Wiater | Warum nicht gleich?! | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Wiater Warum nicht gleich?!

Aufschieberitis ade
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-95803-434-1
Verlag: Scorpio Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Aufschieberitis ade

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-95803-434-1
Verlag: Scorpio Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Jeder kennt in seinem Umfeld jemanden, der regelmäßig zu spät kommt, Dinge nicht rechtzeitig erledigt oder das Schlafengehen aufschiebt, obwohl er/sie müde ist. Das kann einerseits zu Spannungen mit Familie, Freunden und Kollegen führen, im letzteren Fall aber auch die Gesundheit beeinträchtigen. Solange man sich nur hin und wieder im Alltag nicht aufraffen kann, eine ungeliebte Tätigkeit in Angriff zu nehmen und stattdessen erst mal die Blumen gießt, das E-Mail-Postfach checkt oder sich einen Kaffee macht, ist das völlig normal. Doch bei etwa einem Viertel der Menschen wächst sich das Prokrastinieren zu einem echten Problem, schlimmstenfalls sogar zu einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung aus. Dann sind die Betroffen nicht mehr imstande, ihr Leben überhaupt noch in den Griff zu bekommen.

Alfred Wiater zeigt auf leichte und unterhaltsame Weise, wie wir mit der Neigung zur Prokrastination bei uns selbst und anderen umgehen können – denn auch im Erwachsenenalter ist es möglich, seine Fähigkeit zur Selbstregulation zu verbessern. Nicht zuletzt erfährt der Leser, was junge Eltern tun können, damit ihre Kinder später keine "Aufschieber" werden.

Wiater Warum nicht gleich?! jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Rationale Einflussfaktoren
Doch auch heute schon gibt es wissenschaftliche Ansätze, die uns der Beantwortung der Frage zumindest etwas näherbringen. Dafür schauen wir nach China zu den Wissenschaftlern Wang, Zhang und Feng von der Fakultät für Psychologie der Südwest Universität Chongqing3. Sie haben herausgefunden, dass Strukturveränderungen im Frontalhirn, also dem vorderen Hirnbereich, der den vorläufigen Endpunkt unserer Hirnentwicklung darstellt, im Zusammenhang mit prokrastinierendem Verhalten stehen können. Ausgangspunkt der Thematik ist, dass Menschen solche Aufgaben aufschieben, die bei ihnen mit negativen Emotionen verbunden sind, also Aufgaben, denen gegenüber sie aversiv, also abgeneigt, sind. Sie sind ihnen lästig oder unangenehm, sie haben keine Lust oder auch keine Zeit dazu oder sie fühlen sich überfordert damit. In dieser Situation gibt es zwei Möglichkeiten zu reagieren. Entweder man unterdrückt seine negativen Emotionen und stellt sich den Anforderungen oder man lenkt sich mit etwas anderem ab, das man als positiv erlebt, und prokrastiniert. So verschafft man sich vorübergehend Erleichterung und verhält sich genauso beim nächsten, übernächsten und überübernächsten Mal. Und schon sind wir wieder bei Wang, Zhang und Feng. Die drei Wissenschaftler haben untersucht, was im Gehirn passiert, wenn man negative Emotionen unterdrückt, um Aufgaben zu erledigen, die man am liebsten aufschieben würde. Damit sind wir beim präfrontalen Cortex, dem vordersten Teil des Frontalhirns, der es uns ermöglichen kann, rationale Entscheidungen zu treffen. Dadurch unterscheiden wir uns als Menschen von anderen Primaten wie den Affen. Um herauszufinden, welcher Teil des Gehirns an der Emotionsunterdrückung im Zusammenhang mit prokrastinierendem Verhalten beteiligt ist, führten Wang, Zhang und Feng Fragebogenerhebungen und MRT-basierte, also kernspintomografische Experimente durch. Die Datenanalyse zeigte, dass Prokrastination mit schwach ausgeprägter Emotionsunterdrückung korrelierte. Im Gegensatz dazu war eine geringere Prokrastination mit größerer Emotionsunterdrückung verbunden. Tatsächlich war das Hirnvolumen im präfrontalen Cortex bei Menschen mit ausgeprägterer Emotionsunterdrückung und reduziertem Aufschiebeverhalten vergrößert im Vergleich zu dem von Menschen, die ausgeprägt prokrastinieren. So ist prokrastinierendes Verhalten auch als eine Folge eingeschränkter Emotionsregulation zu interpretieren. Negative Emotionen dominieren im Zusammenhang mit unliebsamen Aufgaben. Bei mangelnder Emotionsregulation führt das dazu, dass die Betroffenen, statt ihre negativen Emotionen zu regulieren, sich lieber mit der Erledigung angenehmerer Aufgaben oder Ablenkungsstrategien belohnen, um kurzfristig positiv gestimmt zu sein. Dabei verlieren sie die Langzeitauswirkungen ihres Verhaltens aus dem Blick. Diese Ergebnisse legen nahe, dass der präfrontale Cortex eine entscheidende Rolle bei der emotionalen Kontrolle spielt, die einen wesentlichen Einflussfaktor auf prokrastinierendes Verhalten darstellt. Nun haben wir zwei Hirnregionen kennengelernt, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Aufschiebeverhalten stehen: das limbische System, das man verallgemeinernd als unser emotionales Zentrum, und den präfrontalen Cortex, den man verallgemeinernd als unser rationales Zentrum bezeichnen kann. Es liegt nahe, dass auch unsere Emotionsregulation einer frühkindlichen Prägung unterliegt. So kommt den Eltern die Aufgabe zu, auch in diesem Bereich die Selbstregulation ihrer Kinder zu fördern. Durch einfühlsames Verhalten, gerade in psychischen Belastungssituationen, können Eltern ihre Kinder stabilisieren und ihnen Hilfestellung bieten, um ihre emotionalen Verarbeitungskompetenzen zu fördern. Im Zusammenspiel zwischen dem limbischen System und dem präfrontalen Cortex ist eine Entwicklungsphase besonders kritisch: die Pubertät. Das Problem ist, dass sich das limbische System bei Jugendlichen schneller entwickelt als der präfrontale Cortex. Das erklärt das häufig emotional überbordende Verhalten während der Pubertät, bei dem die Emotionsregulation ganz in den Hintergrund tritt. Vielleicht ist diese Entwicklungsdysharmonie zwischen limbischem System und präfrontalem Cortex während der Pubertät auch ein Grund für das häufigere Prokrastinationsverhalten bei Jugendlichen. Kehren wir zurück zur Studie aus China. Es ging um das Thema der Emotionsunterdrückung. Da fragt man sich doch zwangsläufig, ob es für unsere psychische Gesundheit wirklich förderlich ist, wenn wir unsere Emotionen unterdrücken. Insofern wird auch in der Psychologie die Thematik äußerst kontrovers diskutiert. Natürlich macht es Sinn, Emotionen zu unterdrücken. So können wir negative Emotionen bewältigen, um unangenehme Aufgaben zu erledigen, anstatt die einfachere, aber letztendlich problematische Strategie des Aufschiebens dieser Aufgaben anzuwenden. Was China betrifft, wundert es nicht, dass die emotionale Unterdrückung eine herausgehobene Bedeutung hat. Man hat den Eindruck, dass die Emotionsunterdrückung in Staaten mit autoritären und totalitären Systemen eine Art Königsdisziplin darstellt. Oder haben Sie Xi Jinping, Putin oder Kim Jong-un schon mal herzhaft lachen sehen? Hat man doch den Eindruck, diese Menschen haben Angst vor den eigenen Emotionen und davor, dass andere sie nicht ernst nehmen könnten. Sie können es nicht ertragen, im Sinne von Till Eulenspiegel einen Spiegel und Fehler und Schwächen vorgehalten zu bekommen. Was für humorlose Kreaturen, weit weg von jeglicher Selbstkritik! In Nordkorea gibt es tatsächlich Zeiten, in denen Lachen verboten ist. Emotionsunterdrückung in Perfektion! Langfristig besteht dabei aber die Gefahr, sich anderen gegenüber nicht mehr öffnen und Emotionen mit anderen nicht mehr teilen zu können. Das Erleben positiver Gegenseitigkeit wird praktisch unmöglich gemacht. Das hat allerdings gravierende Auswirkungen, auch in der Eltern-Kind-Beziehung. Die emotionale Vertiefung von Beziehungen bleibt auf der Strecke, psychosoziale Kontakte sowie das eigene Wohlbefinden verkümmern. Das bedeutet nicht, die emotionale Unterdrückung nicht gezielt und reflektiert einsetzen zu sollen. Es stellt sich aber die Frage nach Alternativen, um der Neigung zum Aufschieben entgegenzuwirken. Letztlich brauchen wir situationsangepasste Strategien der Emotionsregulation, die es uns ermöglichen, dass unsere Emotionen mit unseren Anforderungen im Einklang sind. Dann können wir Synergien nutzen zwischen rationalem Verhalten und emotionalem Erleben. Und wir fühlen uns wohl bei den Aufgaben, deren Erledigung ansteht. Im Gegensatz zur Emotionsunterdrückung, die mit negativen langfristigen Folgen verbunden sein kann, bietet die gedankliche, korrekt ausgedrückt, kognitive Umbewertung die bessere Alternative. Grundlage dessen ist die bewusste Neubewertung einer Situation, zum Beispiel bezüglich der Bewältigung einer unliebsamen Aufgabe. Dabei wird zwischen kurzfristigen und langfristigen Handlungszielen unterschieden. Wenn ich mir klarmache, dass die Erledigung einer Aufgabe zwar kurzfristig mit negativen Emotionen verbunden ist, mich langfristig jedoch positiv stimmt, werde ich die Aufgabe eher bewältigen als ohne die Perspektive auf ein emotional befriedigendes Ergebnis. Dann bin ich bereit, auf eine kurzfristige Belohnung durch Ablenkung und Aufschieben einer Tätigkeit zu verzichten, weil ich emotional weitaus mehr davon profitiere, wenn ich eine Arbeit erfolgreich abgeschlossen habe. So wird die kognitive Neubewertung zu einem entscheidenden Faktor der Emotionsregulation. Letztlich geht es um die Nutzung der Möglichkeit, einen Belohnungsaufschub zu verinnerlichen. Und auch das gelingt wiederum durch die Nutzung unserer neuronalen Netzwerke im präfrontalen Cortex im Zusammenwirken mit unserem Belohnungssystem, das im limbischen System lokalisiert ist. Der präfrontale Cortex hemmt die Aktivitäten des limbischen Systems, in dem unsere Emotionen entstehen. Damit wird die Bedeutung emotionaler Erlebnisse relativiert durch die kognitive Neubewertung über den präfrontalen Cortex. Um einen Belohnungsaufschub umsetzen zu können, muss der präfrontale Cortex allerdings voll funktionsfähig sein. Und damit kehren wir zurück zur weiter oben gestellten Frage der rationalen Kontrolle emotionalen Verhaltens. Sie wird nicht funktionieren, wenn die somatischen, also die strukturellen und funktionellen Voraussetzungen im präfrontalen Cortex nicht gegeben sind. Ein Beispiel ist das Kindes- und Jugendalter, in dem das Frontalhirn noch nicht voll funktionsfähig ist. Deshalb sind Kinder und Jugendliche nur schwer imstande, auf eine unmittelbare Belohnung zu verzichten zugunsten einer weit größeren Belohnung, die sie aber erst später bekommen würden. Ist es nicht paradox, liebe Leserinnen und Leser, dass ausgerechnet der Belohnungsaufschub sich als ein Mittel herausstellt, um prokrastinierendes Verhalten zu regulieren? Also, prokrastinierendes Verhalten in Bezug auf unser Belohnungssystem hilft uns dabei, die Erledigung von Aufgaben nicht aufzuschieben. Prokrastination als Mittel gegen die Prokrastination. Wahrscheinlich der spannendste Aspekt der...


Dr. med. Alfred Wiater ist Schlafmediziner und Schlafforscher, war viele Jahre Klinikchef und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin. Er lebt in Köln und ist wissenschaftlich tätig sowie als schlafmedizinischer Berater, Dozent und Buchautor.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.