E-Book, Deutsch, 373 Seiten
White Das Familiengrab
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95824-772-7
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 373 Seiten
ISBN: 978-3-95824-772-7
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Gillian White stammt aus Liverpool und arbeitete mehrere Jahre als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Mit ihrem Mann und zwei Hunden lebt sie in Totnes, Devon. Vier ihrer Romane wurden vom britischen Fernsehen erfolgreich verfilmt. Bei dotbooks veröffentlichte Gillian White ihre Spannungsromane »Denn du bist mein«, »Hexenwiege«, »Ein unheimlicher Gast«, »Der Peststein«, »Der Fluch der alten Dame«, »Du kannst uns nicht entkommen«, »Die Einsamkeit der Lüge«, »Der Nachmieter«, »Das Ginsterhaus«, »Das Familiengrab« und »Das Hotel bei den Klippen«. Die letzten drei Romane sind auch im Sammelband erhältlich.
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1. Kapitel
Ihr war sofort klar, wer das Baby angezündet hatte. Acht Wochen war es erst alt gewesen. Ein winziges, neugeborenes Baby. Die graukörnigen Bilder der Überwachungskameras zwei Läden entfernt von Clinton Cards brauchte sie sich nicht anzusehen, diese Aufnahmen von den Jungs, die die High Street hinunterrannten, zwischen den Bussen durchschossen, den einzigen Fahrzeugen, die in dieser Fußgängerzone zugelassen waren.
Kennen Sie das Gefühl, im Meer zu schwimmen und plötzlich bricht über Ihnen eine riesige Welle zusammen, zieht Sie hinunter auf den Grund und Sie haben gerade noch Zeit für den einen Gedanken – nämlich dass Sie sterben? Genau dieses Gefühl hatte Shelley, als sie ihren Sohn in den Nachrichten sah. Und während diese Erkenntnis sie unter sich begrub, wunderte sie sich darüber, welche albernen Kapriolen der Verstand in solchen wesentlichen Momenten des Lebens schlägt – nur ein einziger Gedanke raste nämlich durch ihren Kopf: Wo zum Teufel hatte dieser Mistkerl denn dieses Mal schon wieder seine blaue Jacke gelassen?
Dem Rest der Meldung versperrte sich Shelley, nur ein, zwei Wörter sprangen sie an wie Wölfe, Wörter wie Paraffin und eine weinende Mutter, Intensivstation und ein silbernes Zippo-Feuerzeug mit einem eingravierten Löwen, das von einem Passanten am Tatort gefunden und bei der Polizei abgegeben worden war. Starr vor Schock zog sie an ihrer Zigarette. Oben hörte sie ihr Baby schreien. Joey teilte sich mit Julie ein Zimmer. Wahrscheinlich kam er gleich runter, vom Schlaf zerzaust und sich die Augen reibend, Kindermörder und Unschuldsengel zugleich.
Später würde Shelley Zeit finden, darüber nachzugrübeln, ob sie wohl die einzige Mutter war, die sich vor zwei Dingen am meisten fürchtete: ihrem eigenen Kind könne etwas zustoßen oder ihr Kind könne eines Tages einem anderen ein Leid zufügen. Letzteres nicht etwa, weil dieses Kind besonders missraten schien, sondern weil sie sich einfach manchmal vorstellte, was für dunkle Seiten in ihrem Sohn schlummerten. Joey hatte nämlich die besten Voraussetzungen. Sosehr ihn Shelley liebte, der arme Teufel hatte eine denkbar schlechte Ausgangslage für eine glückliche Zukunft: zu viele Dads, zu viele Umzüge, zu viele Schulen, zu viel schief gelaufen. Wer normal ist und angepasst, der rennt nicht herum und Verbrennt Babys.
Verbrennt Babys.
Verbrennt Babys, die erst acht Wochen alt sind.
Diesen Gedanken blendete Shelley aus. Kein Schrei der Welt war laut genug, um hier Trost zu schaffen, weshalb sie versuchte ihre Kräfte zu sammeln, um sich gegen das, was auf sie einstürzen würde, zu wappnen.
Wie lange würde es noch dauern, bis die Polizei vor ihrer Tür stand, bis die Lehrer, die Nachbarn und alle anderen, die mit drinsteckten, davon erfuhren? Dann würden sie ihr ihren Jungen wegnehmen und ihn der Allgemeinheit zum Fraß vorwerfen, diesem Hass, den die Gesellschaft normalerweise für Pädophile und Vergewaltiger aufsparte? Der Film war grobkörnig, nur schemenhaft waren Personen zu sehen. Shelley hatte Joey an seinem Gang erkannt. Die Tat selbst hatten sie nicht auf Band, der Bürgersteig außerhalb von Clinton Cards wurde nicht von Kameras überwacht. Nein, es gab nur Bilder von der Bande von der Zeit vor und nach der Brandstiftung.
Shelley stand auf, ging durchs Zimmer und schob den Vorhang beiseite. Draußen war es dunkel. Niemand zu sehen. Noch nicht.
Aber das Baby. Das Baby ist tot. Das Baby starb an einem Schock.
Als Kind rief man ihr Schimpfworte hinterher, weil sie eine Schielbrille tragen musste. Ihre Kindheit war wegen dieser ständigen Spötteleien die reinste Hölle gewesen. »Brillenschlange. Brillenschlange.« Jetzt kreisten Shelleys Gedanken um den mordlüsternen Mob, sich durch Gedränge schiebende Polizeiwagen und sensationshungrige Reporter. Die Gemeinheiten, die sie in ihrer Kindheit hatte über sich ergehen lassen müssen, waren ein Sonntagsspaziergang verglichen damit, wozu eine aufgebrachte Öffentlichkeit bei einem Babymord in der Lage war.
Frauen mit Kinderwagen.
Schlägertypen mit Knüppeln.
Einsame Omas mit Zungen so spitz wie Stricknadeln.
Sie hatte nicht vor, ihr ältestes Kind der wütenden Menge auszuliefern. Wenn Joey log, würde sie ihm den Rücken stärken, mit der ganzen Kraft, die in ihrem zähen Körper steckte. Aber in ihrem tiefsten Inneren war ihr klar, Kinder in diesem Alter können ihre Klappe nicht lange halten. Es hieß, sie wären zu fünft gewesen. Fünf… sie mussten alle unter zwölf sein. Einer der Kerle würde irgendwann anfangen zu singen, und dann kämen die Geständnisse der anderen so schnell wie die Windpocken. Es würde nicht lange dauern, und die Presse wüsste Bescheid. Angriff im Morgengrauen. Kameras und Mob. Lieber Gott, bitte mach, dass ich das nur träume. Mach, dass ich aufwache, nach oben gehe und nach den Kindern sehe. Dass Joey träumend in seinem Bett liegt. Dass ich wieder runtergehe und mir eine Tasse Kaffee aufbrühe, mich vor den Kasten hocke und morgen früh jemandem von diesem Albtraum erzähle.
Bei aller Liebe, wie könnte ihr Joey, ihr elfjähriger Sohn, nach Hause kommen, seine Pizza essen, sich mit den anderen Questions of Sport ansehen und anschließend ins Bett gehen und schlafen? Wie zum Teufel könnte Joey das tun mit dem Wissen, was er getan hatte? Hatten sie mit der Meldung die Sechsuhrnachrichten eröffnet, während Joey draußen einen Ball herumkickte, vielleicht sogar mit seinen mitschuldigen Kumpeln, während sie selbst hier in der Küche Jason einen Klaps gab, weil er irgendeinen Blödsinn angestellt hatte?
Es hieß, es wäre an diesem Nachmittag passiert. Shelley zermarterte sich das Hirn, was genau vorgefallen sein konnte. Sie konnte sich keinen Fehler erlauben, wegen der Bullen. Das hieß, sie musste alles genau mit Joey absprechen. Wahrscheinlich hatte er wieder einmal mit diesen Typen, mit Marcus und Shane Lessings und ihrer Bande, die Schule geschwänzt. Er hatte zwei Pfund haben wollen, um sich in der Schule was zu essen kaufen zu können, und Shelley hatte auf ihn eingeredet, das auch wirklich zu tun, sie werde ihn kontrollieren. Aber er wusste genau, wie ernst er ihre Worte zu nehmen hatte. Erst vor kurzem hatte Shelley angefangen, die Kinder die Straße hinunter zu dem neuen Familienzentrum zu bringen, wo es zumindest Kaffee und Tee und ein paar Frauen gab, mit denen man quatschen konnte. Ihre drei Jüngsten, die noch nicht schulpflichtig waren, konnten vormittags mit den neuen Spielsachen spielen, was es für Shelley einfacher machte. Sie hatte dann nur noch das Baby, um das sie sich kümmern musste. Joey war in der letzten Klasse der Grundschule. Kez, er war sechs, war der Nächste. Dann kamen die Kleinen, Saul, Jason sowie Casey und Julie. Sechs Kinder. Kein Mann. Kein nennenswertes Einkommen und noch keine dreißig Jahre alt.
So hatte sich Shelley ihr Leben bestimmt nicht vorgestellt.
Obwohl ihre Mutter sie immer gewarnt hatte.
Mannstoll hatte Mum sie immer genannt. Du wirst es schon noch lernen. Hatte sie aber nicht. Sie war zu naiv, das war ihr Problem. Und sie war süchtig nach Anerkennung. »Brillenschlange. Brillenschlange.« Mit zwölf wurde sie ihre Brille los, und dann hörten diese Hänseleien auf. Mit einem Schlag war sie hübsch, Shelley Tremayne war endlich ein ganz normaler Teenager.
Mum stammte aus Cornwall, war dort geboren worden und aufgewachsen. Dad allerdings war Chinese. Er arbeitete als Steward auf einer Fähre. Er sagte, er sei Seemann, doch seine Uniform war enttäuschend – in dieser weinroten Hose und der dazu passenden Weste sah er eher wie ein Billardspieler aus. Er machte sich aus dem Staub, als Shelley sechs war. Und er kam nie mehr aus Santander zurück. Ab diesem Tag brach Iris jeden Kontakt zu seiner Familie ab. Sie heiratete nie wieder.
Und jetzt war auch Shelley wieder ohne Mann. Die Katastrophe war über sie hereingebrochen, und Shelley hatte niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. Doch wie nahe musste man jemandem stehen, um mit ihm über etwas derart Entsetzliches sprechen zu können? War es nicht eher so, dass man nebeneinander saß und jeder für sich seinen Gedanken nachhing, darauf bedacht, seine schlimmsten Befürchtungen vor dem anderen geheim zu halten? Denn was würde passieren, wenn der Partner anderer Meinung wäre? Wenn er davon überzeugt wäre, es sei am besten, sich nicht dem gnadenlosen Räderwerk des Gesetzes zu entziehen? Shelley glaubte nicht daran, jemals einen Menschen an ihrer Seite zu haben, von dem sie sicher sein konnte, er halte absolut zu ihr. Auf alle Fälle liebte niemand auf der Welt ihre Kinder so sehr wie sie.
Sie gäbe ihr Leben für jedes von ihnen.
Gott, könnte sie doch nur mit jemandem darüber reden.
Als Erstes hieße es: »Was für eine Mutter muss das sein, die einen solchen Teufelsbraten heranzieht?«
Diese Frage hatte sie sich selbst schon gestellt, früher, als ihr Leben noch normal war.
Shelley starrte das Telefon an wie ein Ertrinkender ein Floß, das weit draußen am flirrenden Horizont treibt. Die Telefonseelsorge? Schwachsinn. Als Erstes würde die Polizei herauszufinden versuchen, wer dort angerufen hatte. Und warum sollte sie in dieser Situation bei der Telefonseelsorge anrufen? Schließlich hatte sie das bisher doch noch nie getan. Nein, sie musste sich so unauffällig wie möglich verhalten. Es konnte ja sein, dass man bereits das Haus beobachtete. Sie musste zur selben Zeit wie immer ins Bett gehen, das Licht ausschalten, die Milchflasche hinausstellen. Plötzlich merkte sie, wie sehr sie zitterte. Ihre Lippe blutete, weil sie, ohne es zu merken, ständig daran herumzupfte.
»Mum«, jammerte er verschlafen. »Julie heult.«
Da...