es feucht herauf. Eine Decke könnte jetzt ganz gemütlich sein.
Aber Julia geht es nicht um die Gemütlichkeit. Es geht ihr um Isabelles Immunsystem, das nicht mehr existiert, und es geht ihr um die mögliche Erkältung, die Isabelle auf keinen Fall bekommen darf.
»Nein danke, liebe Juja«, antwortet Isabelle, »ich brauche keine Decke.«
Sie lässt eine kleine Pause hinter diesem Satz. Es ist ein Test. Ein Test, ob Julia diese Pause füllt. Mit einer Nachfrage. Ob sie wirklich keine Decke will?
Aber Julia sagt nichts. Sie lässt die Pause verstreichen und trägt die letzten Teller ins Haus.
»Okay«, ruft sie wenig später aus der Küche, »ich hole noch Wein, ja?«
Isabelle zuckt zusammen. Sie weiß genau, dass Julia ihr keinen Wein bringen will. Dass sie am liebsten von früh bis nachts gesunde Sachen für Isabelle kochen würde und grüne Smoothies mixen und rote Säfte pressen. Stattdessen holt sie noch mehr Wein.
Für einen Augenblick ist sie da, diese vermaledeite Angst. Julia holt ihr Wein. Als wenn es nichts mehr zu verlieren gäbe.
Dabei ist alles zu gewinnen. So hat Isabelle es beschlossen.
Und die Angst hat hier nichts zu suchen. Weg damit.
»Ja«, ruft sie zurück, »super!«
Sie sind am späten Nachmittag eingetroffen, Isabelle und die Kinder. Julia war etwas früher da. Sie hat am Bahnhof auf sie gewartet.
Julia war schrecklich aufgeregt. Dieser Moment, wenn Isabelle aus dem Zug steigt. Wie würde sie aussehen. Sie hatten sich so lange nicht gesehen. Und Julia konnte sich schlicht nicht vorstellen, was die letzten Monate mit Isabelle gemacht hatten. Mit ihrer schönen, strahlenden Freundin Isabelle. Wie würde sie aussehen. Nach allem.
Julia hatte sich ein wenig gefürchtet.
Doch als Isabelle aus dem Zug steigt, sieht sie kein bisschen zum Fürchten aus. Ganz im Gegenteil. Sie sieht aus wie ein Model. Isabelle, die immer schon schlank war, ist nun das, was man gertenschlank nennt. Fast mager. Und weil sie ihre Jeans in hohe Stiefel gesteckt hat, scheinen ihre eh schon langen Beine nahezu endlos. Sie trägt eine bunt bedruckte Bluse. Auf dem Kopf hat sie, natürlich, eine Mütze. Eine weiße Häkelmütze. Darunter, Julia traut ihren Augen kaum, schauen dichte blonde Strähnen hervor. Sie umspielen Isabelles Gesicht, das braun gebrannt ist, ihren Mund, ihre Augen. Isabelle sieht fantastisch aus. Und sie lacht aus vollem Halse.
»Juja!«, ruft sie, sie lässt die Koffer mitten auf dem Bahnsteig fallen, läuft los, läuft in Julias ausgestreckte Arme, wirbelt sie herum, mit einer Kraft, die Julia den Atem raubt, drückt sie an sich, hält sie.
»Juja!«
Und Julia vergräbt ihr Gesicht an Isabelles Schulter, die muskulös ist und nach Eternity riecht, sie schluckt, aber sie weint nicht.
»Isabelle!«, flüstert sie.
Den Weg zum Haus gehen sie zu Fuß. Die Verwalterin hat gesagt, es sei gleich um die Ecke. Was nicht stimmt. Julia ärgert sich, aber sie lässt es sich nicht anmerken. Auf gar keinen Fall. Isabelle und die beiden Mädchen schleppen ihre Sachen, und das Haus kommt und kommt nicht in Sicht. Sie schleppen ihr Gepäck über den staubigen Weg, nicht einmal Bürgersteige gibt es hier, vorbei an grauen, geduckten Häusern mit fleckigen Wänden und aufgesprungenen Fensterrahmen. Es ist ungewöhnlich heiß dafür, dass gerade erst Pfingsten ist, bestimmt dreißig Grad, und Julia spürt, wie ihr der Schweiß den Rücken herunterrinnt. Isabelle muss auch schrecklich heiß sein, sie hat ein ganz rotes Gesicht bekommen. Doch sie sagt nichts. Natürlich nicht.
Sie schleppen ihr Gepäck über den staubigen Weg, und sie begegnen niemandem, außer zwei Gänsen, die die Mädchen leise schnatternd in die Mitte nehmen. Wie sich später herausstellen wird, könnten sie eh kein Taxi rufen. Es gibt keine Taxis, sie müssten aus Brandenburg an der Havel extra herausfahren. Sie lassen sich die Hin- und die Rückfahrt bezahlen. Und für kurze Strecken kommen sie erst gar nicht.
Isabelle staunt. »Da würden die in Bayern nie draufkommen!«
Julia senkt den Blick.
Sie hat diesen Urlaub organisiert, sie zahlt die Miete für das Haus, für das Boot, und all das ist so läppisch, dass sie sich ein bisschen schämt. Sie hätten nach New York fliegen sollen oder nach Mexiko, doch allein der Gedanke an eine solche Reise hat in Julia eine so große Besorgnis ausgelöst, dass sie nun in diesem winzigen Ort bei Brandenburg an der Havel sind, wo es scheinbar nur diese eine staubige Straße gibt und heruntergekommene, verlassen wirkende Häuser und keine Menschenseele weit und breit.
Doch dann ist die Straße plötzlich geteert, es gibt Parkbuchten rechts und links, die Farbe auf der Fahrbahn scheint so frisch, als sei sie gerade erst aufgetragen. Direkt an den Parkbuchten mannshohe Zäune, dahinter Bäume und Sträucher, dicht an dicht. Über all dem Grün blitzt ab und zu ein Stückchen rote Mauer hervor, ein Erker, ein steiles Dach. Eine Villa neben der anderen, gut versteckt vor neugierigen Blicken. Und dahinter, sie sehen es nicht, aber Julia kann es nun riechen, das Wasser.
Es ist ihr erster Abend, und die Mädchen sind schon im Bett. Zumindest tun sie so. Das blaue Licht des iPads hinter dem großen runden Fenster verrät sie. Und das leise Kichern, das immer wieder zu ihnen herausdringt. Ansonsten ist es völlig still. Bis auf das sanfte Plätschern der Havel, die breit und behäbig am Garten vorbeifließt.
»Weißt du was, Juja?« Isabelle räkelt sich in ihrem Liegestuhl und wünscht sich nun sehr, sie hätte eine Decke, aber das sagt sie nicht.
»Hm.«
»Das hast du wirklich super ausgesucht.«
»Hm.«
Sie haben Wein getrunken, anderthalb Flaschen, und Julia, die sich in den letzten Monaten das Weintrinken verboten hatte, fühlt sich wunderbar leicht nun und zugleich ein wenig schwer und vor allem sehr, sehr wohlig. Sie haben die Liegestühle nebeneinandergerückt und schauen aufs Wasser. Direkt vor dem großen Haus hat ein riesiger Dampfer festgemacht. Sie können in die hell erleuchtete Kombüse sehen, wo der Schiffer an einem Tisch sitzt und ein Stück von einer großen Wurst abschneidet. Er legt sie auf eine Scheibe Brot, beißt hinein. Dann macht er sich eine Flasche Bier auf. Er ist so nah, Julia glaubt, das leise Plopp zu hören.
Hinter ihm schieben sich weitere Dampfer die Havel hinunter, lautlose Riesen.
»Weißt du noch«, Isabelle hat sich ein wenig zu Julia umgedreht, »das wollten wir auch mal machen. Bis nach Amsterdam. Auf einem Frachtschiff mitfahren. Gegen Kost und Logis.«
»Du wolltest das machen, du verrückte Nuss.« Julia pufft Isabelle sanft in die Seite. »Ich wäre niemals mitgekommen.«
»Wärst du doch.«
»Wäre ich nicht.«
»Doch.«
»Niemals.«
»Ich hätte dich schon überzeugt.« Isabelle lacht. »Ganz bestimmt.«
Julia denkt nach. Vielleicht. Vielleicht hätte Isabelle sie überzeugt.
»Hm«, sagt sie.
»Sag ich’s doch!«
In Wahrheit, denkt Julia bei sich, wäre Isabelle nur ihretwegen auf einem Frachtschiff nach Amsterdam gefahren. Weil Julia immer so gerne nach Amsterdam wollte. Und weil sie keinen Pfennig Geld übrig hatte für so eine Reise. Nicht für eine Bahnkarte und erst recht nicht für eine Unterkunft, wenn sie getrampt wären. Das hatte Isabelle auf die Idee gebracht, auf einem Frachtschiff anzuheuern. Wo Isabelle doch ohne Weiteres auf einem Kreuzfahrtschiff nach Amsterdam hätte reisen können, mit allem Pipapo. Isabelle wäre mit dem Frachtschiff gefahren. Wegen Julia.
»Weißt du was«, nun ist es Julia, die sich zu Isabelle umdreht, »wir fahren nach Amsterdam. Im Sommer. Wenn Matilda Ferien hat.«
»Auf einem Frachtschiff?«
»Himmel, nein!«
Isabelle lacht, und Julia, die immer noch zu spät bemerkt, wenn Isabelle sie veräppelt, knufft sie noch einmal in die Seite.
»Menno«, sagt sie, »mit der Bahn. Oder mit dem Auto. Oder mit einem dieser Flusskreuzfahrtschiffe. Wie du willst.«
»Juja, das ist eine super Idee. Das machen wir.«
Isabelle streicht Julia sanft mit der Hand über den Arm. Dann lehnt sie sich im Liegestuhl zurück. Schaut in den sternenlosen Himmel, übers Wasser.
Das Licht auf dem Frachter erlischt. Der Schiffer hat sich schlafen gelegt.
Wenig später liegt Julia in dem weichen Bett, das nach Lavendel duftet. Über...




