E-Book, Deutsch, 258 Seiten
Werz Lateinamerika
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-17-031336-1
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geschichte und Gegenwart
E-Book, Deutsch, 258 Seiten
ISBN: 978-3-17-031336-1
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Geschichte Lateinamerikas in der Moderne verlief spektakulär und voller Dynamik: Aufstände gegen die Kolonialmächte, die frühe Gründung von Nationalstaaten, die Herrschaft autokratischer Anführer und Militärs, Revolutionen und Guerillabewegungen sowie eine immer wieder von Rückschlägen bedrohte Demokratisierung.
Nikolaus Werz zeichnet nicht nur diese ereignisreiche politische Geschichte nach, sondern zeigt darüber hinaus die Entwicklungen Lateinamerikas in verschiedenen Bereichen, wie etwa der Wirtschaft, Religion und Kultur, auf. Aktuelle Phänomene wie Populismus, Staatskrisen oder Drogengewalt werden in einen allgemeinen historischen und globalen Kontext verortet.
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2 Frühe Unabhängigkeit, unvollendete Staaten: die große Geste der Befreier
Die spanische Kolonialherrschaft und ihre Nachwirkungen
Waren es Kolonien? Bis ins 18. Jahrhundert wurde der Begriff colonia nie amtlich verwendet, die offizielle Formel lautete Los Reinos de las Indias, d. h. die indischen Königreiche. 1681 erschien die Recopilación de Leyes de los Reinos de las Indias, was auf ein indisches Recht hinauslaufen sollte, womit amerikanisches Recht und nicht Indianerrecht gemeint war. Deswegen wurde sogar von spanischer Seite behauptet, die Gebiete in Hispanoamerika seien niemals Kolonien gewesen, was allerdings der gewaltsamen Unterwerfung und realen Ausbeutung keineswegs entspricht. Zunächst fand der gesamte Austausch mit Amerika zwangsweise über Sevilla statt, 1717 wurde er u. a. aufgrund der nunmehr vorhandenen größeren Schiffe und des direkten Meerzuganges nach Cádiz verlegt.1 Nach der Entdeckung/Eroberung Amerikas durch Kolumbus, der zunächst bei der portugiesischen Krone um eine Finanzierung seiner »Indien-Fahrt« nachgefragt hatte und erst danach in spanische Dienste trat, einigten sich Spanien und Portugal im Jahr 1494 in dem Vertrag von Tordesillas auf eine Trennungslinie der Herrschaftssphären ungefähr am 46. Grad westlicher Länge: Alles, was östlich der Linie lag, sollte portugiesisch sein und alles, was westlich der Linie lag, sollte spanisch bzw. kastilisch sein. Eine Kolonisation des portugiesischen Amerika setzte erst im 16. Jahrhundert ein, Brasilien wurde in Kapitanien eingeteilt. Die Spanier nannten die Gebiete Vizekönigreiche, die beiden ersten entsprachen den Imperien der Azteken (1535 Vizekönigreich Neuspanien, d. h. Mexiko) und der Inkas (1542 Vizekönigreich Peru), die Vizekönige galten als Vertreter des Königs. »Ist ein Peru wert – Vale un Perú«, hieß es in Spanien für alles Schätzenswerte mit Blick auf die sagenhaften Reichtümer in dem gleichnamigen Vizekönigreich. Die reale Regierung der spanischen Territorien erfolgte entlang der Einteilung in Gouvernements, Generalkapitanaten und audiencias. An der Spitze der zivilen Verwaltung stand der Gouverneur, die Generalkapitäne hatten den militärischen Oberbefehl und die audiencias bildeten die oberste rechtliche Instanz. Auf der Munizipalebene erhoben die corregidores als staatliche Beamte u. a. die Indianertribute. Die Rechtsprechung wurde von den Stadträten (cabildos) ausgeübt. 1739 wurde zusätzlich das Vizekönigreich Neugranada eingerichtet, das die heutigen Staaten Ecuador, Panama, Kolumbien und Venezuela umfasste. Außerdem erhob es Anspruch auf die vom Königreich England beherrschte Miskitoküste in Nicaragua, was auch mit der Sicherung der Landenge von Panama zu tun hatte. 1776 folgte das Vizekönigreich Río de la Plata im Süden des Halbkontinentes, es umfasste grob die Staaten Argentinien, Bolivien, Paraguay, Uruguay und einen Streifen im Norden Chiles, wobei gerade dort nur ein Teil des Landes effektiv kontrolliert wurde, da die indigene Gruppe der Mapuches einen langanhaltenden Widerstand leistete. Einige Konquistadoren wie der Eroberer Mexikos Hernán Cortés verbrannten nach der Landung ihre Schiffe, um einen Rückzug zu verhindern. Sie drangen in die Tiefe der Länder vor und strebten nach encomiendas – Übertragungen bzw. Besitzungen, die im Falle von Cortés fast 100 000 Indigene umfasst haben sollen, die wie Sklaven ausgebeutet wurden. In Ländern wie Mexiko entstanden aus den encomiendas später die haciendas, d. h. Großgrundbesitzungen, die nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine politische Organisationsform darstellten. Andere Formen der Ausbeutung und Besitzergreifung waren die mita, d. h. die Verpflichtung zum Silberbergbau. Die Pflicht zu Tributen und Arbeitsleistungen bestand bereits zuvor, sodass an vorspanische Strukturen angeknüpft wurde. »Erste Eroberer« nannte man die Konquistadoren, die an der Einnahme eines Gebietes beteiligt waren. Als typische Konquistadoren galten 20- bis 35-jährige Männer aus dem Südwesten Spaniens, sie waren christlichen Glaubens und meist keine ausgebildeten Krieger. Ihr persönliches Ziel war es, in Amerika zu Reichtum und Ansehen zu gelangen. Die meisten besaßen kein Pferd, sondern waren zu Fuß unterwegs. Neuere Studien betonen den finanziellen Eigenanteil und die Rolle ihrer indigenen Verbündeten bei den Eroberungen.2 Die Azteken und Inkas hatten andere Völker in einem zentralistischen System unterworfen und unterdrückt, was deren schnelle Bereitschaft erklären kann, sich den Ankömmlingen aus Europa anzuschließen. Deshalb unterlagen die beiden indianischen Großreiche den spanischen Eroberern am schnellsten, während die Indigenen in den schwächer besiedelten Gebieten länger Widerstand leisteten. Die Spanier, die gar nicht das demographische Potential zur Besiedlung des enormen Gebietes besaßen, erkannten gewisse Rechte der indianischen Führungsschichten und Kaziken an, um sie so in die Herrschaftsausübung zu integrieren.3 Die Kaziken nahmen eine politische und kulturelle Mittlerposition ein. Die spanische Kolonialverwaltung versuchte, die Konquistadoren, die in der Anfangsphase relativ frei agieren konnten, in der Folgezeit zu kontrollieren. So entstand ein auf den ersten Blick hochgradig bürokratisches System, allerdings wurde sein Funktionieren durch den Ämterkauf und die geographische Distanz zu Spanien konterkariert. Der Weiterverkauf von Ämtern sorgte allerdings für einen gewissen Ausgleich zwischen den Spaniern und den Kreolen, d. h. die in Amerika geborenen Nachfahren der Spanier, die eine gesellschaftliche Position für sich reklamierten. Als die Bourbonen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit einem Reformprogramm diese Praxis mit der Einführung des Intendantensystems 1764 rückgängig machen wollten und damit wieder den Einfluss der »Eurospanier« (peninsulares) erhöhten, führte dies zu Reaktionen, die später in die Unabhängigkeitsbewegungen einflossen.4 Ein wichtiges Merkmal der Kolonialherrschaft war die städtische Besiedlung. Im Unterschied zu den vorangegangenen Hochkulturen mit ihrem Sitz in den höher gelegenen Gebieten verlegten die Spanier die Hauptstädte meist ans Meer. Zum zentralen Ort wurde der Marktplatz, wo die Kirche stand und die weltliche Macht präsent war. Nach der Unabhängigkeit von Spanien erhielten sie vielfach die Namen der Befreier, wovon zahllose Bolívar-Plätze oder die Plaza de Mayo in Buenos Aires zeugen, die auf die Mairevolution der argentinischen Unabhängigkeitsbewegung Bezug nimmt. In den USA fehlte diese Siedlungsform, dort war es eine Straße, die mainstreet oder ein broadway, die zur Strukturierung einer Ortschaft beitrug. Sehr viel früher als in Nordamerika entstanden in Lateinamerika kulturelle Einrichtungen und Universitäten. 1538 erhielten Dominikanermönche in Santo Domingo die Erlaubnis, eine nach Thomas von Aquin benannte Universität zu gründen, 1551 folgten Mexiko-Stadt und 1553 Lima. Schon um 1700 gab es 19 Universitäten im spanischsprachigen Amerika, die von religiösen Orden betrieben wurden. Wesentlich langsamer verlief die Entwicklung im portugiesischsprachigen Gebiet, die künftigen Eliten studierten meist an der Universität Coímbra in Portugal. Nach Angaben von Wolfgang Reinhard kamen von 1493 bis 1822 mindestens 15 097 Ordensleute als Missionare nach Amerika, eine scheinbar geringe Zahl angesichts ihrer Wirkung.5 Dies entsprach der insgesamt kleinen Zahl der Spanier im späteren Lateinamerika: Mitte des 16. Jahrhunderts lebten nach Schätzungen in Neu-Spanien (Mexiko) ca. 60 000 Spanier, d. h. gerade 0,5 Prozent, ein Jahrhundert später waren es selbst nach dem Massensterben der Indigenen als Folge der eingeschleppten endemischen Krankheiten und des Arbeitszwanges nur ca. 10 Prozent. Im Unterschied zu den englischen und holländischen Kolonien kam es zu einer Mischung mit der einheimischen Bevölkerung, was Autoren mit einer iberoamerikanischen Perspektive herausstreichen. Deshalb stimmt die Aussage, Nordamerika sei besiedelt, Lateinamerika hingegen erobert worden, nur partiell. Der in Lateinamerika seit der mexikanischen Revolution von der dortigen Kulturpolitik und darüber hinaus verstärkt verwendete Begriff des mestizaje (Mestizierung), mit dem schon während der Kolonialzeit eine Auflockerung des Kastensystems erfolgte, wird im Zuge eines neuen Indigenismus kritisch hinterfragt. Die Vorstellung einer Vermischung der unterschiedlichen Ethnien und Kulturen dominierte aber über weite Teile des 20. Jahrhunderts und gehört zum Selbstverständnis vieler lateinamerikanischer Politiker und Akademiker. Die indianische Führungsschicht wurde nach dem gewaltsamen Zusammenstoß während der...