E-Book, Deutsch, 428 Seiten
White Ein tödlicher Verdacht
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-98690-837-9
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Thriller
E-Book, Deutsch, 428 Seiten
ISBN: 978-3-98690-837-9
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Neil White wuchs in Yorkshire auf. Seit seiner Kindheit begeistert ihn nichts so sehr wie die Musik von Johnny Cash und Bücher, vorzugsweise Science Fiction und Kriminalromane. Während seines Jura-Studiums packte ihn die Lust, selbst zu schreiben. Heute ist Neil White der erfolgreiche Autor zahlreicher Spannungsromane. Die Website des Autors: neilwhite.net/ Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine Thriller-Serie »Lancashire Killings« mit den Einzelbänden: »Wer in den Schatten lebt« »Wo die Angst regiert« »Wenn der Hass entbrennt« »Wen die Rache treibt« Außerdem erschienen bei dotbooks seine Thriller »Die Stimme des Verrats« und »Ein tödlicher Verdacht«.
Weitere Infos & Material
Kapitel 1
Durch die Windschutzscheibe seines Wagens sah Sheldon Brown das flackernde Blaulicht der Polizeiautos. Der Anruf war vor einer halben Stunde gekommen, und er hatte sich aus dem Bett gequält. Die Müdigkeit war durch den Adrenalinschub vertrieben worden, doch der war mittlerweile abgeebbt. Jetzt spürte er das schnelle und unregelmäßige Schlagen seines Herzens.
Er zog ein Fläschchen mit Diazepam-Tabletten aus der Hosentasche und spülte zwei der kleinen blauen Wunderpillen mit Mineralwasser hinunter. Ihm war klar, dass die Wirkung nicht sofort einsetzen würde, doch nur dadurch, dass er die Tabletten nahm, zitterten seine Finger schon weniger stark. Er blickte in den Rückspiegel, um zu überprüfen, ob seine Krawatte richtig saß und ob das Hemd nicht zu zerknittert war. So schlecht sah er gar nicht aus. Es war mitten in der Nacht, da musste man diese Dinge nicht zu genau nehmen.
Er stieg aus dem Auto und zupfte an den Manschetten seines Hemdes. Kalte Luft schlug ihm ins Gesicht. Es war Sommer, doch in Oulton hielt sich die Wärme nachts nie. Die in Lancashire gelegene Stadt war der Dreh- und Angelpunkt seiner beruflichen Laufbahn. Begonnen hatte er hier als Polizeischüler und junger Streifenpolizist. Ein paar Jahre lang schlichtete er Streitigkeiten in Pubs, deren Inhaber die gesetzlichen Ausschankzeiten allenfalls als Richtlinie, nicht aber als Vorschrift sahen. Mit jeder Beförderung wurde er in größere Städte versetzt, doch schließlich war er zurückgekehrt.
Oulton war der letzte Ort vor den Mooren. Straßen schlängelten sich aus den Tälern in Richtung Yorkshire die Hügel hoch, auf denen hohe Gräser wuchsen und wo die wenigen Bäume das Heulen des Windes nicht dämpfen konnten. Die Stadt hatte Touristen nicht viel zu bieten; allenfalls war sie ein Ausgangspunkt für Exkursionen in die Umgebung. Es gab ein paar Straßen mit Geschäften. In den Räumen ehemaliger Familienbetriebe residierten jetzt Secondhandshops von wohltätigen Organisationen und Nagelstudios. Die Fenster der meisten Pubs aber waren mit Brettern zugenagelt; der billige Schnaps aus dem Supermarkt und das Rauchverbot hatten ihnen den Todesstoß versetzt. Windige, von Reihenhäusern gesäumte Straßen führten die Hügel hinauf. Wo einst Fabriken gestanden hatten, waren jetzt Brachflächen. Einige Hausfassaden waren in Pastelltönen gestrichen, durch Abgase und die harten Winter aber schon wieder schäbig geworden.
Trotzdem gab es ein paar elegante Villen, in denen einst die Fabrikbesitzer gewohnt hatten, pompöse Anwesen auf großen Grundstücken mit Kiesauffahrten, ausgedehnten Rasenflächen und von Statuen gesäumten künstlichen Teichen. Da es die Fabriken nicht mehr gab, befanden sich in den Villen nun große Landhotels, wo Hochzeiten gefeiert wurden und jene Urlauber wohnten, die sich den Aufstieg sparen und ihre Wanderungen gleich auf den Hügeln beginnen wollten.
Vor einem dieser Hotels stand jetzt Sheldon. Die Auffahrt war von Polizeiwagen gesäumt, und im Licht ihrer Scheinwerfer sah er eine Gruppe uniformierter Polizisten. Die dunkelgraue Hauswand mit den Sprossenfenstern war von Efeu überwuchert, auf beiden Seiten des Gebäudes gab es einen verglasten Wintergarten. Er nahm seine Anzugjacke von dem Haken über der Rückbank, zog sie an, atmete tief durch und setzte sich in Bewegung. Übernimm einfach das Kommando, sagte er sich, als er sich den Polizisten näherte.
Wieder zupfte er an seinen Manschetten. Unter seinen Schuhsohlen knirschte in der nächtlichen Stille der Kies. Hinter den Scheiben mehrerer Hotelzimmer sah er Gesichter. Neugier war stärker als Müdigkeit.
Ein uniformierter Polizist kam auf ihn zu. Seine reflektierende Jacke glänzte hellgrün im Licht der imitierten viktorianischen Laternen, welche die Auffahrt säumten. Er hatte die Arme ausgestreckt und schien ihn wegschicken zu wollen. Sheldon zog seinen Dienstausweis aus der Tasche. »Wann kam der Anruf?«, fragte er.
Der Constable hob entschuldigend eine Hand. »Pardon. Um kurz nach eins, Sir.«
»Wer schaut am Tatort nach dem Rechten?«
»Sergeant Peters.«
Sheldon kannte sie. Tracey Peters, intelligent und ehrgeizig, arbeitete normalerweise im Einbruchsdezernat.
»Sie sind der erste Inspector, der sich blicken lässt, Sir.«
Sheldon nickte. In ihm stieg etwas wie Panik auf. Dies konnte sein Fall werden, doch er musste die Lage unter Kontrolle behalten.
»Was haben Sie bis jetzt gehört?«, fragte er.
»Es wird Ihnen nicht gefallen, Sir.«
»Ich rechne nicht damit, dass es mir gefallen könnte«, antwortete Sheldon. »Ich habe gefragt, was Sie wissen.«
Der Constable errötete. »Ein ermordeter Mann, Sir. Da drin.« Er zeigte auf das Hotel. »Es gab eine Beschwerde wegen Ruhestörung. Als der Hotelmanager zu dem Zimmer ging, fand er eine Leiche.«
»Wissen wir, wie der Mann heißt?«
»Das Zimmer hat er unter dem Namen John Bull gemietet, aber für mich klingt das wie ...«
»Ein schlechter Scherz?«
»Genau.«
Sheldon ging zum Hoteleingang, wo ein Kunststoffkorb mit verpackten Schutzanzügen lag. Er riss eine Plastikfolie auf, zog den Schutzanzug an und setzte die Gesichtsmaske auf. Dann trat er zu der Gruppe von Polizisten, die vor dem Hotel standen und ebenfalls alle Schutzanzüge trugen.
Sie drehten sich zu ihm um, und als sie sahen, wer da kam, tauschten sie Blicke aus. Sheldon bemerkte hochgezogene Augenbrauen.
»Wie schlimm ist es?«, fragte er.
»Schlimmer als alles, was ich bisher gesehen habe«, sagte jemand. Er erkannte die Stimme und die langen dunklen Wimpern über der Gesichtsmaske. Tracey Peters.
Sheldon nickte und versuchte zu lächeln. »Mal was anderes als umgeworfene Möbel«, sagte er. Dann: »Hat jemand am Tatort etwas durcheinandergebracht?«
»Niemand war lange genug da, um sich der Leiche zu nähern. Sobald sie einen Blick in das Zimmer geworfen hatten, haben sie schreiend den Rückzug angetreten.«
Sheldon blickte zu dem Hotel hinüber, sagte aber eine Weile nichts. In einem der Zimmer fotografierte jemand mit der Kamera seines Mobiltelefons. Eine Story für die Dinnerparty.
»Okay, sehen wir es uns an«, sagte er und ging los. Hinter sich hörte er die Schritte von Tracey Peters.
Er ging schnell die Treppe vor dem Eingang hoch und trat durch die Drehtür ein. Das Geräusch seiner Schritte hallte von den Marmorwänden der Hotelhalle wider. Die Rezeption. Ein Tisch aus Walnussholz, darauf ein Messingschild mit dem Namen des Hotels. Dahinter Treppen mit dickem dunkelrotem Teppichboden.
Tracey ging vor. »Das Zimmer ist hinten.« Sie verließen die Halle und durchquerten einen langen Saal mit Stühlen mit hohen Rückenlehnen und einem großen Kamin.
Dann bogen sie in einen langen, von Türen gesäumten Korridor. Vor einigen standen Wagen mit Tellern, die der Zimmerservice nach draußen geschoben hatte. Beide schwiegen. Er hörte nur das Rascheln ihrer Schutzanzüge. Seine Augen suchten die Wände nach Blutflecken ab, die den anderen vielleicht entgangen waren, aber er bemerkte nichts. Am Ende des Flurs sah er in der Nähe einer offenen Feuerschutztür den grellen Schein von Lichtbogenlampen, der aus einem der Zimmer in den Flur fiel.
Weitere weiße Schutzanzüge. Zwei Männer von der Spurensicherung traten zur Seite, als er sich näherte. Sie untersuchten die gläserne Feuerschutztür in der Hoffnung auf Fingerabdrücke und DNA-Spuren. Vielleicht hatte jemand nach dem Verlassen des Zimmers die Tür angefasst.
»Haben wir schon etwas?«, fragte Sheldon.
Einer der beiden, ein Mann in mittleren Jahren, hörte für einen Augenblick auf, die Tür einzustäuben, und richtete seine müden Augen auf Sheldon. »Nicht viel, Sir. Das Blut ist nur auf dem Bett. Keine Fußabdrücke im Zimmer. Fingerabdrücke haben wir, aber sie sind verschmiert und kaum zu gebrauchen.«
»Ich muss mit allen Gästen aus den anderen Zimmern auf diesem Flur reden«, sagte Sheldon. »Und mit dem Hotelmanager von der Nachtschicht.«
»Der macht uns das Leben schwer, seit wir hier sind«, warf Tracey ein. »Er sorgt sich ums Geschäft.«
»Da wird er sich wohl noch weiter Sorgen machen müssen.« Sheldon betrat das Zimmer. Er beschirmte seine Augen, bis sie sich an das grelle Licht gewöhnt hatten. Als es so weit war, brach ihm der Schweiß aus, und er hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund. Für einen Moment wandte er den Blick ab, dann atmete er tief durch. Als er wusste, dass er hinsehen konnte, hob er langsam den Kopf.
Vor ihm lag ein Mann, dessen Arme und Beine an die Bettpfosten gefesselt waren.
»Irgendein extremes Sexspiel«, bemerkte Tracey. Sie zeigte auf einen in der Ecke liegenden Lederriemen mit einem Kunststoffball in der Mitte, offenbar ein Knebel. Sheldon glaubte Bissspuren darauf zu erkennen.
Er seufzte tief. »Ich glaube nicht, dass er es genossen hat.« Er trat einen Schritt näher.
Der Mann war nackt. Alt schien er nicht zu sein, worauf die Maori-Tätowierungen auf seinen Oberarmen hindeuteten. Doch was er über der Schulter sah, ließ Sheldon daran zweifeln, dass er in dieser Nacht noch ein Auge zutun würde.
Ein blutverschmierter schwarzer Haarschopf auf dem Kissen. Ein fehlendes Gesicht. Nur das helle Weiß von Wangen- und Kieferknochen, ebenfalls blutverschmiert. Kaum Fetzen von Fleisch und Muskeln. Die Augäpfel waren noch in den Höhlen, die Zähne schienen eine letzte Grimasse zu ziehen. Dem Mann war das Gesicht genommen worden. Präzise Arbeit, als hätte der Mörder eine Schablone benutzt.
»Warum sollte jemand so etwas tun?«, fragte Tracey.
»Dadurch wird es schwieriger, das Opfer zu identifizieren, doch das kann nicht der wahre Grund sein«, sagte Sheldon mit gesenkter...




