E-Book, Deutsch, 420 Seiten
Wienand Projektive Diagnostik bei Kindern, Jugendlichen und Familien
erweiterte und aktualisierte Auflage
ISBN: 978-3-17-044068-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Grundlagen und Praxis - ein Handbuch
E-Book, Deutsch, 420 Seiten
ISBN: 978-3-17-044068-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Projektive Verfahren verwenden Spiel, Zeichnungen, Geschichten und Assoziationen als Medium, durch das ein junger Mensch seine zumeist unbewussten Motive, Konflikte und Ängste symbolisch ausdrücken und mitteilen kann. Sie ermöglichen es, Kinder, Jugendliche und Familien in ihrer Subjektivität, Individualität und Psychodynamik zu verstehen. Damit bilden sie eine praktisch wichtige Ergänzung zu den psychometrischen diagnostischen Methoden.
In diesem Werk werden neben Zeichen-, Spiel-, verbalthematischen und imaginativen Methoden auch Verfahren der Bindungs- und Familiendiagnostik sowie projektive Tests in der Begutachtung vorgestellt. Jedes Verfahren wird dabei in Bezug auf seine theoretischen Grundlagen, die Durchführung, Auswertung, Interpretation und die Gütekriterien ausführlich beschrieben. Die 3. Auflage bietet eine um Neuerscheinungen aktualisierte vollständige Übersicht zur Theorie und Praxis der projektiven Testverfahren.
Im Kaufpreis dieses Buches ist eine Spende für die Stiftung "Achtung! Kinderseele" enthalten.
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I Einleitung
Kinder und Jugendliche wachsen hierzulande in Frieden und Wohlstand auf, werden von ihren Eltern und Familien geliebt und behütet, gesundheitlich gut versorgt, sie haben gute Bildungschancen und ein reiches kulturelles Umfeld, das ihnen viele Möglichkeiten zur Betätigung und Entfaltung bietet. Sie werden nicht wie vielleicht noch ihre Großeltern autoritär unterdrückt oder körperlich gezüchtigt, sondern freier erzogen und sind daher offener, selbstbewusster und autonomer. Umfragen unter jungen Menschen in Deutschland weisen regelmäßig darauf hin, dass die ganz überwiegende Mehrzahl mit sich, ihren Familien und der Schule zufrieden und glücklich ist. Und die allermeisten entwickeln keine psychischen Auffälligkeiten oder Störungen und werden uns nie vorgestellt. So gaben 80 % der knapp 11 000 zu ihrer Lebensqualität befragten Kinder zwischen 9 und 14 Jahren an, sich wohlzufühlen, nur 7 % beschrieben sich als unglücklich (LBS-Kinderbarometer 2014). In Beratungsstellen und Praxen kommen nur die jungen Menschen, die Verhaltensauffälligkeiten, Anpassungsprobleme, Ängste, Depressionen oder andere Störungen aufweisen. Daher ist unsere Sicht auf Kindheit und Jugend verzerrt, aber auch geschärft wie bei einem Blick durch das Mikroskop. Wir registrieren besorgt das atemberaubende Tempo, in dem sich die Welt verändert, in der wir und vor allem unsere Kinder leben. Diese Veränderungen nehmen dabei so gut wie keine Rücksicht auf die Bedürfnisse junger Menschen. Wir sehen die Auswirkungen von Familienzerrüttung, Berufsstress bei überlasteten Eltern, überforderte alleinerziehende Mütter, Kleinkinder in Ganztagsbetreuung, Schulstress und Leistungsdruck, zunehmenden Medienkonsum und die Folgen von Passivität, Fehlernährung und Bewegungsmangel. In jüngster Zeit wird unser Sicherheitsgefühl und damit auch das unserer Kinder von näher rückenden Kriegen und anderen Katastrophen untergraben. Kinder und Jugendliche passen sich diesen säkularen Veränderungen anscheinend erstaunlich gut an, zumindest nach außen hin. Die Erwachsenen sind vielleicht auch gar nicht so sehr daran interessiert, genau zu wissen, welche Belastungen vielen Kindern heute zugemutet (und welche entwicklungsnotwendigen Anforderungen ihnen vorenthalten) werden. Nach internationalen Studien zur Prävalenz psychischer Störungen zeigen etwa 15–20 % aller Kinder und Jugendlichen psychische Auffälligkeiten, bei 6 % besteht dringender Behandlungsbedarf. Zwischen 10 und 15 % der Kinder, die mit acht Jahren als psychisch auffällig diagnostiziert wurden, leiden mit 25 Jahren immer noch an psychischen Störungen, vor allem diejenigen mit hyperkinetischen Störungen und Sozialstörungen (Blanz et al. 2006, 528). Die häufigsten Störungsbilder sind dabei mit ca. 10 % Angststörungen, zu 7,5 % aggressive und dissoziale Störungen, mit über 4 % emotionale Störungen und über 4 % hyperkinetische Störungen (Fuchs et al. 2013, 205). Weniger als die Hälfte der jungen Menschen mit psychischen Störungen sind in Behandlung (Fuchs et al. 2013, 210). Die wichtigsten Risikofaktoren für Kinder finden sich in ihrer unmittelbaren familiären und sozialen Umgebung: körperliche Misshandlung und sexueller Missbrauch, Ablehnung und Abwertung durch die Eltern, chronischer Streit in der Familie, abwesende, kranke oder kriminelle Elternteile und Broken-home-Verhältnisse (Ramoutar & Farrington 2006). Ob und inwieweit sich der Anteil psychischer Störungen im Laufe der Jahre verändert hat, lässt sich aufgrund fehlender Voruntersuchungen nicht genau einschätzen. Eine aktuelle Übersicht (Fuchs et al. 2013) erwähnt lediglich eine Zunahme bei Essstörungen und Adipositas. Nach Beobachtungen von Fachleuten ist in den letzten 20 Jahren aber auch die Häufigkeit von Störungen des Lern- und Leistungsverhaltens, selbstverletzendem Verhalten und exzessivem Medienkonsum sowie von sozialen Problemen wie Mobbing und Schulvermeidung deutlich angestiegen. Nachgewiesenermaßen zugenommen haben kindliche Entwicklungsstörungen. In einer Langzeituntersuchung mit standardisierter Methodik zur Häufigkeit von Teilleistungsstörungen an 11 000 Einschulungskindern in Bayern (Durchschnittsalter 5,97 Jahre, 90,6 % deutsche Kinder, ausgeglichenes Geschlechterverhältnis, schulärztlicher Dienst im Landkreis Dingolfing-Landau) fand Stich (2009) im 10-Jahresvergleich zwischen 1997 und 2007 eine Zunahme der Häufigkeit motorischer Störungen von 2–3 % auf über 10 % der Vorschulkinder. Im Bereich der Sprachentwicklung nahmen der Anteil von Artikulationsstörungen von 8,8 % auf 15,8 % und Dysgrammatismus von 1,4 % auf 6,7 % zu. Bei den kognitiven Fähigkeiten sank im gleichen Zeitraum die Häufigkeit von Störungen der Abstraktionsfähigkeit von 4,2 % auf 3,1 % etwas, während Störungen der Ausdauerfähigkeit von 4,2 % auf 8,2 % und Störungen der Merk- und Konzentrationsfähigkeit von 4,3 % auf 15,8 % stiegen. Auch der Anteil von Kindern mit psychosozialen Auffälligkeiten hat sich von anfangs 3,8 % auf 7,3 % am Ende des Untersuchungszeitraums nahezu verdoppelt. Diese erschreckende Steigerung kindlicher Entwicklungsprobleme ist zweifellos die Folge von stark veränderten und immer weniger kindgerechten Entwicklungsbedingungen in unserer Gesellschaft, deren Auswirkungen dem pädagogischen, medizinischen und psychotherapeutischen Versorgungssystem zur Reparatur zugewiesen werden. Symptome wie Zwänge, Ängste und depressive Verstimmungen erscheinen den Betroffenen und ihrem Umfeld, oft aber auch dem Untersucher zunächst rätselhaft und unerklärlich. Infrage kommen neben intrapsychischen auch entwicklungsbedingte, soziale und biologische Einflüsse sowie deren Wechselwirkungen. Zwangssymptome können beispielsweise Folge eines durchgemachten Streptokokkeninfekts sein; Ängste, Depressionen und Stimmungsschwankungen treten bei Infekten wie der Borreliose, aber auch bei Störungen des Hormonhaushalts auf. Anhaltende soziale oder kognitive Überforderung in der Schule kann sich als Demotivation und Schulversagen, aber auch als somatoforme Störung ohne erkennbaren Zusammenhang mit der auslösenden Ursache äußern. Nicht erkannte und/oder unbehandelte Entwicklungs- und Teilleistungsstörungen bringen für das betroffene Kind erhöhte Anforderungen bei der Bewältigung von Alltagsaufgaben mit sich und bedeuten chronischen Stress, der nicht selten durch Unverständnis und Ungeduld der Umgebung noch verstärkt wird. Daraus entwickeln sich häufig sekundäre psychische Störungen, die ohne Kenntnis und Therapie der Ursache nicht adäquat behandelt werden können. Aufgrund dieser Zusammenhänge können junge Menschen mit psychischen Störungen nur zusammen mit ihrem familiären, sozialen und pädagogischen Umfeld verstanden werden, ehe über die Frage einer Behandlung entschieden werden kann. Die Diagnostik darf sich nicht nur auf die Symptomatik und den Entwicklungsstand beschränken, sondern muss auch therapierelevante Parameter beim Kind und seinem Umfeld einbeziehen. Wie bindungsfähig, wie einsichtsfähig ist das Kind? Kann es mentalisieren? Hat es Phantasie? Liegen strukturelle Defizite vor? Profitiert es mehr von suggestiven, strukturierten Interventionen oder braucht es einen freien Raum für seine Entfaltung? Auf welchem Wege ist es am besten in der Lage, sich auszudrücken? Auf welche Weise kann ich es wirklich erreichen? Müssen Therapievoraussetzungen erst hergestellt werden, eventuell durch (sozial-)pädagogische Interventionen, möglicherweise durch eine Medikation oder auch durch die Reduktion von Medienkonsum? Wie ist die Einstellung der Angehörigen zur Psychotherapie? Wie ist ihre Veränderungsbereitschaft und wo liegen ihre Ressourcen? Welche Rolle spielt das soziale Umfeld wie Schule, Großeltern, Freunde? Welche sequentielle Strategie ist sinnvoll, etwa der Beginn mit einer Einzeltherapie mit Weiterbehandlung in einer Gruppe oder umgekehrt? Sind vorbereitende oder begleitende Interventionen wie eine Familientherapie, funktionelle Behandlungen (Physiotherapie, Ergotherapie, Sport, Ernährungsberatung etc.), Jugendhilfemaßnahmen oder eine teilstationäre bzw. stationäre Behandlung notwendig? Wie viel Zeit steht für die Therapie zur Verfügung und was bedeutet das für die Behandlung? Weitergehende Hinweise zur Psychodiagnostik liefern die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik im Kindes- und Jugendalter OPD-KJ (Bürgin et al. 2007), das Multiaxiale Klassifikationsschema MAS für psychische Störungen...