E-Book, Deutsch, 256 Seiten
West Die Job-Therapie
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-96267-649-0
Verlag: REDLINE
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie man herausfindet, was einen bei der Arbeit glücklich macht, und den passenden Job dazu findet. Psychologische Tipps für Zufriedenheit im Berufsleben
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-96267-649-0
Verlag: REDLINE
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tessa West ist Professorin für Psychologie an der New York University und führende Expertin auf dem Gebiet der Wissenschaft von sozialen Beziehungen. Sie hat über 100 wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht und schreibt regelmäßig für das »Wall Street Journal«. Über ihre Arbeit wurde u. a. in der »New York Times«, »Financial Times«, »The Guardian« und »CNN« berichtet.
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Die Identitätskrise
Ich dachte, dieser Beruf wäre etwas für mich, aber jetzt habe ich Zweifel
Ich setzte mich mit Timothy zusammen, einem Technologieexperten, der seit acht Jahren im selben Unternehmen tätig war. Zur Vorbereitung auf dieses Interview hatte ich ihm gesagt, dass er meiner Meinung nach perfekt geeignet wäre für das Kapitel »Identitätskrise« – jemand, der jahrelang seine beruflichen Fähigkeiten perfektioniert hat, seiner beruflichen Situation jedoch ambivalent gegenübersteht und manchmal überlegt, diese zu verändern.
Aber kaum hatten wir unser Gespräch begonnen, da stellte ich bereits mein Urteilsvermögen infrage, denn er erklärte mir gleich zu Beginn: »Ich weiß, worum es in diesem Kapitel geht, aber ich bin dafür nicht der richtige Gesprächspartner.
Schon seit der Highschool bin ich für Leute der Ansprechpartner, wenn es um technische Fragen geht«, fuhr er fort und fügte mit Begeisterung in der Stimme hinzu, dass »Technologie die Grundlage für jede Funktion der Gesellschaft ist«.
Wenn Timothy meine Annahme erschüttern wollte, dass er seiner Tätigkeit nicht mehr mit Begeisterung nachgehe, dann machte er das ziemlich gut. Außerdem gab es da noch das kleine Problem, dass er gar nicht daran dachte, in nächster Zeit seinen Job zu kündigen.
Aber im Laufe unseres 45-minütigen Gesprächs wuchs meine Überzeugung, dass Tim sehr wohl seine Identität hinterfragte. In seinen Äußerungen zeigte sich eine Ambivalenz, die geradezu perfekt die Komplexität von jemandem widerspiegelt, der beruflich in einer Identitätskrise steckt. Menschen wie er erleben ihr verändertes Engagement im Beruf nicht als harten Schnitt – das heißt, sie sind nicht an einem Tag Workaholics und am nächsten Tag haben sie innerlich gekündigt. Sie lieben und hassen ihren Job – oftmals gleichzeitig. Ihre Gefühle sind widersprüchlich, und es dauert oft lange, bis sie sich entwirren oder verarbeiten lassen.
Bei Tim entsprang diese Gefühlsverwirrung größtenteils der Beziehung, die er zu seinem Unternehmen hat. Wie in vielen Organisationen hatte sich auch in Tims Büro ein subtiles Unwohlsein wie ein Virus ausgebreitet. Die Mitarbeiter arbeiteten immer öfter von zu Hause, aber in Tims Bereich kann die Arbeit nicht vollständig vom Homeoffice aus erledigt werden (die Technik in den Konferenzräumen musste persönlich eingerichtet werden – es musste jemand physisch vor Ort sein, zum Beispiel um Kabel anzuschließen und die Software zu überprüfen). Infolgedessen wurden Fehler gemacht und viele Leute kündigten oder wurden entlassen. Tim, der stolz darauf ist, sich nie mit diesem Virus angesteckt zu haben, wechselte in eine andere Abteilung und suchte nach neuen Herausforderungen. Er wollte mit Kollegen zusammenarbeiten, die mit Engagement an den Arbeitsplatz kamen. Oder zumindest bereit waren, überhaupt am Arbeitsplatz zu erscheinen.
Aber in dieser anderen Abteilung, die in einem anderen Gebäude untergebracht war, stieß er auf noch mehr Unzufriedenheit und Mitarbeiter, die noch weniger motiviert waren. Allmählich dämmerte ihm, dass möglicherweise alle IT-Bereiche so waren – dass die Ära der engagierten Technologieexperten schon lange der Vergangenheit angehörte.
Ich entdeckte erste Anzeichen dafür, dass er sich fragte, inwiefern diese Realität möglicherweise seine Identität als Mensch beeinflusste, der einen Job im Bereich Technologie liebt. Beiläufig erwähnte er die Möglichkeit, in einen anderen Bundesstaat umzuziehen und im Hochschulbereich zu arbeiten (wofür er erst einmal selbst wieder die Schulbank drücken müsste). Aber als ich ihn darauf ansprach, wie ernst es ihm mit einem Berufswechsel war, winkte er ab und antwortete: »Das ist etwas für später, wenn ich viel älter bin.«
Während unseres Gesprächs beobachtete ich, wie Tim zwischen dem Traum von einer anderen Karriere und dem Aufstieg in seiner jetzigen hin und her schwankte – zwischen einem kompletten Neuanfang und der großen Beförderung, von der er immer geträumt hat. Aus meiner Sicht steckt Tim in der Anfangsphase einer Identitätskrise. Es zeigen sich erste Risse, aber noch ist nichts zerbrochen. Noch gibt es genug gute Tage, die ihn in seinem Job halten. Aber letztlich fragt er sich doch, ob der Job in der Technologiebranche, auf den er immer so stolz war, noch das Richtige für ihn ist.
Andere Personen, mit denen ich gesprochen habe, sind auf bereits sehr viel weiter auf ihrem Weg. Susan, eine Professorin, die zur UX-Forscherin wurde, hatte einige Jahre zuvor eine ähnliche Erfahrung wie Timothy gemacht und entschloss sich dann zu einem entscheidenden Karriereschritt. Sie hatte eine Festanstellung an einer Universität und war voll und ganz von ihrer akademischen Laufbahn überzeugt.
Aber während der Pandemie veränderte sich ihr Job so gravierend, dass sie ihn kaum wiedererkannte. Die Rezession führte zu Entlassungen und unerwünschten Veränderungen, die in der Hierarchie von oben nach unten weitergegeben wurden, einschließlich der Entscheidung, wer die Kurse hielt, die sie bislang gehalten hatte. Und mit den sich ändernden Standards ging eine überraschende Veränderung in ihr selbst einher: Sie verlor das Vertrauen in ihre beruflichen Fähigkeiten. Wie sehr sie sich auch anstrengte, es schien keine Rolle zu spielen. Obwohl sie ihr ganzes Leben lang eine Top-Performerin war, begann der Rückzug um sie herum ihr Selbstvertrauen zu untergraben. »Ich verlor mein Selbstwertgefühl, obwohl ich in meinem Leben viel erreicht hatte und stolz auf meinen bisherigen Werdegang war«, erzählte sie mir. Durch Susan erkannte ich, dass man im Job nicht unbedingt versagen muss, um in eine berufliche Identitätskrise zu geraten. Viele Berufswechsler wie Susan und Timothy leisten gute Arbeit, doch sie wird entweder von anderen nicht anerkannt, oder die Anerkennung gibt ihnen kein gutes Gefühl mehr. Die Dopaminschübe bleiben aus.
Nachdem sie nicht mehr das Gefühl hatte, dass die Professur ein wichtiger Teil ihrer Identität war – ein Prozess, der Zeit und viel Networking erforderte, um ihn zu durchschauen –, ging Susan methodisch an ihren beruflichen Wandel heran. Tatsächlich sind viele der Schritte, die ich Ihnen empfehle, durch Susans Weg inspiriert. Sie investierte Zeit, um sich mit Menschen außerhalb ihres Berufs als Akademikerin zu vernetzen, und lernte, wie sie ihre Fähigkeiten auf neue, für sie oftmals überraschende Weise einbringen konnte. So erfuhr sie beispielsweise, wie und wann sie wie ein Insider sprechen sollte, was ihr half, ihre neue berufliche Identität zu entwickeln. Und sie lernte, welche Jargon-Ausdrücke und Akronyme für ihren Lebenslauf angemessen waren. Dieses scheinbar geringfügige neue Wissen summierte sich und schließlich bekam Susan ihren Traumjob.
Die berufliche Identitätskrise – was ist das?
In diesem Kapitel geht es nicht um Menschen, die Bedenken haben, sich einem bestimmten Beruf oder Job zu verschreiben, oder Personen, denen ein paar Schlenker auf ihrer Suche nach dem richtigen Beruf oder Job nichts ausmachen. Es geht vielmehr um Menschen, die jahrelang ihr Herz an einen bestimmten Beruf oder Job gehängt haben – Menschen, die sich über diesen Beruf definieren, und die diesen Beruf auch nicht aus einer Laune heraus einfach ablegen würden. Sie haben ihre Identität auf ihrer Funktion oder ihrem Titel aufgebaut. Viele von ihnen sind in ihrer Karriere schon so weit fortgeschritten, dass sie den Ausleseprozess im Anfangsstadium ihrer Tätigkeit bereits überstanden haben, und einige, wie Susan und Timothy, verfügen über beneidenswerte Fähigkeiten. Sie haben bereits die oberen Sprossen ihrer Karriereleiter erklommen, doch dann kommen ihnen allmählich Zweifel.
Die Entscheidung zu kündigen, fällt schwer und ist möglicherweise die größte Hürde, über die ich in diesem Buch spreche. Sie kann sich auf Ihre Beziehungen außerhalb des Jobs auswirken, vor allem, wenn Sie eine gut bezahlte Stelle haben, die nicht nur Ihnen, sondern zum Beispiel auch Ihrer Familie den Lebensunterhalt sichert. Susan bekam Gegenwind von ihren Eltern, Einwanderer, die sich jahrzehntelang dafür aufgeopfert hatten, dass ihre Kinder Chancen bekamen, die sie selbst nicht hatten. Sie waren schockiert, dass Susan ihr gesichertes festes Einkommen aufgeben wollte. Eine andere Person, die sich in einer Übergangsphase befand, erzählte mir, dass ihr Partner ihr vorwarf, »unverantwortlich und egoistisch« zu sein. Durch den Job ihres Partners konnte sie ihr Studiendarlehen zurückzahlen und sie waren gerade erst damit fertiggeworden. »Aber ich konnte diese quälende Frage in meinem Hinterkopf nicht zum Schweigen bringen: ›Ist es wirklich das, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen will?‹«, sagte sie mir. Diese existenzielle Krise wurde so unerträglich, dass sie kündigte, noch bevor sie einen neuen Job fand.
Ich sprach mit Dutzenden Personen, die unter einer beruflichen Identitätskrise litten. Einige von ihnen hatten so große Angst, mit einer Kündigung einen Fehler zu begehen, dass sie stattdessen viele Stunden mit »Job-Lurking« verbrachten: Die meisten folgten einem dreistufigen Prozess: Sie scrollten die Stellenanzeigen durch und stießen auf »ihren Traumjob«, eruierten, wer diesen Job schließlich bekam, und verfolgten dann die Person online, um mehr über ihre Qualifikationen und ihren beruflichen Werdegang zu erfahren. Nur wenige wagten tatsächlich den nächsten Schritt und nahmen Kontakt zu dieser...